Akutes Nierenversagen
Synonym: Akute Nierenschädigung, akute Niereninsuffizienz
Abkürzung: ANV
Englisch: acute kidney injury, acute kidney impairment (AKI)
Definition
Als akutes Nierenversagen oder akute Nierenschädigung, kurz ANV oder AKI, wird eine Form der Niereninsuffizienz bezeichnet, die sich durch eine schnelle Abnahme der Nierenfunktion bei prinzipieller Reversibilität der Nierenschädigung auszeichnet. Die Dauer eines akuten Nierenversagens schwankt zwischen einigen Stunden und mehreren Wochen.
Nomenklatur
In der Leitlinie der internationalen Organisation KDIGO (Kidney Disease - Improving Global Outcomes) wurden die Begriffe "akutes Nierenversagen" und akute Nierenschädigung unter der akuten Nierenschädigung ("Acute Kidney Injury/Impairment, AKI") zusammengeführt, um das breite Spektrum von milden, reversiblen Veränderungen der Nierenfunktion bis hin zur Notwendigkeit eines Nierenersatzverfahrens abzudecken.[1] Im deutschsprachigen klinischen Umfeld findet der Begriff "akutes Nierenversagen" weiterhin verbreitet Anwendung.
Kriterien
Wenn mindestens ein Kriterium erfüllt ist, liegt per definitionem ein akutes Nierenversagen vor:
- Anstieg des Serumkreatinins um min. 0,3 mg/dl (bzw. 26,5 μmol/l) innerhalb von 48 Stunden
- Anstieg des Serumkreatinins auf min. das 1,5-fache eines bekannten oder angenommenen Ausgangswerts innerhalb von sieben Tagen
- Abfall der Urinmenge auf < 0,5 ml/kg KG/h für min. sechs Stunden
Einteilung
...nach Schweregrad
Die aktuell gültige Einteilung der KDIGO (Stand 2021) vereint die älteren RIFLE-Kriterien und AKIN-Stadien:[1]
Schweregrad (AKIN) | Serumkreatinin | Urinmenge | RIFLE |
---|---|---|---|
1 |
|
< 0,5 ml/kg KG/h für 6 - 12 h | Risk |
2 | Anstieg auf das 2,0- bis 2,9-fache des Ausgangswertes | < 0,5 ml/kg KG/h für ≥ 12 h | Injury |
3 |
|
|
Failure |
- | - | Nierenversagen für > 4 Wochen | Loss |
- | - | Nierenversagen für > 3 Monate | End Stage Renal Disease |
...nach der Harnmenge
Klinisch unterteilt man das akute Nierenversagen in
- oligurisches ANV (Harnmenge < 400 ml/d)
- nichtoligurisches ANV (Harnmenge normal)
Die Prognose für die nichtoligurische Form ist besser.
Pathophysiologie
Pathophysiologisch unterscheidet man im Fall des akuten Nierenversagens prärenale (60 %), renale (35 %) und postrenale Formen (5 %).
Prärenal ausgelöstes ANV
Alle Formen des prärenal ausgelösten akuten Nierenversagens beruhen auf einer Verminderung des (effektiven) Blutvolumens (Hypovolämie), also des Herzzeitvolumens. Die renale Perfusion und damit die glomeruläre Filtration nehmen ab. Es kommt dadurch sekundär zu ischämisch bedingten Schädigungen von Nephronen.
Ursachen sind:
- Dehydratation z.B. durch verminderte Flüssigkeitszufuhr oder Flüssigkeitsverluste (Diarrhö, Erbrechen, Überdosierung von Diuretika)
- Blutverluste z.B. durch Hämorrhagie
- Verbrennungen (Verlust von Plasmaproteinen und Flüssigkeit)
- Perforationen von Hohlorganen mit Flüssigkeits- und/oder Blutverlust in Körperhöhlen
- Hypoproteinämie
- Herzinsuffizienz
- Sepsis bzw. Septischer Schock
- Komplikation nach kardiopulmonalen Eingriffen
- Hepatorenales Syndrom
- Lungenkrankheiten (Euler-Liljestrand-Mechanismus)
Der Organismus versucht in solchen Fällen durch Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS), der Katecholamin-Ausschüttung und durch eine erhöhte ADH-Ausschüttung eine Gegenregulation vorzunehmen. Dies führt zu einer verminderten Ausscheidung von Wasser und Natrium.
Durch die Gabe von NSAR oder RAAS-Hemmern (ACE-Hemmer oder Sartane) wird die physiologische Gegenregulation unterbunden. Wenn dazu noch Diuretika in hoher Dosis verabreicht werden, begünstigt der Ausfall der Kompensationsmechanismen ein prärenales Nierenversagen.
siehe auch: Triple Whammy
Intrarenal ausgelöstes ANV
Intrarenal ausgelöste Formen des akuten Nierenversagens zeichnen sich durch primäre Schädigung von Nephronen aus. Im Rahmen dieser direkten Schädigungen kommt es häufig zu ausgedehnten Tubulusnekrosen, die zur Ablagerung von Zelltrümmern im Tubuluslumen führen.
Ursachen können toxisch, entzündlich und infektiös sein:
- Medikamente
- Pflanzengifte, Tiergifte und Chemikalien
- Drogen (im Sinne von Rauschmitteln)
- Hämolyse
- Rhabdomyolyse
- Bence-Jones-Proteine und Hyperkalzämie im Rahmen eines Plasmozytoms
- Glomerulonephritis z.B. im Rahmen eines Goodpasture-Syndroms
- Infektion mit dem Hantavirus
Postrenal ausgelöstes ANV
Postrenal ausgelöste Formen des Nierenversagens entstehen durch Obstruktionen in den ableitenden Harnwegen. Durch die Obstruktion kommt es zur Anurie und zur Druckerhöhung oberhalb des Abflusshindernisses. Dadurch wird die Durchblutung der Niere gedrosselt.
Ursachen für eine Obstruktion sind:
- bilaterale Urolithiasis
- Prostatahypertrophie
- Tumoren der Harn- und Geschlechtsorgane und des Retroperitonealraums
- bilaterale Stenosen der Ureteren
- Stenosen der Urethra
- vielfältige andere mechanische Hindernisse
Differenzialdiagnose
Eine isolierte Kreatininerhöhung kann neben einer Nierenfunktionseinschränkung auch andere Ursachen haben, von denen einige keinen Krankheitswert haben.
siehe auch: Serumkreatinin
Die fraktionelle Natriumexkretion (FENa) gibt den Anteil des Natriums an, der nach Filterung durch die Glomeruli am Ende tatsächlich mit dem Harn ausgeschieden wird. Die Messung bietet eine Hilfe bei der Unterscheidung von prärenalem (FENa < 1 %) und intrarenalem akutem Nierenversagen (FENa > 2 %).
Nach der Anwendung von Diuretika ist die Verwendung eingeschränkt, hier führt die Messung der fraktionellen Harnstoffexkretion zu genaueren Ergebnissen.
siehe auch: Fraktionelle Ausscheidung
Verlauf und Komplikationen
Die Initialphase des akuten Nierenversagens ist bezüglich der Niere meistens asymptomatisch. Die Symptomatik der jeweils auslösenden Grunderkrankung steht im Vordergrund.
Das manifeste Nierenversagen äußert sich in einer stetigen Abnahme der glomerulären Filtrationsrate (GFR) und einer daraus resultierenden Zunahme der Retentionswerte (z.B. Kreatinin). Durch die erhöhte Wasser- und Elektrolytretention besteht die Gefahr der Überwässerung (Hirnödem, Lungenödem, Herzinsuffizienz) sowie von Elektrolytstörungen (z.B. Hyperkaliämie). Dieses Stadium des akuten Nierenversagens kann bis zu mehreren Wochen andauern.
Die folgende polyurische Phase läutet die Wiederherstellung der Nierenfunktion ein, ist jedoch mit Tücken behaftet, da durch die massive Ausscheidung von bis zu 10 l Harn pro Tag der Wasser- und Elektrolythaushalt sehr ausgiebigen Schwankungen unterworfen wird. Die polyurische Phase besitzt eine hohe Mortalität.
Therapie
Nur im Falle einer postrenalen Obstruktion bietet sich die Möglichkeit einer kausalen Therapie durch Entfernung bzw. Behebung der auslösenden Ursache. Daher ist bei einem akuten Nierenversagen die Sonographie der Nieren und Harnwege zum Ausschluss eines postrenalen Abflusshindernisses an erster Stelle durchzuführen.
Bei den prärenalen und intrarenalen Formen des akuten Nierenversagens gibt es nicht immer eine kausale Therapieform. Die Therapie richtet sich dann nach den Komplikationen und ist symptomatisch. Eine zeitweilige Dialyse kann erforderlich werden. Im Falle eines prärenal ausgelösten akuten Nierenversagens ist es zudem sinnvoll, den Kreislauf möglichst schnell zu stabilisieren. Durch Aufhebung der Ursache kann das akute Nierenversagen therapiert werden.
Zusätzlich können in der Initialphase ANP und Dopamin zur Förderung der Diurese und zur Verbesserung der Nierendurchblutung verabreicht werden. Diuretika kommen bei Volumenüberladung zum Einsatz.
Quiz
Bildquelle
- Bildquelle für Flexikon-Quiz: © Tijana Drndarski/ Unsplash
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 KDIGO: Clinical Practice Guideline for Acute Kidney Injury 2012, abgerufen am 12.07.2021