Geriatrisches Assessment
von englisch: assessment - Einschätzung
Definition
Der Begriff Geriatrisches Assessment bezeichnet die Bewertung der körperlichen Gesundheit sowie der psychosozialen und funktionellen Fähigkeiten eines Patienten in der Geriatrie. Im Idealfall ist das Assessment ein mehrdimensionaler, interdisziplinär betreuter Prozess.
Hintergrund
Beim geriatrischen Assessment wird mittels geeigneter Tests der physische, kognitive, emotionale, ökonomische und soziale Zustand des Patienten eingeschätzt. Grundsätzlich sollte bei Patienten über 70 Jahren ein Assessment zumindest in Erwägung gezogen werden, insbesondere bei Vorliegen von folgenden Aspekten:
- dementielle Erkrankung
- Parkinson-Syndrom
- multifaktorielle Mobilitätsstörung (z.B. Fallneigung, Schwindel)
- komplexe Beeinträchtigung kognitiver, emotionaler oder verhaltensbezogener Art
- Frailty-Syndrom (unbeabsichtigter Gewichtsverlust, körperliche oder geistige Erschöpfung, muskuläre Schwäche (Sarkopenie), verringerte Ganggeschwindigkeit, verminderte körperliche Aktivität)
- Dysphagie
- Inkontinenz
- therapierefraktäres chronisches Schmerzsyndrom
Das geriatrische Assessment kann nicht nur stationär, sondern auch ambulant durchgeführt werden.
Durchführung
AGAST-Empfehlungen
Das geriatrische Assessment wird nach Empfehlungen der AGAST (Arbeitsgruppe Geriatrisches Assessment) in drei Stufen eingeteilt, die aufeinander aufbauen. Es soll zur besseren Kommunikation zwischen Arzt, Patient und dessen Umfeld beitragen. Um eine Objektivierbarkeit zu gewährleisten, sollten man möglichst standardisierte Tests verwenden, die reproduzierbar sind. So sind auch Verlaufskontrollen durch ein erneutes Assessment möglich.
Stufe 1
In der ersten Stufe wird ein multidimensionales Screening zur Identifikation von geriatrischen Patienten durchgeführt, beispielsweise mit Hilfe des geriatrischen Screenings nach Lachs.
Stufe 2
Die zweite Stufe entspricht dem "Basisassessment":
- Stufe 2a: Ausschluss bzw. Nachweis einer therapierelevanten Störung
- Stufe 2b: Erfassung und Beschreibung der Ausprägung von Beeinträchtigungen
Dabei werden folgende Dimensionen beurteilt:
Obligat ist weiterhin im Rahmen einer frührehabilitativen Komplexbehandlung ein soziales Assessment. Auch eine generelle Erfassung der Bereiche Ernährung und Schmerz wird empfohlen. Individuell können weitere Aspekte, z.B. Schlaf oder Sucht, beurteilt werden.
Stufe 3
Die dritte Stufe dient der vertiefenden Abklärung von Beeinträchtigungen, die nur bei Bedarf gezielt und problemorientiert erfolgt.
Hausärztlich-geriatrisches Basisassessment
Das hausärztlich-geriatrische Basisassessment ist Teil des ärztlichen Leistungskatalog (EBM-Nr 03360). Unterschieden werden obligate und fakultative Inhalte. Die Leistung kann einmal im Behandlungsfall und zweimal im Krankheitsfall abgerechnet werden. Zu den obligaten Inhalten zählen:
- persönlicher Arzt-Patienten-Kontakt
- Erhebung und/oder Monitoring organbezogener und übergreifender motorischer, emotioneller und kognitiver Funktionseinschränkungen, Beurteilung der Selbstversorgungsfähigkeiten mittels standardisierter, wissenschaftlich validierter Testverfahren
- Beurteilung der Mobilität und Sturzgefahr durch standardisierte Testverfahren
Fakultative Leistungsinhalte sind:
- Beurteilung von Hirnleistungsstörungen
- Anleitung zur Anpassung des familiären und häuslichen Umfeldes an die ggf. vorhandene Fähigkeits- und Funktionsstörung
- Anleitung zur Anpassung des Wohnraumes, ggf. Arbeitsplatzes
- Abstimmung mit dem mitbehandelnden Arzt
Für das hausärztlich-geriatrische Basisassessment eignet sich das Manageable Geriatric Assessment (MAGIC), das 9 Bereiche umfasst:
- Leistungsfähigkeit
- Sehen
- Hören
- Stürze
- Harninkontinenz
- Depressivität
- soziales Umfeld
- Impfstatus
- kognitiver Leistungstest
- fakultativ: Schmerzen, Schwindel, Mobilität und Beweglichkeit, ungewollter Gewichtsverlust, Medikationscheck
Zielsetzung
Ziel des Assessments sollte es sein, dem Patienten ganzheitlich Hilfe zukommen zu lassen und insbesondere eine den Lebensbedingungen angepasste Therapie der Erkrankungen durchzuführen. Die in der Klinik erreichten Erfolge sollen möglichst im alltäglichen Umfeld erhalten oder weiter fortgeführt werden.
Dimensionen
Selbsthilfefähigkeit
Die Dimension Selbsthilfefähigkeit soll die Selbstständigkeit in täglichen Basisaktivitäten erfassen. Im Basisassessment sind stets Instrumente der Stufe 2b erforderlich, da geriatrische Patienten generell durch vorhandene oder zumindest drohende Einschränkungen ihrer selbstständigen Lebensführung gekennzeichnet sind. Für die Beurteilung werden folgende Instrumente empfohlen:
- Barthel-Index (BI) nach Barthel und Mahoney[1]
- Functional Independence Measure (FIM)
- IADL-Skala nach Lawton und Brody[2]
- Geldzähltest nach Nikolaus (Timed test of Money Counting, TTMC)[3]
Mobilität und Motorik
Zur Beurteilung der Mobilität und Motorik eignet sich der New Mobility Score nach Parker und Palmer (PPMS) im Rahmen eines sozialen Assessments, solange die anamnestischen Angaben zuverlässig sind.[4] Dabei soll auch eine inhaltliche Beschreibung erfolgen und die Versorgung mit Hilfsmitteln erfasst werden. Weitere Testinstrumente sind:
- Timed "Up and Go"-Test (TUG):[5] gebräuchlichster Mobilitätstest der Stufe 2a
- Esslinger Transferskala (ETS):[6] für nicht gehfähige Patienten im Rahmen der Stufe 2
- Gehtests: für gehfähige Patienten, die nicht selbstständig aus dem Stuhl aufstehen können, z.B.
- 4-Meter-Gehtest (4mWT) bzw. 10-Meter-Gehtest (10mWT)
- 2-Minuten-Gehtest (2-min-WT) bzw. 6-Minuten-Gehtest (6-min-WT)
- Stuhl-Aufstehtests (5-CRT, 30-s-CST): Funktion und Kraft der unteren Extremität
- De Morton Mobility Index (DEMMI):[7] 15 Items zur Beurteilung einfacher und komplexer Bewegungsabläufe
- Short Physical Performance Battery (SPPB):[8] Beurteilung von Gleichgewicht, Kraft und Gehgeschwindigkeit
- Mobilitätstest nach Tinetti (POMA):[9] Beurteilung des Gleichgewichts und Gangbildes zur Abschätzung des Sturzrisikos bei Personen, die ohne Hilfe aufstehen können; zeitaufwendig
- Berg Balance Scale (BBS): am ehesten für geriatrische Patienten mit Schlaganfall, jedoch nicht bei Demenz oder geistiger Behinderung einsetzbar, zeigt moderate Veränderungen unzuverlässig an
- Falls Efficacy Scale-International (FES-I):[10] Erfassung von Angst bzw. Bedenken vor Stürzen
Weiterhin sollte zumindest im Fall von Beeinträchtigungen die Handkraft und Grobmotorik sowie die Feinmotorik überprüt werden. Hierzu eignen sich z.B.:
- standardisierte Messung der Handkraft: korreliert mit Gesamtkörperkraft und Gehfähigkeit sowie negativ mit dem Sturz- und Frakturrisiko
- 20-Cents-Test (20-C-T):[11] auch bei Patienten mit mittelgradiger kognitiver oder visueller Beeinträchtigung durchführbar
Demenz und Delir
Geeignete Testinstrumente für das Assessment der Stufe 2a sind unter anderem:
- Six-Item-Screener (SIS):[12] schnell durchführbar als initialer Test für die Aufnahmesituation, auch bei schwerer feinmotorischer oder visueller Störung
- Uhr-Zeichen-Test (Clock Drawing Test, CDT): Ergebnis ist abhängig von der Aufmerksamkeit, dem verbalen Arbeitsgedächtnis u.v.m.; zur Differenzialdiagnostik ungeeignet; nur in Kombination mit weiteren Testinstrumenten; nicht bei Patienten mit schweren feinmotorischen oder visuellen Störungen anwendbar
- Uhr-Zeichen-Test nach Shulman:[13] einfach durchführbar, hohe Sensitivität und Spezifität in der Demenzerkennung
- Uhr-Zeichen-Test nach Sunderland:[14] ebenfalls bewährt und einfach durchführbar
- Uhren Ergänzen nach Watson (Clock Completion, CC):[15] leicht durchführbar
- Mini-Cog:[16][17] kombiniert Uhr-Zeichen-Test nach Sunderland mit 3-Item Recall, gut geeignet für fremdsprachige Patienten und/oder bei niedrigem Bildungsgrad
- Schneller Uhren-Dreier (SUD): Weiterentwicklung des Mini-Cog für den deutschen Sprachraum, gut geeignet für ein rasches erstes Demenzscreening
Weiterhin kommen folgende Testinstrumente zur Anwendung:
- Brief Alzheimer Screen (BAS):[18] sensitiv für die Detektion einer leichten Demenz, auch bei schwerer Sehbehinderung und/oder Störung der Feinmotorik; nicht zur Schweregradeinschätzung einer Demenz geeignet; keine validierte deutsche Version
- Bamberger Demenz-Screening-Test (BDST):[19] schnell durchführbar auch bei Patienten mit motorischen oder sensorischen Einschränkungen
- Mini Mental State Examination (MMSE):[20] weltweit das häufigste verwendete Verfahren; unzureichende Beurteilung bei leichter kognitiver Beeinträchtigung
- Severe Mini Mental State Examination (SMMSE):[21] geeignet für Patienten mit schwerer Demenzerkrankung
- DemTect:[22] bei leichter kognitiver Einschränkung sensitiver als die MMSE
- Montreal Cognitive Assessment (MoCA):[23] bei leichter kognitiver Einschränkung sensitiver als die MMSE
- Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung (TFDD): bei leichter kognitiver Einschränkung sensitiver als die MMSE
- Global Deterioration Scale (GDS kog.):[24] Fremdbeurteilungsskala zur Abschätzung der Ausprägung einer Alzheimer-Demenz
- Syndrom-Kurz-Test
Folgende Testinstrumente sind insbesondere zur Delirerfassung geeignet:
- Nursing Delirium Screening Scale (NU-DESC)[25]
- Delirium Observation Screening Scale (DOSS):[26] rasches Screening, nicht zur Diagnosesicherung geeignet
- Confusion Assessment Method (CAM):[27] erfordert ein strukturiertes Interview
Für die Stufe 3 des Assessments existieren weitere hilfreiche Werkzeuge, z.B. CERAD-Plus.
Emotion
Altersadäquate Testinstrumente sind für geriatrische Patienten, die unter einer depressiven Episode leiden, notwendig. Empfohlen wird derzeit (2019) die Kombination mehrerer Untersuchungsmethoden, z.B.:
- 2-Fragen Test nach Whooley:[28] Instrument der Stufe 2a
- Geriatrische Depressionsskala (GDS):[29] Selbstbeurteilungsskala, je nach Zahl der Items Stufe 2a oder 2b.
- WHO-5-Wohlbefindens-Index (WHO-5):[30] Selbstbeurteilung des globalen Wohlbefindens, sehr gute Sensitivität insbesondere bei milden depressiven Episode
- Depressionsteil des Patient Health Questionnaire (PHQ-9):[31] suizidale Gedanken werden auch direkt angesprochen
- Depression im Alter-Skala (DIA-S):[32] leicht durchführbar
- Montgomery-Asberg Depression Rating Scale (MADRS):[33] Instrument der Stufe 2b aus Basis einer Fremdbeurteilung
Soziale Situation
Für das Leben eines geriatrischen Patienten sind die Bedingungen seiner sozialen Situation entscheidend. Im Rahmen einer frührehabilitativen Komplexbehandlung ist das Sozialassessment obligat. Erfasst werden sollen:
- Wohnsituation
- Kontakte
- Aktivitäten
- vorhandene oder benötigte Hilfsmittel
- vorhandene oder benötigte pflegerische Unterstützung
- rechtliche Verfügungen
Hilfreiche, jedoch nicht ausreichende Testinstrumente sind der Sozialfragebogen nach Nikolaus und SOS Hochzirl.
Schmerz
Da bis zu 80 % der älteren Menschen unter Schmerzen leiden, jedoch häufig nicht darüber berichten, sollte explizit nachgefragt werden. Falls möglich, sollte eine Selbsteinschätzung bevorzugt werden.
Kognitiv nicht oder wenig eingeschränkte Patienten
Für das Assessment der Stufe 2a bei kognitiv wenig eingeschränkten Menschen eignet sich folgendes Vorgehen:
- Frage 1: Aktuelle Schmerzen?
- Ja: Stufe 2b
- Nein: weiter mit Frage 2
- Frage 2: Schmerzen in letzten 2 Wochen?
- Ja: weiter mit Frage 3
- Nein: Schmerzassessment derzeit beendet
- Frage 3: Schmerzen vermutlich in nächsten 2 Wochen?
- Ja: Stufe 2b
- Nein: Schmerzassessment derzeit beendet
Anschließend erfolgt in der Stufe 2b die Erhebung von
- Schmerzintensität: z.B. mittels Numerischer Rating Skala (NRS) oder Verbaler Rang Skala (VRS)
- Lokalisation
- Schmerzcharakter
- Schmerzdauer
- verstärkende oder lindernde Faktoren, Medikamente
Für die Stufe 3 des Schmerzassessments müssen psychische Faktoren und je nach Genese spezifische diagnostische Untersuchungen durchgeführt werden. Weiterhin existieren speziell entwickelte Testinstrumente:
Kognitiv eingeschränkte Patienten
Ist die verbale Kommunikation beim geriatrischen Patienten nicht möglich, achtet man in der Stufe 2a auf Zeichen, die mit Schmerzen assoziiert sein können, z.B. Grimassieren, Schonhaltungen etc.
Anschließend werden ggf. für die Stufe 2b Fremdeinschätzungsskalen empfohlen, z.B.:
Für die Stufe 3 des Schmerzassessments sollten weitere Informationen z.B. von Angehörigen sowie Angaben des interdisziplinären geriatrischen Teams berücksichtigt werden.
Mangelernährung
Ein schlechter Ernährungszustand ist bei geriatrischen Patienten i.d.R. multifaktoriell verursacht und geht mit einer schlechten Prognose einher. Routinemäßig sollten Risikofaktoren für das Auftreten einer Mangelernährung identifiziert werden, z.B.:
- niedriger BMI
- Gewichtsverlust
- geringe Essmenge
- erhöhter Nährstoffbedarf
Hierfür liegen verschiedene Instrumente vor, insbesondere:
- Mini Nutritional Assessment (MNA)[39]
- Malnutrition Universal Screening Tool (MUST)[40]
- Nutritional Risk Screening (NRS)[41]
Bei erkanntem Risiko ist eine detaillierte Abklärung der Ursachen und Einleitung entsprechender Maßnahmen notwendig.
Dysphagie
Schluckstörungen sind ein häufiges Problem bei geriatrischen Patienten. Dabei sollten beispielweise folgende Symptome eigen- und/oder fremdanamnestisch erhoben werden:
- häufiges Verschlucken
- veränderte Stimmqualität
- wiederholte unklare Fieberschübe und Pneumonie (als Hinweis auf Aspiration)
Bei entsprechendem Verdacht auf eine Dysphagie sind eine klinische Schluckuntersuchung durch einen Logopäden sowie diagnostische Verfahren (z.B. FEES) notwendig. Des Weiteren kommen standardisierte Verfahren zum Einsatz:
Schlaf
Das bisher (2019) einzige validierte Messinstrument zur Erfassung von Tagesschläfrigkeit bei geriatrischen Patienten ist der Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS).[43] Dabei beobachten Pflege- oder Betreuungspersonen den Patienten über eine Woche und beurteilen die Häufigkeit des Schlafens am Tage zu definierten Zeitpunkten.
Sucht
- CAGE-Fragebogen: Screening auf das Vorliegen eines Alkoholabusus
- AUDIT: internationaler Goldstandard für das Screening von riskantem Alkoholkonsum, schädlichem Alkoholgebrauch oder Alkoholabhängigkeit[44]
- SMAST-G: Fragen zu Trinkgewohnheiten und Auswirkungen des Alkoholkonsums[45]
- Benzo-Check: Fragen bzgl. eines Benzodiazepin-Konsums[46]
- DIRE-Skala: Beurteilung einer längerfristigen Opioidbehandlung[47]
Literatur
- Geriatrisches Assessment nach AGAST (1995), abgerufen am 29.10.2019
- Bauer J, Denkinger M et al. AWMF S1-Leitlinie Geriatrisches Assessment der Stufe 2, 28.08.2019, abgerufen am 29.10.2019
- S1-Leitlinie Geriatrisches Assessment in der Hausarztpraxis, 08.05.2018, abgerufen am 29.10.2019
Quellen
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