Chronische intestinale Pseudoobstruktion
Englisch: chronic intestinal pseudo-obstruction(CIP)
Definition
Als chronische intestinale Pseudoobstruktion, kurz CIPO, bezeichnet man ein seltene chronische intestinale Motilitätsstörung des Darmes. Sie ist durch (Sub-)Ileussymptome und entsprechende Befunde in der Bildgebung gekennzeichnet, ohne dass eine mechanische Obstruktion des Darmlumens vorliegt.
Epidemiologie
Die CIPO ist eine sehr seltene Krankheit mit einer geschätzten Prävalenz von 0,8-1/100.000 (Daten aus Japan) und einem Durchschnittsalter von ca. 60 Jahren bei Diagnosestellung.
Ätiologie
Man unterscheidet zwischen primären und sekundären Formen der CIPO.
Primäre CIPO
Bei der primären CIPO können bei einigen Patienten (meist sporadische) Genmutationen vorliegen. Bei den meisten Fällen ist von einem sporadischen Auftreten auszugehen. Es sind auch autosomal-dominante, -rezessive und X-chromosomale Erbgänge beschrieben Genetische Untersuchungen spielen aber derzeit (2021) keinen Stellenwert in der Routinediagnostik. Assoziierte Gene sind:
- Filamin A (FLNA)
- Actin G2 (ACTG2)
- Thymidinphosphorylase (TYMP)
- DNA-Polymerase γ (POLG1)
- Shugoshin-like 1 (SGOL1)
- Myosin-11 (MYH11)
- SCO2 (Cytochrome C Oxidase Assembly Protein).
Sekundäre CIPO
Die sekundäre CIPO kann durch eine Vielzahl von Grunderkrankungen entstehen, beispielsweise:
- toxische Neuropathien (z.B. Alkohol, Chemotherapeutika, Antihypertensiva)
- endokrine Neuropathien (z.B. Diabetes mellitus)
- neurologische Erkrankungen (z.B. Parkinson-Syndrom, Multiple Sklerose)
- autoimmune Ganglionitis: paraneoplastisch (z.B. bei NSCLC), postinfektiös (z.B. Chagas-Krankheit, CMV-Infektion) oder bei Sklerodermie.
- autoimmune Myositis (z.B. bei systemischem Lupus erythematodes)
Pathophysiologie
Intestinale Motilitätsstörungen werden hinsichtlich ihrer Pathophysiologie in enterische Neuropathien, Myopathien und Mesenchymopathien unterteilt. Alle drei Formen können isoliert oder kombiniert zum Krankheitsbild der CIPO führen.
Klinik
Die klinische Symptomatik ist abhängig von der Lokalisation, der Größe des motilitätsgestörten Darmwandareals und der Ausprägung der Motilitätsstörung. Patienten mit CIPO weisen intermittierend oder chronisch (Sub-)Ileussymptome auf. Betroffen ist insbesondere der Dünndarm, wobei auch andere Abschnitte des Gastrointestinaltrakts und des Urogenitaltrakts beteiligt sein können. Aufgrund der gestörten Motilität entwickelt sich in den meisten Fällen eine bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms (SIBO). Die häufigsten Symptome der CIPO sind:
- Überblähung (75 %)
- Bauchschmerzen (58 %)
- Übelkeit (49 %)
- Obstipation (48 %)
- retrosternales Brennen, Regurgitationen (46 %)
- Völlegefühl (44 %)
- Sättigungsgefühl (37 %)
- Erbrechen (36 %)
- Epigastrische Schmerzen/Brennen (34 %)
- Durchfall
- Gewichtsverlust
Diagnostik
Bei Verdacht auf CIPO kann eine Vielzahl an diagnostischen Methoden zum Einsatz kommen:
- vollständige Endoskopie und Bildgebung des Gastrointestinaltrakts (z.B. ÖGD, Ileokoloskopie, MRT-Sellink)
- Laboruntersuchung:
- Routinelaborparameter, die Hinweise auf entzündliche oder neoplastische gastrointestinale Erkrankungen, Malabsorption oder Elektrolytstörungen liefern können.
- individuelle Suche nach sekundären Formen und seltenen Differenzialdiagnosen: z.B. TSH, C1-Esterase-Inhibitor, Porphyriediagnostik, Autoantikörperdiagnostik bei Kollagenosen, Anti-Hu-Antikörper bei V.a. Ganglionitis.
- Gastroduodenojejunale Manometrie (v.a. bei fehlender/unklarer Histologie): zum Beleg gestörter Motilitätsmuster, zur Eingrenzung der Pathophysiologie, zur Aufdeckung einer larvierten mechanischen Obstruktion
- Transittests: v.a. zur Quantifizierung der Motilitätsstörung
- Magenentleerungsmessung (Szintigraphie, 13C-Atemtest)
- Messung des orozökalen Transits (H2-Lactulose-Atemtest)
- Messung des Dünndarmtransits (Szintigraphie, kombinierter H2-Lactulose- und 13C-Acetat-Atemtest)
- Messung des Kolontransits (röntgendichte Marker, Hinton-Test, Szintigraphie)
- Test zur Erfassung von SIBO: Glucose-H2-Atemtest, ggf. kulturelle Keimzahlbestimmung aus Dünndarmaspiraten
- Ösophagusmanometrie: bei V.a. generalisierte Motilitätsstörung und bei Patienten mit Sklerodermie.
- Anorektale Manometrie: bei Patienten mit Obstipation als führendes Symptom
- Kolonmanometrie: Patienten mit schwerer Obstipation und V.a. generalisierte Motilitätsstörung
- Ganzwandbiopsie: Kann neuromuskuläre Störung belegen und genauer charakterisieren. Nur in Speziallaboratorien möglich.
Differenzialdiagnostik
Intestinale Motilitätsstörungen mit abnormen Befunden in der Dünndarmmanometrie ohne Ileus-artige Episoden werden zur Abgrenzung als enterale Dysmotilität bezeichnet. In diesen Fällen liegen insbesondere inflammatorische Neuropathien zugrunde.
Therapie
Ernährungstherapie
Eine spezifische Diät ist nicht notwendig, vielmehr sollte die Nahrungszusammensetzung nach individueller Verträglichkeit ausgewählt werden. Bevorzugt werden mehrere kleine, fettarme und Ballaststoff-arme Mahlzeiten.
Medikamentöse Therapie
Bei Patienten mit CIPO können folgende Wirkstoffe eingesetzt werden:
- 5HT4-Agonist: Prucaloprid ist in Deutschland das einzige zugelassene Prokinetikum (für die Behandlung der Laxantien-refraktären Obstipation). Kann zur signifikanten Schmerzreduktion führen.
- Dopamin-D2-Antagonisten: Metoclopramid und Domperidon sind Deutschland nur zur kurzfristigen Therapie von Übelkeit zugelassen. Insbesondere bei CIPO mit gastraler Beteiligung ist der Einsatz möglich.
- Makrolide: Erythromycin kann off label insbesondere bei gastraler Beteiligung zur Besserung von Übelkeit und Bauchschmerzen führen.
- Acetylcholinesterase-Inhibitoren: Pyridostigmin wird in therapierefraktären Fällen zur Besserung der abominellen Distension und der Nahrungstoleranz eingesetzt
- Somatostatinanalogon: Octreotid kann Phase-III-Komplexe auslösen und eine Besserung von Übelkeit, Bauchschmerzen und Nahrungstoleranz bewirken. Die Wirkung korreliert mit manometrisch nachweisbaren Effekten auf die Motilität.
- orale µ-Opiatrezeptor-Antagonisten (PAMORA): bei Opiat-induzierter Obstipation, ggf. auch Beschleunigung des Transits bei Opioid-naiven Personen.
- Immunsuppressiva (Glukokortikoide, Immunglobuline): v.a. bei rheumatologischer Grunderkrankung (z.B. SLE) sowie im Einzelfall bei enterischer Ganglionitis, autoimmuner Myositis oder anderen Autoimmunerkrankungen
- Antibiotika: Rifaximin, alternativ Tetrazyklin oder Metronidazol zur Behandlung des SIBO
- Opioide: zur Schmerzbehandlung. Indikation sehr zurückhaltend, da sie die Motilitätsstörungen aggravieren können.
Endoskopische und chirurgische Therapie
Endoskopische oder offene Entlastungsenterostomien können die Symptomatik verbessern. Grundsätzlich sind Operationen und insbesondere die Resektion von betroffenen Abschnitten nur selten erfolgreich. Weiterhin sollten chirurgische Eingriffe während den pseudoobstruktiven Phasen vermieden werden, da sie aufgrund von Bridenbildungen das klinische Bild verkomplizieren können. Als Ultima Ratio kommt eine Dünndarmtransplantation in Frage. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei ca. 70 %, die 10-Jahres-Überlebensrate bei etwas mehr als 50 %.
Mikrobiom-modifizierende Therapien
Im Rahmen von Studien kann ein fäkaler Mikrobiomtransfer erwogen werden. Zur Wirksamkeit von Probiotika bei CIPO-Patienten liegen keine Studien vor.
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