MELAS-Syndrom
Synonym: Mitochondriopathie mit Enzephalomyopathie, Laktatazidose und schlaganfallähnlichen Episoden
Englisch: mitochondrial encephalomyopathy with lactat acidosis and stroke-like episodes
Definition
Das MELAS-Syndrom ist eine progredient verlaufende, neurodegenerative Erkrankung mit akuten neurologischen Episoden, die durch eine Mitochondriopathie ausgelöst wird. Das Syndrom wurde erstmals 1984 von Pavlakis et al. beschrieben.[1]
Epidemiologie
Das MELAS-Syndrom ist eine seltene Erkrankung. Die Prävalenz liegt bei etwa 6 bis 160 Fällen auf 1.000.000 Einwohner. Der Altersgipfel der Erstmanifestation liegt bei ca. 8 Jahren, die allermeisten Fälle manifestieren sich vor Eintritt der Volljährigkeit.[2]
Genetik
Ursächlich für das MELAS-Syndrom sind meist maternal vererbbare Mutationen der mitochondrialen DNA, selten auch nukleäre Mutationen. Auslösend sind:
- Punktmutationen im Gen für die mitochondriale Leucin-Transfer-RNA (MT-TL1, 70-80 % der Fälle), zumeist Substitution von Adenin zu Guanin an Position 3243 (m.3243A>G)
- Punktmutationen anderer mitochondrialer Gene, insbesondere MT-ND5-Gen.
- selten nukleäre Mutationen von Genen, welche die mitochondriale Replikation beeinflussen, insbesondere des POLG-Gens, das für die DNA-Polymerase γ kodiert
Die Prävalenz auslösender Mutationen ist um ein Vielfaches höher ist als die des MELAS (über 16/100.000 für m.3243A>G). Da die Erkrankung ähnlich anderer Mitochondriopathien eine unvollständige Penetranz besitzt, sind viele Mutationsträger asymptomatisch oder entwickeln nicht das Vollbild der MELAS-Erkrankung.[3]
Klinik
Das MELAS-Syndrom besitzt eine variable Expressivität und Klinik. Leitsymptom sind die namensgebenden schlaganfallähnlichen Episoden. Diese gehen typischerweise einher mit:[2][4]
- epileptischen Anfällen (85 % der Fälle)
- Sehstörungen (62 %), insbesondere homonymer Hemianopsie
- Paresen (62 %), insbesondere Hemiparesen
- migränösem Kopfschmerz (62 %), Übelkeit, Erbrechen
- Hörverlust (26 %)
In der Regel schließt sich an die Episoden eine weitgehende Restitution an. Im Verlauf kommt es jedoch zur Akkumulation neurologischer Defizite und zur Demenz.
Oft ist die geistige Entwicklung vor den Episoden regelrecht, ein Teil der Kinder zeigt aber eine verzögerte Entwicklung und Lernschwierigkeiten.
Weitere Symptome sind:
- gemischt axonale/demyelinisierende Polyneuropathie, meist distal beginnend und sensomotorisch
- Myopathie mit Belastungsintoleranz
- Kardiomyopathie, meist hypertroph-nonobstruktiv, gelegentlich auch dilatativ
- vermehrtes Vorkommen des Wolff-Parkinson-White-Syndroms
- Diabetes mellitus, gelegentlich auch andere Hormonmangelsyndrome (Hypothyreose, Hypoparathyreoidismus, Hypogonadismus)
- Kleinwuchs (30-88 % der Fälle)
- Obstipation, Diarrhoe, Magenentleerungsstörungen, intestinale Pseudoobstruktion, Pankreatitis
- FSGS, chronische Niereninsuffizienz, selten De-Toni-Debré-Fanconi-Syndrom
- selten: Vitiligo, chronische Anämie, pulmonale Hypertonie
Es sind Overlap-Syndrome mit anderen Mitochondriopathien, insbesondere dem CPEOplus und dem MERRF-Syndrom, beschrieben.
Diagnostik
Anamnese
Bei der Familienanamnese und Stammbaumanalyse ist zu beachten, dass aufgrund der unvollständigen Penetranz innerhalb der maternalen Vererbungslinie oft nur Teilstörungen (insb. ein früh auftretender Diabetes mellitus oder eine Innenohrschwerhörigkeit) vorliegen.
Bildgebung
In den schlaganfallähnlichen Episoden wird meist eine cMRT durchgeführt. In dieser findet sich typischerweise eine Schwellung der Hirnrinde mit erhöhtem T2w- und FLAIR-Signal ("bright thickened cortical band"). Am häufigsten sind der parietale und okzipitale, seltener der Temporallappen betroffen. Die primäre Seh- und Hörrinde sowie das mittlere Drittel des somatosensorischen Kortex sind häufig erfasst. Auch das Kleinhirn kann beteiligt sein. Läsionen im Thalamus oder in der supratentoriellen Hirnrinde mit einer kontralateralen Läsion im Kleinhirn (gekreuzte zerebelläre Diaschisis) treten häufiger bei Patienten mit Status epilepticus auf.
In den diffusionsgewichteten Sequenzen liegt oft eine Mischung aus diffusionsgestörten Arealen und solchen mit T2-Shine-Through vor.[5] Das variable ADC-Signal spiegelt die unterschiedlich ausgeprägte Beeinträchtigung der mitochondrialen Atmungskette wider. Es liegt eher ein vasogenes und kein zytotoxisches Ödem vor. Durch Öffnung der Blut-Hirn-Schranke kann es weiterhin zu einer fleckigen oder linearen Kontrastmittelaufnahme am Läsionsrand kommen.
In der subakuten Phase findet man eine laminäre Nekrose mit T1w-hyperintensem und T2w/FLAIR-hypointensem Signal ("Black-Toenail-Sign"). Die gyriforme, intrakortikale T1w-Signalanhebung und T2w-Signalabsenkung entsteht durch das Einwandern von mit Fett beladenen Makrophagen. Später kann auch eine zystische Transformation mit Ausdünnung der Hirnrinde vorkommen. Im längeren Verlauf können weiterhin Verkalkungen auftreten, insbesondere im Bereich der Basalganglien.
In der MR-Spektroskopie führt der anaerobe Metabolismus zu einem Laktat-Peak, meist noch bevor im entsprechenden Hirnareal Diffusionsveränderungen erkennbar sind. Als Zeichen des reversiblen Neuronenschadens kommt es zu einem erniedrigten NAA-Peak.
In der MR-Perfusion zeigt sich im akuten Stadium der Schlaganfall-ähnlichen Episode eine Hyperperfusion aufgrund der Dilatation der Gefäße nach reversibler Vasokonstriktion. In der chronischen Phase findet sich hingegen eine Hypoperfusion.
Die MR-Angiographie zeigt reversible Gefäßstenosierungen mit anschließender Dilatation. In der DSA findet sich typischerweise ein Blush-Sign im Bereich der Gyri mit offener Blut-Hirn-Schranke.
Eine Abgrenzung zum klassischen Hirninfarkten durch einen Gefäßverschluss gelingt in der FLAIR-Sequenz: Beim MELAS-Syndrom findet man ein typisches Vessel-Flow-Void-Sign (VFVS) im Gegensatz zum Hyperintense-Vessel-Sign (HVS) beim akuten Infarkt mit Gefäßverschluss.[6] Des Weiteren ist beim MELAS-Syndrom der Kortex zunächst ohne die darunterliegende weiße Substanz beteiligt. Die betroffenen Hirnareale sind nicht auf typische Gefäßterritorien begrenzt und können auch wandern.
Labormedizin
Laborchemisch findet sich – insbesondere während der schlaganfallähnlichen Episoden – eine Laktaterhöhung, sowohl im Blut als auch im Liquor. Weitere Hinweise auf eine Mitochondriopathie sind ein erhöhter Laktat-Pyruvat-Quotient und eine Erhöhung der LDH.
Pathohistologie
Pathohistologisch zeigen sich bei Patienten mit MELAS-Syndrom sogenannte Ragged-Red-Fibers mit zotteligen, verklumpten Mitochondrien in der Gömöri-Trichrom-Färbung. In der Succinatdehydrogenase-Färbung finden sich Ragged-Blue-Fibers.
Molekulargenetik
Die Diagnosestellung gelingt durch Nachweis der auslösenden Mutationen (PCR, Sequenzierung) aus Blut oder seltener Muskelbiopsien.
Diagnosekriterien
Hirano-Kriterien
- Hauptkriterien: alle drei
- Schlaganfall-ähnliche Episoden bei Patienten < 40 Jahre
- Laktatazidose und/oder Ragged-Red-Fibers in Muskelbiopsie
- Enzephalopathie mit epileptischen Anfällen und/oder Demenz
- Nebenkriterien: mindestens zwei
- normale, rechtzeitige psychomotorische Entwicklung
- rezidivierende Kopfschmerzen
- häufiges Erbrechen
Yatsuga-Kriterien
- Kategorie A: mindestens 2
- frische, akute fokale Läsionen in der MRT
- Kopfschmerzen mit Erbrechen
- Hemiplegie
- epileptische Anfälle
- Rindenblindheit oder Hemianopsie
- Kategorie B: mindestens 2
- MELAS-typische Genvariante
- zu viel Laktat in Plasma oder Liquor
- Muskelbiopsie mit mitochondrialen Abormalitäten
Differenzialdiagnosen
Eine Vielzahl von Differenzialdiagnosen sollten beim MELAS-Syndrom ausgeschlossen werden, insbesondere:
- hereditäre metabolische Störungen: Leigh-Syndrom, Kearns-Sayre-Syndrom, MERRF, kongenitale Glykosylierungsstörungen, Sörungen des Harnstoffzyklus, lysosomale Speicherkrankheiten
- erworbene Mitochondriopathien (z.B. Blausäure-Intoxikation)
- virale Enzephalitis
- Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
- Vaskulopathien (SLE, ZNS-Vaskulitis, Riesenzellarteriitis)
- Karotisstenosen (Dissektion, Embolien)
- venöse Thrombosen
- Herzpathologien
- Moyamoya-Erkrankung
- Migräne
- Morbus Fabry
- Homocystinurie
- CADASIL
- diffuser Axonschaden nach Trauma
- Hypoglykämie
- Sichelzellanämie
Therapie
Eine Kausaltherapie existiert derzeit (2024) nicht. In der Akutphase ist die intravenöse Gabe von Arginin indiziert, das zu einer Vasodilatation führt.[4] Taurin und Coenzym Q können ebenfalls helfen. Bei der Behandlung von epileptischen Anfällen muss darauf geachtet werden, dass keine Antiepileptika verabreicht werden, die in die Atmungskette eingreifen (z.B. Valproat).
Prognose
Die jährliche Sterberate beträgt 5 bis 8 %.
Quellen
- ↑ Pavlakis SG et al. Mitochondrial myopathy, encephalopathy, lactic acidosis, and strokelike episodes: a distinctive clinical syndrome. Ann Neurol. 1984
- ↑ 2,0 2,1 Seed LM et al.: "Molecular and neurological features of MELAS syndrome in paediatric patients: A case series and review of the literature" Molecular Genetics and Genomic Medicine, 2022.
- ↑ Majamaa et al.: "Epidemiology of A3243G, the mutation for mitochondrial encephalomyopathy, lactic acidosis, and strokelike episodes: prevalence of the mutation in an adult population" American Jounal of Human Genetics, 1998.
- ↑ 4,0 4,1 Deschauer: "Mitochondriale Erkrankungen im Erwachsenenalter" Medizinische Genetik, Springer Verlag, 2012.
- ↑ Cheng W et al. MRI Features of Stroke-Like Episodes in Mitochondrial Encephalomyopathy With Lactic Acidosis and Stroke-Like Episodes. Front Neurol. 2022
- ↑ Chong et al.: "Vessel flow void sign and hyperintense vessel sign on FLAIR images distinguish between MELAS and AIS" Mitochondrion, 2021.
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