Gehör
Synonyme: Auditus, Gehörsinn, auditive Wahrnehmung, akustische Wahrnehmung, Schallwahrnehmung, Hörsinn, Hören, auditorischer Sinn
Englisch: audition, sense of hearing, hearing
Definition
Als Gehör oder auditive Wahrnehmung bezeichnet man die Sinnesempfindung, die akustische Reize bzw. den Schall wahrnimmt. Zur Wahrnehmung dienen Sinnesorgane, deren Stimulation durch die aus der Umgebung stammenden Schwingungen erfolgt.
Hintergrund
Unser Gehör dient der Wahrnehmung von Sprache und Umweltgeräuschen, es erleichtert die Orientierung im Raum und fungiert auch als Warnsystem, dass den Menschen insbesondere auch über Nacht im Schlaf vor herannahenden Gefahren warnt. Dabei ist die Empfindlichkeit des Hörsystems so eingestellt, dass alle relevanten akustischen Reize aufgenommen, irrelevante Impulse jedoch herausgefiltert werden. Letzteres schützt das ZNS vor einer Reizüberflutung.
Anatomie
Die auditive Wahrnehmung des Menschen basiert auf dem Ohr bzw. dem Hörorgan. Seine verschiedenen Abschnitte dienen der Schallaufnahme, der Schallweiterleitung und der Schallverarbeitung.
- Außenohr: Schallaufnahme
- Mittelohr: Schallweiterleitung, Impedanzanpassung, Verstärkung
- Innenohr: Schallverarbeitung mit Signalwandlung und Reizverstärkung
Physiologie
Schallaufnahme und -weiterleitung
Der Reiz, der die Signaltransduktion im auditorischen System auslöst, ist eine Veränderung des Luftdrucks und wird durch Schallwellen hervorgerufen. Die Schallwellen werden von der Ohrmuschel aufgefangen, welche die Funktion eines Schalltrichters hat. Sie werden durch den äußeren Gehörgang (Meatus acusticus externus) auf das Trommelfell geleitet und versetzen es in Schwingung. Die Schwingungen werden dann durch die Gehörknöchelchenkette des Mittelohrs auf das Innenohr übertragen. Diese Form der Schallweiterleitung bezeichnet man als Luftleitung. Dabei werden im Mittel etwa 60 % der Schallenergie an das Innenohr weitergegeben.
Töne können neben der Luftleitung auch über die Knochenleitung übertragen werden. Wenn ein schwingender Körper (z.B. eine Stimmgabel) auf den Schädelknochen aufgesetzt wird, werden dabei die Schwingungen vom Knochen direkt bis zum Innenohr weitergeleitet. Für das Hörvermögen spielt die Knochenleitung keine große Rolle. Sie wird jedoch für diagnostische Maßnahmen wie beispielsweise den Rinne- und Weber-Versuch eingesetzt.
Signalwandlung
Das letzte Gehörknöchelchen, der Steigbügel (Stapes) überträgt die Schwingungen über das ovale Fenster als Druckwellen in die Perilymphe der Scala vestibuli des Innenohrs. Die Flüssigkeitswelle, die dadurch ausgelöst wird, bezeichnet man als Wanderwelle. Da während eines Schallereignisses mehrere Schallschwingungen auf das ovale Fenster wirken, kommt es im Innenohr zu immer wiederkehrenden, wellenförmigen Auf- und Abwärtsbewegungen der Tektorialmembran und Basilarmembran sowie des Corti-Organs.
Die Wanderwelle schlägt frequenzabhängig an bestimmten Stellen der Basilarmembran aus. Für jeden Ton existiert ein bestimmter Ort der Maximalauslenkung der Wanderwelle auf der Basilarmembran. Dabei bilden sich
- hohe Frequenzen nahe am Stapes
- niedrige Frequenzen nahe am Helicotrema ab.
Es findet also eine Frequenz-Ortsabbildung statt, was auch als "Ortstheorie" (Tonotopie) bezeichnet wird.
Die Auf- und Abwärtsbewegungen führen im Bereich des Wanderwellenmaximums zu einer Scherbewegung zwischen dem Corti-Organ und der Tektorialmembran. Die Tektorialmembran steht mit den Spitzen der längsten Stereozilien der äußeren Haarzellen in Kontakt. Durch die Schwingungen der Tektorialmembran werden die äußeren Haarzellen somit umgebogen.
Von der Spitze der Stereozilien ziehen typischerweise kleine Fäden zur jeweils dahinterliegenden Zilie. Diese bezeichnet man als sogenannte Tip-Links. Wenn die Stereozilien in Erregungsrichtung deflektiert werden, führt dies zu einer Anspannung der Tip-Links. Die Abscherung der Zilien führt zu einer Öffnung von Ionenkanälen (sog. Transduktionskanälen), die sich an der Spitze der Zilien befinden.
Daraufhin strömen Kaliumionen aus der Endolymphe in die äußeren Haarzellen und führen zu einer Depolarisation. Die Haarzellen besitzen ein Membranpotenzial, das in Ruhe bei -70 mV liegt. Die Änderung des Membranpotentials, die durch die Abscherung der Stereozilien hervorgerufen wird, bezeichnet man als Rezeptorpotenzial.
Die Endolymphe enthält charakteristischerweise eine hohe extrazelluläre Kaliumkonzentration (+85 mV) und ist im Vergleich zu den anderen Extrazellulärräumen des Körpers sehr positiv geladen. Dem Einstrom von K+-Ionen liegt die hohe Potentialdifferenz von ca. -155 mV zwischen der Endolymphe in der Scala media und dem Zellinneren der Haarzelle zugrunde.
Reizverstärkung
Die äußeren Haarzellen antworten auf die Depolarisation der Zellmembran mit oszillierenden Bewegungen. Ursächlich ist eine aktive Längenänderung der äußeren Haarzellen. Dabei können sich die äußeren Haarzellen bis zu 20.000-mal pro Sekunde (20 kHz) verkürzen und verlängern. Die Längenänderung wird durch das Protein Prestin vermittelt, dass sich in der lateralen Zellmembran der äußeren Haarzellen befindet.
Kommt es zu einer Depolarisation der äußeren Haarzellen, strömen Chloridionen aus den Prestinmolekülen. Dies führt dazu, dass das Prestinmolekül kleiner wird und sich damit die ganze Zelle verkürzt. Im Rahmen der Repolarisation erfolgt dann der umgekehrte Prozess und es kommt zur Verlängerung der äußeren Haarzellen. Diese sehr schnellen Oszillationen verstärken selbst geringe Schwingungen um ein Vielfaches und ermöglichen eine maximale Auflösung bzw. Frequenzselektivität des aufgenommenen Reizes.
Die Bewegung der äußeren Haarzellen führt zu einer Schallabstrahlung nach außen. Man kann diese mithilfe von hoch empfindlichen Mikrophonen im Rahmen der otoakustischen Emissionen messen.
Die starke Oszillation der äußeren Haarzellen erzeugt eine verstärkte Schwingungsenergie. So werden die eigentlichen Sinnesrezeptoren des Innenohrs, die inneren Haarzellen, über die Tektorialmembran indirekt mit erregt. Wie bei den äußeren Haarzellen öffnen sich ihre Transduktionskanäle öffnen und Kalium strömt ein.
Die Depolarisation führt zu einer Öffnung von spannungsabhängigen Calciumkanälen. Der Calciumeinstrom (Ca2+) hat eine Ausschüttung von Glutamat zur Folge. Dieser Neurotransmitter bindet an AMPA-Rezeptoren und erzeugt dann EPSPs am Hörnerv. Diese haben eine Öffnung von Natriumkanälen zur Folge und führen zu Aktionspotentialen der Neurone des Ganglion cochleare, die über die Hörbahn weitergeleitet werden.
Signalweiterleitung
Die Hörbahn dient der Weiterleitung und Signalverarbeitung der akustischen Information für die höheren Gehirnzentren. Beide Hörbahnen besitzen mehrere Querverbindungen, die u.a das Richtungshören ermöglichen.
Axone des Ganglion cochleare (1. Neuron) laufen über den Nervus cochlearis des Nervus vestibulocochlearis (VIII. Hirnnerv) durch den inneren Gehörgang (Meatus acusticus internus) am Kleinhirnbrückenwinkel in den Hirnstamm. Sie enden in den Nuclei cochleares anterior und posterior (2. Neuron). Der posteriore Kern bildet den Startpunkt der direkten Hörbahn, die überwiegend gekreuzt über den Lemniscus lateralis zum Colliculus inferior der Vierhügelplatte (3. Neuron) und weiter zum Corpus geniculatum mediale des Thalamus (4. Neuron) verläuft. Von diesem geht die Hörstrahlung aus (Radiatio acustica) mit Projektion auf das auditorische Kernfeld der Gyri temporales transversi (Heschl'sche Windungen, Brodmann-Areal 41), dem 5. Neuron.
Für das Richtungshören und die Vermittlung von Reflexen wird der größte Teil der Fasern aus dem anterioren Kochleariskern im Nucleus olivaris superior der Pons verschaltet, um dann über den Lemniscus lateralis aufzusteigen (indirekte Hörbahn).
Empfindlichkeit
Das Gehör nimmt den Schall verschiedener Frequenzen sehr unterschiedlich wahr. Die höchste Empfindlichkeit des Ohrs liegt bei ungefähr 3 kHz (3 · 103 Hertz). Neugeborene schreien nicht ohne Grund bevorzugt auf dieser Frequenz. Die Eltern hören hier bereits eine Schallintensität von 10-12 W/m². Zwischen Hör- und Schmerzschwelle liegen ungefähr 12 Zehnerpotenzen der Schallintensität.
Schallmessgrößen
Name | Weiterer Name | Einheit | Hörschwelle |
---|---|---|---|
Schalldruck | Schallwechseldruck | 1 Pa (Pascal) | ~ 2 · 10-5 Pa |
Schallintensität | Schallstärke | 1 W÷m² | ~ 10-12 W÷m² |
Schallpegel | Schalldruckpegel | 1 dB SPL | ~ 0 dB SPL |
Lautstärke | 1 Phon oder 1 dB(A) | 4 Phon [dB(A)] |
Alternative Schallwahrnehmung
Die Schallwahrnehmung ist nicht immer gezwungenermaßen an das Hörorgan gebunden. Insbesondere Vibrationen können durch andere Sinnesorgane an entsprechenden anderen Körperteilen wahrgenommen bzw. empfunden werden. Zu nennen sind hier die spezialisierten Vibrationsrezeptoren in der Haut, die Vater-Pacini-Körperchen und die Meissner-Körperchen.
Pathophysiologie
Schädigungen der Haarzellen können die Signaltransduktion empfindlich stören oder sogar ganz unmöglich machen - z.B. bei Degeneration der Haarzellen. Solche Schäden können durch einen übermässigen Schallpegel verursacht werden (regelmässige Discobesuche, laute Konzerte o.Ä.) oder aber auch durch ototoxische Wirkungen von bestimmten Medikamenten (z.B. Aminoglykosid-Antibiotika).
Quellen
- Schmidt und Lang. Physiologie des Menschen. Springer-Verlag, 2007