Louis-Bar-Syndrom
nach der belgischen Neuropsychiaterin Denise Louis-Bar (1914-1999)
Synonyme: Ataxia teleangiectatica, Ataxia telangiectasia, Teleangiektasie-Ataxie-Syndrom, Boder-Sedgwick-Syndrom
Englisch: Louis-Bar syndrome, ataxia teleangiectasia
Definition
Das Louis-Bar-Syndrom ist eine seltene neurodegenerative Erkrankung, die zu den Phakomatosen zählt und sich bereits im Kindesalter manifestiert.
In der Neurologie wird die Erkrankung auch in die Gruppe der Heredoataxien eingeordnet. Sie betrifft in erster Linie das Kleinhirn und ist mit einer Immunschwäche assoziiert.
Geschichte
Die Ataxia teleangiectatica wurde erstmalig 1941 von der belgischen Pädiaterin Denise Louis-Bar beschrieben.[1] Weitere frühe Fallbeschriebungen erfolgten 1958 durch Boder und Sedgwick[2], welche auch den Begriff der Ataxia teleangiectatica prägten. Das für die Erkrankung verantwortliche ATM-Gen wurde erst 1995 entdeckt.[3]
Epidemiologie
Es handelt sich um eine sehr seltene Erkrankung. Die durchschnittliche weltweite Prävalenz des Louis-Bar-Syndroms wird mit 1,8/100.000 angegeben.[4] Die Erkrankung beginnt typischerweise im Alter von 1 bis 2 Jahren.
Genetik
Das Louis-Bar-Syndrom wird autosomal-rezessiv vererbt. Ursächlich sind Defektmutationen im Gen ATM, das auf dem langen Arm von Chromosom 11 an Genlokus 11q22-23 liegt und für eine Serin/Threonin-Kinase kodiert. In der Literatur sind zahlreiche verschiedene Mutationen des Gens beschrieben. Eine Compound-Heterozygotie ist dementsprechend auch nicht unüblich. Grundsätzlich sind zwei Arten von Mutationen zu unterscheiden:[5]
- Mutationen mit vollständigem Funktionsverlust (häufiger) führen zum Vollbild der Erkrankung mit Beginn im Kleinkindalter. Dabei handelt es sich zumeist um Frameshift- oder Nonsense-Mutationen mit deutlich trunkiertem Genprodukt.
- Mutationen mit Kinase-Restfunktion (seltener) bedingen eine mildere Verlaufsform mit späterem Symptombeginn. Diese Form findet sich z.B. bei einigen Missense- bzw. Inframe-Mutationen oder Spleißmutationen
Pathogenese
ATM phosphoryliert über 100 verschiedene Proteine in unterschiedlichen zellulären Signalwegen. Pathologisch bedeutsam ist die Beteiligung des Enzyms an der Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen. Wird ein solcher Bruch durch den MRN-Proteinkomplex entdeckt, wird ATM rekrutiert, um durch Aktivierung von p53 einen Zellzyklusarrest auszulösen. Ferner phosphoryliert ATM Pif1, das eine Hemmung der Telomerase bewirkt, sodass letztere keine Telomermotive an die Bruchstrangenden anfügt.[6]
Fehlt das ATM-Protein bzw. seine Kinasefunktion, kommt es zu einer Anhäufung von DNA-Schäden. Dies führt entweder zur genomischen Instabilität oder zur Apoptose der Zellen. Folgen sind:[5]
- erhöhtes Risiko maligner Transformationen, insb. bei Strahlenexposition, da ionisierende Strahlung häufig Doppelstrangbrüche verursacht
- vorzeitige Alterungsprozesse (Progerie)
- Lymphozytendysfunktion und -entartung (Lymphome), da bei der V(D)J-Rekombination ein besonders hohes Risiko für Doppelstrangbrüche besteht. Durch fehlende Reparatur dieser Brüche gehen die Lymphozyten entweder unter oder entarten.
ATM besitzt auch noch weitere Funktionen, z.B. ist es in die Signalwege des Insulinrezeptors eingebunden[7], was das Auftreten von insulinresistentem Diabetes in einigen AT-Fällen erklären könnte. Die Entstehung der Neurodegeneration, welche v.a. Purkinje- und Körnerzellen des Cerebellums betrifft, und die Genese der Teleangiektasien sind bislang (2023) unklar.
Klinik
Die Ataxia teleangiectatica ist eine Multisystemerkrankung, was zu einem komplexen Symptombild führt.
Neurologische Symptome
Das Louis-Bar-Syndrom ist vor allem durch neurologische Ausfälle geprägt. Hauptbefund ist eine zerebelläre Ataxie. Sie beginnt typischerweise mit 1-2 Jahren (bei milderen Mutationen später), und scheint zunächst statisch. Ab etwa dem Grundschulalter progrediert sie stark, um sich dann mit etwa 12 bis 15 Jahren zu stabilisieren.[5] Initial fällt vor allem eine Rumpfataxie auf, wobei die Kinder im Sitzen eine Kippneigung aufweisen. Mit dem Erlernen des aufrechten Gangs zeigt sich dann auch eine Gangataxie. Das Kind beginnt oft später mit dem Gehen als gesunde Kinder. Da eine Fallneigung besteht, stützt es sich beim Gehen an Personen oder Gegenständen ab. Ab dem 2. Lebensjahrzehnt sind die Betroffenen in der Regel auf einen Rollstuhl angewiesen. Ferner sind eine Dysarthrie und Extremitätenataxie möglich.
Begleitend zur Ataxie können weitere neurologische Störungen auftreten:[5][8]
- Basalganglionäre Störungen
- Hyperkinesien, insbesondere Chorea und/oder Athetose (bei milden Verlaufsformen oft der Ataxie vorausgehend), seltener Myoklonien, verschiedene Formen eines Tremors
- Hypokinesie, z.B. als Hypomimie
- Dystonien (ca. 50% der Fälle)
- leichte Polyneuropathie (meist ab etwa 10. Lebensjahr), dies kann die Ataxie um eine sensorische Komponente erweitern
- verzögerte geistige Entwicklung (30% der Fälle)
- die Sprachentwicklung verläuft nur in der ersten Lebensdekade progressiv, danach verschlechtert sich das Sprachvermögen wieder
- Unterentwicklung kognitiver Funktionen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen
- Demenz im späteren Verlauf
Teleangiektasien
Im Alter zwischen 3 und 7 Jahren treten oft Teleangiektasien auf. Deren Fehlen schließt die Erkrankung jedoch nicht aus. Typische Lokalisationen sind:
- Conjunctiva bulbi
- Schleimhäute, z.B. enoral
- lichtexponierte Hautareale, z.B. Ohren, Gesicht
Immunologische Symptome
Zwischen 50 und 70% der Patienten weisen eine primäre, kombinierte B- und T-Zell-Immundefizienz auf. Häufig kommt es bereits im Alter von 3-6 Jahren zu rezidivierenden Atemwegsinfektionen (Bronchitis, Sinusitis), die bei unzureichender Behandlung zur Bildung von Bronchiektasen oder einer Lungenfibrose führen können. Impfwirkungen sind deutlich reduziert, Lebendimpfungen können zu schweren Nebenwirkungen führen. Seltener kommt es durch die Immundefizienz zur ausgeprägten kutanen Granulombildung.
Zusätzlich besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen, insb. einer ITP oder einer Vitiligo.
Malignome
Etwa 25% der AT-Patienten entwickeln im Laufe ihres Lebens ein Malignom.[9] Während sich im Kindes- und Jugendalter nahezu ausschließlich Lymphome und akute Leukämien (v.a. als ALL) finden, können im Erwachsenenalter zusätzlich verschiedene solide Tumoren auftreten, vor allem Mammakarzinome.[10]
Patienten mit Louis-Bar-Syndrom sehr strahlenempfindlich, ionisierende Strahlung erhöht das Risiko für Malignome übermäßig stark. Röntgenuntersuchungen und Bestrahlungstherapien sollten daher vermieden werden.
Weitere Symptome
Zusätzliche Symptome sind:
- Progerie, insbesondere mit beschleunigter Hautalterung und vorzeitigem Ergrauen der Haare
- präpubertäre Wachstumsretardierung
- Gonadendysgenesie mit Pubertas tarda, Climacterium praecox und Sterilität (nahezu 100%)
- insulinresistenter Diabetes mellitus (eher selten)
Diagnostik
Die Diagnosestellung gelingt durch einen Nachweis der herabgesetzten ATM-Konzentrationen bzw. Kinaseaktivität in Lymphozyten oder durch molekulargenetischen Nachweis einer ATM-Mutation.
Diagnostische Hinweise sind:
- Kleinhirnatrophie im cMRT
- dauerhaft erhöhte AFP-Werte
- Hypogammaglobulinämie (z.T. aber mit erhöhtem IgM, ähnlich einem Hyper-IgM-Syndrom)
- Lymphopenie
- spontane chromosomale Translokationen (vor allem t7;14) in Lymphozytenkulturen
- erhöhte Röntgenstrahlensensibilität von Lymphozytenkulturen (verminderte Zellzahlen, chromosomale Aberrationen)
Therapie
Die Therapie ist zur Zeit (2023) rein symptomatisch. Das wichtigste Element der Therapie ist die Behandlung der Atemwegsinfekte durch den Einsatz von Antibiotika. Daneben kommen zur Unterstützung des Immunsystems Immunglobuline und Immunisierungen mit Totimpfstoffen zum Einsatz.
Bei der experimentellen Behandlung mit Stammzellen kam es zu einem Auftreten von Tumoren.
Prognose
Die mittlere Lebenserwartung liegt bei 19 bis 25 Jahren, wobei eine hohe Spannweite besteht.[11] Die wichtigsten Todesursachen (jeweils ca. 1/3 der Fälle) sind pulmonale Komplikationen, die durch die rezidivierenden Atemwegsinfekte ausgelöst werden, sowie Malignome.
Einzelnachweise
- ↑ Louis-Bar, Denise: "Sur un syndrome progressif comprenant des télangiectasies capillaires cutanées et conjonctivales symétriques, à disposition naevoïde et des troubles cérébelleux" Confinia Neurologica, 1941
- ↑ Boder, Sedgwick: "Ataxia-telangiectasia; a familial syndrome of progressive cerebellar ataxia, oculocutaneous telangiectasia and frequent pulmonary infection" Pediatrics, 1958
- ↑ Savitsky K, et al.: "A single ataxia telangiectasia gene with a product similar to PI-3 kinase" Science, 1995.
- ↑ Rouano et al.: "The Global Epidemiology of Hereditary Ataxia and Spastic Paraplegia: A Systematic Review of Prevalence Studies" Neuroepidemiology, 2014
- ↑ 5,0 5,1 5,2 5,3 Rothblum-Oviatt, et al.: "Ataxia telangiectasia: a review" Orphanet Journal of Rare Diseases, 2016.
- ↑ Heinrich, Müller, Gräve (Hrsg.): "Löffler/Petrides: Biochemie und Pathobiochemie". 9. Auflage. Springer Verlag, 2014. Seite 565f.
- ↑ Yang DQ, Kastan MB.: "Participation of ATM in insulin signalling through phosphorylation of eIF-4E-binding protein 1". Nature Cell Biology, 2000
- ↑ Hufschmidt A, Rauer S, Glocker F (Hrsg.): "Neurologie compact" 9., vollständig überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2022.
- ↑ Suarez F, et al.: "Incidence, presentation, and prognosis of malignancies in ataxia-telangiectasia: a report from the French national registry of primary immune deficiencies" Journal of Clinical Oncology, 2015
- ↑ Reiman A, et al.: "Lymphoid tumours and breast cancer in ataxia telangiectasia; substantial protective effect of residual ATM kinase activity against childhood tumours" British Journal of Cancer, 2011
- ↑ Crawford TO, Skolasky RL, Fernandez R, Rosquist KJ, Lederman HM.: "Survival probability in ataxia telangiectasia" Archives of Disease in Childhood, 2006