Distale Radiusfraktur
Englisch: distal radius fracture
Definition
Unter der distalen Radiusfraktur, kurz DRF, versteht man einen Knochenbruch, der maximal drei Zentimeter proximal des Handgelenks lokalisiert ist.
- ICD10-Code: S52.5-
Epidemiologie
Ätiopathogenese
Die distale Radiusfraktur kann durch indirekte und direkte Gewalteinwirkung hervorgerufen werden. Am häufigsten ist die direkte Gewalteinwirkung durch einen Sturz auf die Hand.
Einteilung
...nach Unfallhergang
- Extensionsfraktur: Sturz auf dorsalextendierte Hand (Abstützbewegung), mit ca. 20 % häufigste Form; z.B. Colles-Fraktur, Barton-Fraktur
- Flexionsfraktur: Sturz auf die palmarflektierte Hand; z.B. Smith-Fraktur, Reversed-Barton-Fraktur
- Kompressionsfraktur: vertikale Krafteinwirkung; z.B. Punch-Fraktur
...nach AO-Klassifikation
Nach der aktuellen AO-Klassifikation zählt die distale Radiusfraktur zur Regio 2R3.[2] Weiterhin wird unterschieden zwischen extraartikulären, partiell-artikulären und intraartikulären Frakturen. 50 % der distalen Radiusfrakturen sind intraartikulär.
Fraktur | Komplexität |
---|---|
A: Extraartikuläre Fraktur |
|
B: Partiell-artikuläre Fraktur |
|
C: Artikuläre Fraktur |
|
Sonderformen
- Colles-Fraktur: extraartikuläre Fraktion mit Dislokation des distalen Fragments nach dorsal und radial, typische Extensionsfraktur
- Barton-Fraktur: partiell-artikuläre Fraktur mit dorsalem Kantenfragment, typische Extensionsfraktur
- Smith-Fraktur: extraartikuläre Fraktur mit Dislokation des distalen Fragments nach palmar und radial, typische Flexionsfraktur
- Reversed-Barton-Fraktur: partiell-artikuläre Fraktur mit palmarem Kantenfragment, typische Flexionsfraktur
- Punch-Fraktur: intraartikuläre Fraktur mit Sprengung der intermediären, krafttragenden Säule im Bereich der Fossa lunata radii, typische Kompressionsfraktur
- Chauffeur-Fraktur: intraartikuläre Fraktur mit Absplittern des Processus styloideus radii durch direktes Trauma oder forcierte Dorsalextension mit Radialabduktion
Die Galeazzi-Fraktur zählt nicht zu den distalen Radiusfrakturen, sondern zu den Radiusschaftfrakturen.
Klinik
Typische Symptome der distalen Radiusfraktur sind:
- Weichteilschwellung bzw. Hämatom
- Druckschmerz
- Bewegungseinschränkung im Handgelenk
- ggf. Fehlstellung nach dorsal (Fourchette-Stellung) und/oder radial (Bajonett-Stellung) bei einer Extensionfraktur
- ggf. Abknickung nach palmar bei einer Flexionsfraktur
Begleitverletzungen
Bei einer distalen Radiusfraktur sind diverse Begleitverletzungen möglich, z.B.:
- Kahnbeinfraktur
- Bandrupturen: SL-Band (30 % d.F.), LT-Band (15 %)
- Luxationen der Handwurzelknochen
- Abrissfraktur des Processus styloideus ulnae
- Verletzung des ulnokarpalen Komplexes (TFCC) (40 %)
- Verletzungen von Nerven (z.B. Nervus medianus), Arterien (z.B. Arteria radialis) oder Sehnen
- Kompartmentsyndrom
Diagnostik
Der Unfallhergang sowie die Klinik weist häufig schon auf die Diagnose hin. Im Rahmen der klinischen Untersuchung sollten periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität (pDMS) überprüft werden.
Die Diagnosesicherung erfolgt anhand von Röntgenbildern in zwei Ebenen (p.a. und streng seitlich, wobei das distale Unterarmdrittel komplett abgebildet sein sollte):
- Nachweis einer Frakturlinie und Beurteilung des Frakturverlaufs
- Messung des Böhler-Winkels des distalen Radius:
- Böhler-I-Winkel (radioulnare Inklination): Normwert ca. 20 - 25°
- Böhler-II-Winkel (palmare Inklination): Normwert ca. 10 - 15°
- Instabilitätskriterien überprüfen: z.B. relative Verlängerung der Ulna über 4 mm, dislozierte Kantenfragmente, radioulnare Dissoziation, Böhler-I-Winkel < 10°
Je nach Situation können weitergehende diagnostische Methoden notwendig sein:
- weitere Röntgenaufnahmen
- Computertomographie: präoperativ bei komplexer Gelenkfraktur oder Verdacht auf eine Kahnbeinfraktur
- Magnetresonanztomographie: bei Verdacht auf Läsionen von Bändern oder Knorpel
- Arthroskopie: bei Verdacht auf eine SL-Bandruptur oder Verletzungen des TFCC-Komplexes
Differenzialdiagnosen
- Distorsion oder Prellung des distalen Radius
- Schaftfraktur des Radius oder der Ulna
- Luxationsfrakturen (z.B. Monteggia-Fraktur)
- aktivierte Handgelenksarthrose
- isolierte karpale Verletzungen (z.B. Kahnbeinfraktur, skapholunäre Dissoziation)
- isolierte Verletzung des TFCC
Therapie
Neben einer initialen schmerzadaptierten Analgesie sowie einer Hochlagerung und Kühlung der betroffenen Extremität sollte eine Ruhigstellung mittels Unterarmschiene erfolgen. Nach Diagnosesicherung ergeben sich je nach Situation konservative oder operative Therapiemöglichkeiten.
Konservative Therapie
Eine konservative Therapie kann im ambulanten Setting erfolgen
- primär bei nicht dislozierten stabilen Frakturen
- sekundär nach geschlossener Reposition bei stabilen Frakturen oder
- bei Kontraindikationen gegen eine Operation.
Dabei wird unter Fortführung der Analgesie und regelmäßigen Verlaufskontrollen eine Ruhigstellung im fixierenden Unterarmverband für 4 bis 6 Wochen empfohlen. Nach ungefähr drei Monaten ist bei unkompliziertem Verlauf mit einer uneingeschränkten Belastbarkeit zu rechnen.
Reposition
Bei allen dislozierten Frakturen, die nicht notfallmäßig operiert werden müssen, sollte frühzeitig eine geschlossene Reposition durchgeführt werden. Dabei sind mehrfache Versuche zu vermeiden, da hierdurch das Risiko für ein komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) ansteigt. Unter intravenöser Analgesie, Bruchspalt-, Regionalanästhesie oder Kurznarkose erfolgt die Reposition mittels manuellem Zug. Eine Person fixiert den abduzierten Oberarm in 90°-Flexion im Ellenbogengelenk, wobei der Unterarm flach auf der Unterlage liegen soll. Die andere Person reponiert unter Zug an der Hand und mit Daumendruck auf das distale Radiusfragment.
Alternativ kann die Hand für 15 Minuten über Mädchenfänger aufgehangen werden. Anschließend erfolgt eine Reposition durch Daumendruck auf das distale Radiusfragment.
Nach erfolgter Reposition wird ein fixierter Unterarmverband angelegt und eine Röntgenkontrolle durchgeführt. Im Verband sollte optimalerweise eine Handgelenksextension von 20 bis 30° vorliegen. Des Weiteren sollte der Verband palmar bis an die Beugefalte, dorsal bis auf Höhe der Fingergrundgelenke reichen.
Operative Therapie
Eine Operation ist notfallmäßig indiziert bei:
- offener Fraktur oder Trümmerfraktur
- massivem Weichteilschaden
- Kompartmentsyndrom
- begleitenden Gefäß- oder Nervenverletzungen
- nicht reponierbarer Fehlstellung
Des Weiteren sollte am Unfall- oder Folgetag bzw. sekundär 5 bis 7 Tage nach einer geschlossenen Reposition eine operative Therapie erfolgen bei:
- dislozierten intraartikulären Frakturen
- dislozierten Flexionsfrakturen
- sekundärer Dislokation bzw. Versagen der konservativen Therapie
- ggf. bei Begleitverletzungen mit Indikation zur Operation, bei Osteoporose oder Patientenwunsch
In der Regel ist hierfür eine stationäre Aufnahme für ca. 2 Tage notwendig. Je nach Verfahren erfolgt postoperativ eine Ruhigstellung, z.B. in dorsaler Unterarmgipsschiene.
Spickdrahtosteosynthese
Die Spickdraht- bzw. Kirschner-Draht-Osteosynthese ist indiziert bei extraartikulären Frakturen ohne große Trümmerzone bei guter Knochenqualität, d.h. insbesondere bei Kindern.
Nach Reposition unter Röntgenkontrolle werden meist zwei Kirschner-Drähte perkutan oder über eine Stichinzision in einem Winkel von 30 bis 45° zur Radiuslängsachse implantiert und in der Gegenkortikalis verankert. Nach einer Gipsruhigstellung und regelmäßigen Nachkontrollen kann das Material nach 4 bis 6 Wochen entfernt werden.
Spezifische Risiken der Spickdrahtosteosynthese sind eine Schädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis sowie eine Drahtwanderung, insbesondere bei zu schnellem Einbringen der Kirschner-Drähte.
Schraubenosteosynthese
Die Schraubenosteosynthese wird insbesondere bei Frakturen des Processus styloideus radii angewendet. Der Zugang erfolgt über eine ca. 3 cm lange radiale Längsinzision über dem Processus. Das restliche Vorgehen ähnelt der Spickdrahtosteosynthese, wobei mindestens ein Kirschner-Draht überbohrt und durch kanülierte Zugschrauben ersetzt wird.
Postoperativ können frühfunktionelle Übungen ohne Belastung durchgeführt werden (übungsstabil). Ab der vierten Woche kann mit dem Belastungsaufbau begonnen werden, ab der 8. Woche ist mit einer uneingeschränkte Bewegung und Belastung zu rechnen. Nach erfolgter Konsolidierung der Frakturenden kann das Material entfernt werden.
Als spezifische Risiken dieses Verfahrens sind die Schädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis sowie der Sehen des Musculus abductor pollicis longus und Musculus extensor pollicis brevis zu beachten.
Plattenosteosynthese
Die Plattenosteosynthese erfolgt i.d.R. mit einer winkelstabilen Platte. Dabei unterscheidet man eine palmare von einer dorsalen Plattenosteosynthese. Erstere wird sehr häufig eingesetzt, z.B. bei Flexionsfrakturen, aber auch bei komplexeren Extensionsfrakturen. In der Regel ist postoperativ eine frühfunktionelle Behandlung ohne Belastung möglich (übungsstabil) und eine Materialentfernung nicht notwendig. Die restliche Nachsorge gleicht der einer Schraubenosteosynthese.
Fixateur externe
Bei einem ausgedehnten Weichteilschaden, offenen oder infizierten Frakturen bzw. bei Polytrauma kann temporär oder als definitive Versorgung ein Fixateur externe notwendig sein.
Prognose
Literatur
- Dresing K et al. AWMF S2e-Leitlinie Distale Radiusfraktur, 02.2015, abgerufen am 22.11.2019
Quellen
- ↑ O'Neill TW et al. Incidence of Distal Forearm Fracture in British Men and Women, Osteoporosis International, August 2001, Volume 12, Issue 7, pp 555–558, abgerufen am 22.11.2019
- ↑ Meinberg EG et al. Fracture and Dislocation Classification Compendium—2018, Journal of Orthopaedic Trauma, 32():S1–S10, January 2018, abgerufen am 22.11.2019
- ↑ Wichelhaus A et al. Die distale Radiusfraktur, Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2012; 7(4): 251-271, abgerufen am 22.11.2019
um diese Funktion zu nutzen.