Chemosaturation der Leber
Synonyme: Chemosaturation mit perkutaner hepatischer Perfusion der Leber, Chemosaturation mit perkutaner hepatischer Perfusion mit Melphalan, perkutane Chemosaturation der Leber mit Melphalan
Englisch: chemosaturation of the liver, chemosaturation with percutaneous hepatic perfusion, Percutaneous chemosaturation of the liver with melphalan
Definition
Die Chemosaturation der Leber, kurz CS-PHP, ist eine interventionell-radiologische Behandlungsoption für primäre und sekundäre Lebertumore im palliativen Setting und aktuell (2023) Gegenstand klinischer Forschung.
Durchführung
Die Chemosaturation stellt eine Weiterentwicklung der Chemoperfusion dar. Katheterangiographisch wird das Chemotherapeutikum Melphalan direkt in die Leberarterien appliziert. Dies führt zu einer "Sättigung" der meist arteriell versorgten Tumore. Das venöse Blut der Leber wird über einen speziellen Doppelballonkatheter in der Vena cava inferior abgesaugt. Ein spezifisches extrakorporales Filtersystem (Delcath Systems inc. NY, USA) entfernt das Melphalan. Das gereinigte Blut kann über einen jugulären Zugang reinfundiert werden. Durch die Chemosaturation ist so die Applikation einer hohen Dosis von Melphalan (bis zu 3 mg/kgKG, max. 220 mg/Sitzung) möglich, während die systemischen Nebenwirkungen gering gehalten werden.
Die Chemosaturation wird in Vollnarkose und unter Vollheparinisierung (300 IU/kgKG Heparin, Ziel-ACT > 450 s) durchgeführt. Für die extrakorporale Filtration wird eine Rollerpumpe mit Filtersystem benötigt. Schleusen werden in die rechte Arteria femoralis communis (4F), rechte Vena femoralis communis (18F) und rechte Vena jugularis interna (10F und ZVK) platziert. Außerdem wird ein 4F-Katheter im Truncus coeliacus platziert und anschließend ein Mikrokatheter in die entsprechende Leberlappen- bzw. -segmentarterie eingeführt. Hierüber wird Melphalan appliziert. Der spezielle Doppelballonkatheter (Delcath Systems inc. NY, USA) in der Vena cava inferior dient der Isolation der Lebervenen. Dabei wird zunächst der kraniale, dann der kaudale Ballon inflatiert.
Das Blut der unteren Körperhälfte gelangt in der 60 bis 90 Minuten dauernden Prozedur über Kollateralen (Azygos-Hemiazygos-System) zum Herzen. Vor Beginn der Melphalangabe und bei jeder Umpositionierung des arteriellen Katheters muss die Dichtigkeit des Ballons mittels digitaler Subtraktionsangiographie (DSA) verifiziert werden. Weiterhin muss regelmäßig die Form und Lage des Doppelballons beobachtet werden, um eine Dislokation frühzeitig zu erkennen.
Abschließend wird die Heparinisierung mit Protamin antagonisiert. Die gesamte Sitzung dauert durchschnittlich 120 bis 180 Minuten. Der Patient sollte bis zum nächsten Tag auf der Intensivstation überwacht werden. Bei regelrechter Gerinnung werden dann die Schleusen gezogen und der Patient bis zur Entlassung am 3. bis 5. postinterventionellen Tag auf Normalstation verlegt. Zur Prophylaxe eines Tumorlysesyndroms werden postinterventionell 300 mg/d Allopurinol für 3 Tage eingenommen. Als Kontrolle wird eine MRT mit leberspezifischem Kontrastmittel nach 8 Wochen empfohlen. Zeigt sich hier ein Tumorrückgang oder ein stabiler Verlauf, kann eine zweite Sitzung angeboten werden.
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Anwendung
Die Chemosaturation ist in Deutschland aktuell im Rahmen von Studien als individueller Heilversuch anwendbar. Der Entschluss zur Durchführung erfolgt individuell im Rahmen einer interdisziplinären Tumorkonferenz.
Die CS-PHP stellt insbesondere zur Behandlung von hepatisch metastasierten okulären Melanomen und intrahepatischen cholangiozellulären Karzinomen (ICC) ein potentes Verfahren dar. Bezüglich anderer Tumorentitäten ist die Datenlage aktuell nicht ausreichend, um eine fundierte Aussage treffen zu können. Die CS-PHP ist wiederholbar und ist daher möglicherweise eine Langzeit-Therapieoption für einige Patienten.
Häufig geforderte Kriterien sind:
- Hämoglobin > 8 g/dl
- Leukozyten > 2.000/µl
- Thrombozyten > 50.000 - 100.000/µl
- Serumkreatinin < 1,5 mg/dl
- Bilirubin ≤ 3fach der oberen Norm oder < 2,0 mg/dl
- Leberzirrhose maximal im Stadium Child-Pugh A
- Tumormasse < 50 % des Lebervolumens
Nebenwirkungen und Komplikationen
Die CS-PHP kann mit schweren kardiovaskulären Komplikationen, lebensbedrohlichen Blutungen und thrombembolischen Ereignissen assoziiert sein. Therapieassoziierte Todesfälle sind sehr selten (< 1 %). Intraprozedurale hämodynamische Instabilitäten erfordern eine differenzierte Volumen- und Katecholamingabe. Die Antikoagulation während der Prozedur führt in bis zu 30 % zu Blutungskomplikationen (z.B. Hämatome im Bereich der Punktionsstellen, Pseudoaneurysmata, hämorrhagische Magenulzera und Schleimhauthämorrhagien, abdominale Blutungen und zerebrale Hämorrhagien). Durch Überinfusionen und Blutungen können in seltenen Fällen Schwellungen im Bereich des Respirationstraktes auftreten. Die Folgen können eine verzögerte Extubation und eine verlängerte Überwachungspflichtigkeit auf der Intensivstation sein.
Eine der häufigsten Komplikationen ist die Melphalan-induzierte Knochenmarkdepression. Zwar weisen die Filtersysteme der zweiten Generation (2012) eine Melphalanextraktionsrate von 86 % auf, trotzdem sind klinisch relevante Thrombopenien in 87 % der Fälle, schwergradige Anämien bei 40 % und Leukopenien mit 10 % sehr häufig. Meist kommt es zu einer Regeneration innerhalb von 3 Wochen. Trotzdem ist bei ca. 1/4 der Patienten die Gabe von Thrombozyten- und Erythrozytenkonzentraten notwendig.
Außerdem werden postinterventionelle Leberschäden mit Anstieg von Transaminasen und Bilirubin häufig beobachtet.
Kosten
Die Kosten für eine Chemosaturation sind hoch und werden von den vorgesehenen Fallpauschalen des DRG-Systems nicht gedeckt. Die Kodierung nach OPS-Katalog erfolgt als "Perkutane geschlossene Organperfusion mit Chemotherapeutika mit externem Blutfilter“ (8–549.01). Die Kosten einer Therapiesitzung betragen inkl. Material- und Personalkosten und einem Tag Aufenthalt auf der Intensivstation ungefähr 30. 000 €. Sie werden von den Krankenkassen aufgrund bisher fehlender Leitlinienempfehlung nicht generell übernommen. Bei Fehlen alternativer Behandlungsansätze ist die Beantragung einer Kostenübernahme vor Therapiebeginn mit einer adäquaten Begründung und einem eindeutigen Statement eines interdisziplinären Tumorboards möglich.
Klinische Studien
Hepatisch metastasierte okuläre Melanome
Lebermetastasen bei okulären Melanomen sollten chirurgisch reseziert werden, sofern eine R0-Resektion möglich ist. Adjuvante Verfahren werden derzeit nicht empfohlen. Das mediane Gesamtüberleben (OS) bei okulären Melanomen mit Lebermetastasierung beträgt etwa 8 Monate ab Diagnosestellung. Optionen der Systemtherapie sind limitiert. Immuncheckpoint-Inhibitoren erhöhen das OS nur auf 10 Monate. Andere transarterielle Verfahren, wie die selektive interne Radiotherapie (SIRT) oder die transarterielle Chemoembolisation (TACE), gelten als sicher und führen zu einem mittleren OS von 8 - 19 Monaten bzw. 4 - 9 Monaten. Bisherige Studien zeigen für CS-PHP ein mittleres Überleben von ca. 10 bis 17 Monaten und ein medianes hepatisch-progressfreies Überleben (hPFS) von 6 bis 9 Monaten.
Aktuell (2023) läuft eine randomisierte Phase-I/II-Studie zur Effektivität, Sicherheit und Wirksamkeit der Chemosaturation in Kombination mit Ipilimumab/Nivolumab versus alleinige Chemosaturation (NCT04 283 890) sowie eine multizentrische Phase-III-Studie (FOCUS) zu CS-PHP bei okulären Melanomen (NCT02 678 572).
Intrahepatisches cholangiozelluläres Karzinom
Die einzige kurative Behandlung des ICC ist die Resektion, die jedoch nur bei 10 bis 35 % der Patienten möglich ist. Die Möglichkeiten der Systemtherapie sind limitiert (Gemcitabine und Cisplatin sowie FOLFOX als Zweitlinie). Ab Versagen der Zweitlinie kann die Chemosaturation angeboten werden. SIRT und TACE scheinen eine Rolle im Rahmen von neoadjuvanten Konzepten oder multimodalen Therapien zu spielen.
Angaben zum OS nach Chemosaturation schwanken zwischen 8 Monaten und 3,7 Jahren. Aktuell (2023) läuft eine multizentrische Phase-III-Studie zur Effektivität, Sicherheit und Pharmakokinetik im Vergleich Chemosaturation nach Systemtherapie mit Cisplatin/Gemcitabine versus alleinige Systemtherapie mit Cisplatin/Gemcitabine (NCT03 086 993).
Andere Tumorentitäten
Die Datenlage zu anderen Tumorentitäten ist gering. Vereinzelte Chemosaturationen wurden bei Lebermetastasen, bei kolorektalem Karzinom, Pankreaskarzinom, kutanen Melanomen, Mammakarzinom und bei hepatozellulären Karzinomen durchgeführt.