Scapulafraktur
Synonym: Skapulafraktur
Englisch: scapula fracture
Ätiopathogenese
Scapulafrakturen entstehen meist durch direkte Krafteinwirkung im Rahmen eines hochenergetischen Traumas. Verkehrsunfälle sind mit ca. 70 % der Fälle die häufigste Ursache. Seltene Ursachen sind indirekte Krafteinwirkungen durch einen Sturz auf die ausgestreckte Hand oder eine nicht-akzidentelle Verletzung im Rahmen einer Kindesmisshandlung.
Epidemiologie
Von einer Scapulafraktur sind häufiger Männer zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr betroffen. Sie macht ca. 0,5 % aller Frakturen und 3 bis 5 % aller Frakturen des Schultergürtels aus.
Aufgrund des typischen Unfallmechanismus finden sich in 80 bis 90 % der Fälle signifikante Begleitverletzungen:
- Pneumothorax (15 bis 50 %)
- Rippenfrakturen (15 bis 50 %)
- Lungenkontusion (15 bis 50 %)
- arterielle Gefäßverletzungen (10 %)
- Schädel-Hirn-Trauma (40 %)
- Claviculafrakturen (25 bis 35 %)
- Armplexusläsion (5 bis 10 %): schlechte Prognose, in diesem Fall liegt in 50 % der Fälle eine arterielle Gefäßverletzung vor
- Verletzung des Nervus suprascapularis: bei Frakturausdehnung in die Incisura scapulae oder Incisura spinoglenoidalis.
Sind mindestes zwei Strukturen des sogenannnten Superior Shoulder Suspensory Complex (SSSC) betroffen, liegt eine instabile "Floating Shoulder" vor. Als SSSC werden drei Strukturen zusammengefasst:
- AC-Gelenk mit distaler Clavicula
- Ligamentum coracoclaviculare mit Processus coracoideus
- laterale Scapula mit medialen Glenoid
Klassifikation
...nach Lokalisation
Je nach Lokalisation der Fraktur unterscheidet man:
- Korpusfraktur (50 bis 85 %): Frakturen des Scapulablattes ("Corpus scapulae"). Meist durch schweres Trauma.
- Kollumfraktur: Frakturen des Collum scapulae. Kann zu einer inferioren Dislokation des lateralen Fragments (Cavitas glenoidalis) führen.
- Glenoidfraktur: intraartikuläre Fraktur der Cavitas glenoidalis. Meist sekundär bei Schulterinstabilität
- Fraktur des Akromions oder des Processus coracoideus: direktes Trauma oder Avulsionsfraktur
- Fraktur der Spina scapulae: meist durch direktes Trauma
...nach Zdravkovic und Damholt
Die Klassifikation nach Zdravkovic und Damholt unterscheidet zwischen drei Formen der Scapulafraktur:
- Typ I: Korpusfraktur
- Typ II: Fraktur des Processus coracoideus und des Akromions
- Typ III: Kollum- und Glenoidfraktur (6 % d.F.)
...nach Thompson
Die Thompson-Klassifikation differenziert zwischen drei Formen, wobei die ersten beiden Formen häufiger mit Begleitverletzungen assoziiert sind:
- Typ I: Fraktur des Processus coracoideus oder des Akromions sowie kleine Korpusfrakturen
- Typ II: Kollum- und Glenoidfrakturen
- Typ III: große Korpusfrakturen
...nach Kuhn
Die Kuhn-Klassifikation dient der Einteilung von Akromionfrakturen:
- Typ I: gering disloziert
- Typ II: disloziert aber keine Verschmälerung des Subakromialraums
- Typ III: disloziert und subacromiale Verschmälerung
...nach Ideberg
Die Ideberg-Klassifikation dient der Einteilung von intraartikulären Glenoidfrakturen:
- Typ I: Randfraktur
- Typ Ia: vordere Randfraktur
- Typ Ib: hintere Randfraktur
- Typ II: horizontale Glenoidfraktur. Ausdehnung zur lateralen Grenze der Scapula. Das inferiore Fragment ist mit dem Humeruskopf disloziert.
- Typ III: schräge Glenoidfraktur. Ausdehnung in superiore Grenze der Scapula. Oft mit ACG-Luxation oder Fraktur assoziiert.
- Typ IV: Horizontale Fraktur, die die Scapula vom Glenoid ausgehend durchquert und am medialen Scapularand austritt.
- Typ V:
- Typ Va: Typ IV + II
- Typ Vb: Typ IV + III
- Typ Vc: Typ IV + III + II
- Typ VI: schwere Trümmerfraktur der glenoidalen Gelenkfläche
...von Kollumfrakturen
- stabil: keine Claviculafraktur oder ACG-Luxation
- instabil: assoziierte Claviculafraktur oder ACG-Luxation
...von Frakturen des Processus coracoideus
- proximal des Ligamentum coracoclaviculare
- distal des Ligamentum coracoclaviculare
Klinik
Scapulafrakturen präsentieren sich klinisch durch Schmerzen, Bewegungseinschränkung und ein meist nur moderat ausgeprägtes Hämatom. Häufig findet sich eine deformierte Kontur der Schulter (abgeflachte Schulter mit prominentem Akromion). Der Arm wird meist in Adduktion gehalten.
Wichtig ist es im Rahmen der Erstuntersuchung die oben erwähnten Begleitverletzungen zu erfassen.
Diagnostik
Konventionelles Röntgen
Initial werden Röntgenaufnahmen der Scapula angefertigt. Empfohlen werden
Frakturen der Scapula sind als Aufhellungslinien erkennbar. Die axiale Aufnahme hilft bei der Beurteilung des Collums und des Glenoidrands. Eine Verlagerung des Schultergelenks nach medial ist insbesondere bei mediolateraler Angulation der a.p.-Aufnahme um 30° erkennbar.
Computertomographie
Die Computertomographie (CT) ist deutlich sensitiver für nicht-dislozierte Frakturen. Sie wird insbesondere in unklaren Fällen oder zur Beurteilung einer Gelenkbeteiligung durchgeführt. Dreidimensionale Rekonstruktionen helfen bei der Operationsplanung.
Magnetresonanztomographie
Die Magnetresonanztomographie (MRT) wird nur bei speziellen Fragestellungen durchgeführt, z.B. zur Darstellung assoziierter Band-, Muskel- oder Plexusverletzungen. Sie zeigt folgende Befunde:
- T1w: signalarme Frakturlinie, signalarmes Knochenmarködem
- T2w-FS: signalarme Frakturlinie, signalangehobenes Knochenmarködem. Signalangehobene Darstellung der umgebenden Muskulatur.
Differenzialdiagnosen
Klinische Differenzialdiagnosen sind:
- proximale Humerusfraktur: ähnlicher Verletzungsmechanismus und ähnliche Klinik. Meist deutlichere Schwellung und Hämatom.
- Schultergelenkluxation
- osteochondrale Verletzung des Glenoids
Radiologisch müssen folgende Differenzialdiagnosen berücksichtigt werden:
- Os acromiale: Anatomische Normvariante, die eine fibrokartilaginäre Verbindung zwischen Akromion und Spina scapulae darstellt. 2 bis 8 % der Bevölkerung weisen ein Os acromiale auf, in 66 % tritt es bilateral auf. Kann zur Entwicklung von Schulterimpingement und Rotatorenmanschettenrupturen beitragen.
- Hypoplasie des Glenoids: Dabei handelt es sich um eine Normvariante. Ist mit multidirektionaler Instabilität sowie mit posteriorer Instabilität und Labrumläsionen assoziiert.
- Nicht-fusionierte Apophysen:
- Die Apophyse des Akromions verschmilzt mit 25 bis 30 Jahren.
- Das Ossifikationszentrum der Korakoidbasis fusioniert mit 14 bis 16 Jahren. Die Epiphyse erstreckt sich über das obere Drittel des Glenoids.
- Korakoidspitze und sichelförmiges Ossifikationszentrum der medialen Basis fusionieren im 18. bis 25. Lebensjahr
- Angulus inferior und Margo medialis fusionieren im 20. bis 25. Lebensjahr
Therapie
Die Therapie einer Scapulafraktur muss abhängig von Art und Ausmaß der Fraktur konservativ durch Anlage funktioneller Verbände bzw. Orthesen oder operativ durch eine Osteosynthese erfolgen.
Konservative Therapie
90 % der Scapulafrakturen sind nicht oder nur minimal disloziert und können konservativ behandelt werden. Dabei erfolgt eine Ruhigstellung im Desault-Verband. Diese sollte jedoch so kurz wie möglich (wenige Tage) erfolgen, um dann mit aktiver Mobilisierung des Gelenks zu beginnen. Ansonsten droht eine Schultersteife.
Bei Kollumfrakturen können Abduktionsorthesen und Gipsverbände zur initialen Ruhigstellung verwendet werden. Auch hierbei sollte eine frühzeitige aktive Mobilisierung angestrebt werden.
Operative Therapie
Ein operatives Vorgehen erfolgt unter anderem bei:
- intraartikulären Frakturen mit > 3 bis 10 mm Dislokation oder Beteiligung von > 25 bis 35 % der Gelenkfläche
- extraartikulären Frakturen mit deutlicher Dislokation:
- schwere Trümmerfraktur
- deutlich verschobene Frakturen der Spina scapulae, des Korakoids oder Akromions
- Kollumfrakturen: > 1 cm Dislokation oder 40° Angulation
- Kollumfraktur und Claviculafraktur (Floating Shoulder)
Je nach befallenem Gebiet erfolgt eine Schraubenosteosynthese (z.B. bei Glenoidfrakturen), Zuggurtungsosteosynthese (z.B. bei Kollumfrakturen) oder Plattenosteosynthese (z.B. bei Corpusfrakturen).
Prognose
Komplexe Scapulafrakturen zeigen häufig einen langwierigen Heilungsverlauf. Der Therapieerfolg wird entscheidend aus dem Zusammenspiel von Behandlung der Fraktur und Physiotherapie beeinflusst. Residuen mit funktioneller Beeinträchtigung sind nicht selten.
Aufgrund der häufigen Begleitverletzungen beträgt die Mortalitätsrate 10 bis 15 %.
Peer-Review durch Bijan Fink |
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