Cladribin
Handelsnamen: Leustatin®, Litak®, Mavenclad®
Synonyme: 2-Chlor-2′-desoxyadenosin, Cladribinium
Englisch: Cladribine
Definition
Cladribin ist ein Arzneistoff aus der Klasse der Nukleosidanaloga, der für die perorale Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) sowie in der Onkologie parenteral als Zytostatikum bei Haarzellleukämie eingesetzt wird.
Chemie
Cladribin ist ein Nukleosidanalogon des Desoxyadenosins mit der Summenformel C10H12ClN5O3 und einer molaren Masse von 285,7 g/mol. Die Substanz ist ein weißes, nicht hygroskopisches und kristallines Pulver, das in Wasser und Ethanol nahezu unlöslich ist.
Wirkmechanismus
2-Chlordesoxyadenosin-5'-triphosphat (2-Cd-ATP), der aktive Metabolit von Cladribin, wird anstelle des natürlichen Nukleosids Desoxyadenosin in die DNA der Zellen eingebaut. Das geschieht vorzugsweise in Zellen mit einer vergleichsweise hohen Aktivität der Desoxycytidinkinase (DCK) und einer demgegenüber niedrigen Aktivität der 5'-Nukleotidase (5'-NTase), insbesondere in Lymphozyten und anderen Zellen des blutbildenden Systems.
Durch den Einbau des veränderten Nukleosids enthalten die DNA-Stränge einen zwar passenden, aber dennoch fremden Baustein. Er führt zum Abbruch der DNA-Neusynthese, da die Polymerasen nicht mehr in der Lage sind, ihre Arbeit fortzuführen. In der Folge sammeln sich DNA-Strangbrüche an und die Proteinbiosynthese wird unterbrochen. Eine weitere Zellteilung unterbleibt. Die Folge ist die Apoptose der betroffenen Zelle.
Die zytotoxische Wirkung ist dosisabhängig. Im Gegensatz zu anderen Nukleosidanaloga schädigt Cladribin sowohl rasch proliferierende Zellen als auch Zellen in der Ruhephase. Nicht-hämatologische Gewebe werden durch Cladribin nicht beeinträchtigt.
Pharmakokinetik
Cladribin wird nach oraler Applikation rasch resorbiert, sodass der Plasmaspiegel bereits 30 min (Bereich: 30 bis 90 min) nach der Einnahme sein Maximum erreicht. Die orale Bioverfügbarkeit beträgt rund 40 %. Cladribin hat ein großes Verteilungsvolumen (480 bis 490 L; ca. 7 L/kgKG) und eine geringe Plasmaproteinbindung (20 %). Der Wirkstoff kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Die Aufnahme in die Zellen erfolgt über verschiedene Transportproteine.
Cladribin ist ein Prodrug, dass intrazellulär durch die Desoxycytidinkinase (DCK) zunächst zu Cladribinmonophosphat (2-Cd-AMP) und weiter über Cladribindiphosphat (2-Cd-ADP) zu aktivem 2-Chlorodesoxy-Adenosin-5‘-Triphosphat (2-Cd-ATP) phosphoryliert wird. Die Substitution mit einem Chloratom am Purinring schützt Cladribin vor dem Abbau durch die Adenosindesaminase und verlängert so seine intrazelluläre Verfügbarkeit. Die intrazelluläre Halbwertszeit von 2-Cd-AMP liegt bei etwa 15 h, von 2-Cd-ATP bei 10 h. Die Biotransformation in der Leber durch Cytochrom-P450-Isoenzyme ist von untergeordneter Bedeutung. Die Elimination von Cladribin erfolgt zu etwa 50 % mit dem Urin. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt ungefähr 24 Stunden.
Indikationen
Maligne Erkrankungen
In Deutschland und der Schweiz ist das Hauptanwendungsgebiet die Chemotherapie der Haarzellleukämie. Für die Zweitlinientherapie ist es in der Schweiz außerdem bei folgenden Krankheitsbilder zugelassen:
In klinischer Prüfung befindet sich der Einsatz von Cladribin als Therapeutikum bei weiteren Lymphom-Arten.
Multiple Sklerose
Cladribin wird zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit hochaktiver schubförmiger Multipler Sklerose (MS) eingesetzt, die durch klinische oder bildgebende Befunde definiert ist.
Darreichungsformen
- Tabletten á 10 mg (für die Behandlung der MS)
- Injektionslösung mit 10 mg Cladribin in 5 ml Injektionslösung (für die Behandlung der Haarzellleukämie)
Dosierung
Die Dosierung richtet sich nach der jeweiligen Indikation.
Haarzellleukämie
- Subkutane Bolusinjektion einer täglichen Dosis von 0,14 mg/kgKG an 5 aufeinanderfolgenden Tagen
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Multiple Sklerose
Die empfohlene kumulative Dosis von Cladribin beträgt 3,5 mg/kgKG über 2 Jahre, angewendet als eine Behandlungsphase von 1,75 mg/kgKG pro Jahr. Jede Behandlungsphase besteht aus 2 Behandlungswochen, eine zu Beginn des 1. Monats und eine zu Beginn des 2. Monats des jeweiligen Behandlungsjahres. Jede Behandlungswoche besteht aus 4 oder 5 Tagen, an denen ein Patient abhängig vom Körpergewicht 10 mg oder 20 mg als tägliche Einmaldosis erhält.
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Nebenwirkungen
Haarzelleukämie
Sehr häufige (≥ 1/10) Nebenwirkungen bei der Behandlung der Haarzelleukämie sind:
- Infektionen (z.B. Pneumonie, Septikämie)
- Knochenmarksuppression mit Panzytopenie
- Immunsuppression
- gastrointestinale Nebenwirkungen (Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Durchfall)
- auffällige Atemgeräusche, Husten
- Purpura
- Exantheme, Diaphorese
- Kopfschmerzen
- Schwindel
- Inappetenz
- Fieber
- Müdigkeit
- Schüttelfrost
- Asthenie
- Lokalreaktionen an der Einstichstelle
Weitere Warnhinweise sind:
- Im Zusammenhang mit Cladribin wurde über Fälle von progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML) berichtet, einschließlich Fällen mit tödlichem Ausgang.
- Wie bei anderen Nukleosidanaloga geht die Behandlung mit Cladribin mit einer Knochenmarksuppression sowie einer ausgeprägten und anhaltenden Immunsuppression einher. Die Behandlung mit diesen Wirkstoffen ist mit dem Auftreten von sekundären malignen Erkrankungen verbunden.
- Die Knochenmarksuppression ist im ersten Monat nach der Therapie am ausgeprägtesten und kann eine Transfusion von Erythrozyten oder Thrombozyten erfordern.
Multiple Sklerose
Sehr häufige (≥1/10) und häufige (≥1/100, <1/10) Nebenwirkungen sind:
- Oraler Herpes (z.B. Herpes labialis)
- Herpes Zoster
- Lymphopenie
- Verminderung der Neutrophilenzahl
- Exanthem
- Alopezie
Es wurde über Fälle von Leberschäden berichtet, meistens mit leichten klinischen Symptomen, aber auch schwerwiegende Fälle (Erhöhung der Aminotransferasen von über 1.000 U/L und Ikterus) und solche, die zum Therapieabbruch führten. Die meisten Fälle traten innerhalb von 8 Wochen nach der ersten Einnahmephase auf. Es gibt bisher keine Hinweise auf eine Dosisabhängigkeit und einen eindeutigen Mechanismus.[1]
Kontraindikationen
Cladribin ist teratogen und embryotoxisch. Es sollte daher nicht, bzw. nur nach gründlicher Nutzen-Risko-Abwägung in der Schwangerschaft verabreicht werden. Bei Frauen im gebärfähigen Alter ist während der Therapie eine Kontrazeption empfehlenswert. Eine Schwangerschaft sollte erst sechs Monate nach dem letzten Einnahmezyklus erwogen werden. Da Cladribin das Erbgut schädigen kann, sollten auch männliche Patienten während und sechs Monate nach der Therapie kein Kind zeugen.
Weitere Kontraindikationen sind:
- Überempfindlichkeit gegenüber dem Wirkstoff
- Infektion mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV)
- Aktive chronische Infektion (Tuberkulose oder Hepatitis).
- Akutstadium einer Infektionskrankheit
- Progressive multifokale Leukenzephalopathie in der Vorgeschichte
- Bestehende aktive maligne Erkrankungen (bei Indikation MS)
- Beginn einer Behandlung mit Cladribin-Tabletten bei immungeschwächten Patienten, einschließlich Patienten, die derzeit eine immunsuppressive oder myelosuppressive Therapie erhalten
- Mittelschwere oder schwere Einschränkung der Nierenfunktion
Ausreichende Erfahrungen zur Behandlung im Kindesalter liegen bisher nicht vor. Die Anwendung von Cladribin ist bei dieser Patientengruppe daher kontraindiziert.
Beim Stillen gibt es noch keine gesicherten Ergebnisse. Deshalb darf während der Einnahmephase und bis eine Woche danach nicht gestillt werden.
Toxizität
Bei einer Überdosierung von Cladribin ist vor allem mit einer erheblichen Lymphopenie zu rechnen. Aufgrund der seiner Pharmakokinetik ist Cladribin Maßnahmen der Giftentfernung praktisch nicht zugänglich. Es ist kein spezifisches Antidot bekannt. Alle Maßnahmen haben symptomorientiert zu erfolgen
Zulassung
Zur Behandlung der Haarzellleukämie wurde Cladribin in der EU im Jahr 2004 zugelassen. Die letzte Verlängerung der Zulassung datiert auf das Jahr 2009.
In Russland und Australien wurde Cladribin auch als Medikament für die Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen. Es konnte eine positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufs einer MS nachgewiesen werden. Durch die immunsuppressive Wirkung kam es jedoch auch zu einer höheren Anfälligkeit für bestimmte Virusinfektionen. Auch Malignome traten häufiger auf. Daher wurde der EU-Zulassungsantrag für Cladribin in der MS-Therapie unter dem Namen Movectro® 2011 vom Hersteller zurückgezogen. In Russland und Australien wurde Cladribin als MS-Medikament ebenfalls vom Markt genommen.
Cladribin wurde 2016 auf der Basis weiterer Ergebnisse klinischer Studien erneut bei der EMA zur Zulassung in der Indikation MS eingereicht. Die Zulassung des Wirkstoffs unter dem Namen Mavenclad® erfolgte im August 2017.
ATC-Code
- L04AA40 - selektive Immunsuppressiva
Quellen
- ↑ Mavenclad® (Cladribin-Tabletten): Risiko von schwerwiegenden Leberschäden und neue Empfehlungen zur Überwachung der Leberfunktion. RHB 16.02.2023, abgerufen 23.02.2023
Weblinks
- Mavenclad® 10 mg Tabletten. Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels. EMA, abgerufen: 23.02.2023
- Cladribin. Gelbe Liste Wirkstoffe, abgerufen: 23.02.2023
- Cladribin. PharmaWiki, angerufen: 23.02.2023
- Mavenclad®. Leitfaden für die sichere Anwendung – Patienten. BfArM, abgerufen: 23.02.2023
- Mavenclad®. Leitfaden zur Verringerung von Arzneimittel- und Anwendungsrisiken – Ärztinnen/Ärzte. BfArM, abgerufen: 23.02.2023