Spinale Muskelatrophie
Synonym: SMA, proximale spinale Muskelatrophie
Englisch: spinal muscular atrophy
Definition
Die spinale Muskelatrophie, kurz SMA, ist eine meist autosomal-rezessiv vererbbare neurodegenerative Erkrankung aus der Gruppe der Motoneuronerkrankungen (MNDs). Sie führt zum selektiven Verlust von α-Motoneuronen.
Epidemiologie
Die Inzidenz liegt bei etwa 1 zu 10.000 Lebendgeburten, die Prävalenz bei rund 2/100.000 Einwohner. Die Heterozygotenfrequenz wird auf etwa 1:50 beziffert.[1][2] Die SMA ist eine der häufigsten autosomal-rezessiven Erkrankungen in Europa und die häufigste im Kindesalter zum Tode führende monogene Erkrankung.[3][4][2]
Das Manifestationsalter hängt vom genauen Typ ab (s.u.), insgesamt tritt die Erkrankung überwiegend im Säuglingsalter auf.
Genetik
SMN-Mutationen
Der SMA liegt in den meisten Fällen eine Defektmutation der SMN-Gene ("survival of motoneuron") SMN1 und SMN2 zugrunde. Hierbei handelt es sich um zwei direkt benachbarte, bis auf 5 Nukleotide vollkommen identische Gene auf Chromosom 5. Sie codieren für das SMN-Protein, dessen Funktion bislang (2024) nicht vollständig geklärt ist. Angenommen wird eine Beteiligung an Spleißvorgängen und/oder am axonalen Transport.
SMN1 ist für ca. 90% der SMN-Proteinmenge verantwortlich. Mutationen dieses Gens verursachen daher den überwiegenden Teil der SMA-Fälle. Das SMN1-Gen liegt meist auf jedem Chromosom nur in einfacher Kopie vor und ist haploinsuffizient.
SMN2 liegt meist in mehreren Kopien vor (Kopienzahlvariabilität). Es trägt im Vergleich zu SMN1 einen Einzelnukleotidpolymorphismus im Exon 7. Da dieser nur 6 Nukleotide downstream der proximalen Spleißstelle liegt, wird im Großteil der SMN2-mRNA dieses Exon entfernt. Proteine aus derart gespleißter mRNA sind funktionsuntüchtig. Aus diesem Grund ist nur ein kleiner Anteil der funktionsfähigen SMN-Proteine auf Expression des SMN2-Gen zurückzuführen.
SMN2 kann eine SMN1-Mutation teilweise kompensieren, wenn es in mehreren Kopien vorliegt. Dies kann den Krankheitsverlauf abschwächen. Während beim schweren Verlaufstyp I meist nur 1-2 SMN2-Kopien vorliegen, finden sich milderen Formen oft 3-4 Kopien. SMN2 fungiert somit als "Backup-Gen".[4]
Bei den Mutationen der SMN-Gene handelt es sich meist um Exondeletionen (Exon 7 oder 8). Punktmutationen sind selten (<5%).[5] Die meisten SMA-Fälle folgen einem autosomal-rezessiven Erbgang. Heterozygote SMN1-Mutationen können gelegentlich aber auch zu milden Typ-IV-Verläufen führen.[2][6]
Nicht-SMN-Mutationen
Sehr selten finden sich als Ursache Mutationen in nicht-SMN-Genen:[7][1]
- UBA1: Kodiert für ein E1-Enzym, das den ersten Schritt der Ubiquitinierung von Proteinen katalysiert. Ein Verlust der Aktivität führt zu einer Störung des Proteinabbaus über das Proteasom.
- DYNC1H1: Kodiert für das Protein Dynein, ein Motorprotein, das unter anderem synaptische Vesikel transportiert.
- IGHMBP2: Kodiert für das Immunglobulin-Mu-DNA-Bindeprotein 2
- VRK1: Kodiert für die VRK-Serin/Threonin-Kinase
- GARS: Kodiert für eine Glycin-tRNA-Synthetase
Einteilung
Die Einteilung erfolgt nach Schweregrad und Manifestationsalter in 4 Typen:[1]
Typ | Manifestation | Motorik | SMN2-Kopien |
---|---|---|---|
Typ I (Morbus Werdnig-Hoffmann, akute infantile SMA) | 0-6 Monate | unfähig zu sitzen | meist 1-2 |
Typ II (intermediäre SMA) | 7-18 Monate | unfähig zu stehen | meist 3-4 |
Typ III (Morbus Kugelberg-Welander, juvenile SMA) | 18 Monate bis 18 Jahre | Stehen und Gehen möglich | meist 3-4 |
Typ IV (adulte SMA) | ab 18 Jahren | wenig eingeschränkt | meist 3, 4 oder mehr |
Klinik
Allgemein äußert sich die SMA in generalisierten, bein- und proximal betonten, schlaffen Paresen bei normaler kognitiver Funktion. Die genaue Symptomatik ist vom jeweiligen Typ abhängig.
SMA Typ I
Der SMA-Typ I ist mit etwa 50% die häufigste Verlaufsform der SMA. Er führt bereits in den ersten 6 Lebensmonaten zu Symptomen. Die Kinder zeigen oft bereits bei Geburt generalisierte Paresen mit muskulärer Hypotonie ("floppy infant"). Die Paresen äußern sich durch:[1][5]
- allgemeine Bewegungsarmut (z.T. bereits in utero) und Areflexie
- Atrophie der Interkostalmuskulatur bei erhaltener Diaphragmafunktion
- Trinkschwäche und Dysphagie
- Parese und Atrophie der Bauchmuskulatur mit sichtbarer Vorwölbung
- Froschschenkelhaltung der Beine
- ausbleibende motorische Entwicklung
- fehlende Kopfkontrolle
- Unfähigkeit zu freiem Sitzen in höherem Alter
- Zungenfaszikulationen
Die mimische Muskulatur ist nicht betroffen, sodass der Eindruck einer wachen Mimik besteht.
Die Lebenserwartung dieser Kinder ist stark eingeschränkt. 80% versterben aufgrund einer respiratorischen Insuffizienz oder Pneumonie im ersten Lebensjahr.[2]
SMA Typ II
Das Manifestationsalter der SMA Typ II liegt zwischen dem 8. und dem 18. Lebensmonat. Die Klinik ist variabel. Möglich sind:[1][5]
- beinbetonte Paresen und Muskelatrophie, insbesondere Oberschenkelmuskulatur
- Parese und Atrophie der Interkostalmuskulatur
- leichte Trichterbrust
- in schwereren Fällen Atemschwäche
- sekundäre Skoliose
- Dysphagie, insb. in oraler Phase bei Kauschwäche
- teils feinschlägiger Tremor der oberen Extremitäten
Im höheren Alter können die Patienten zwar meist sitzen, jedoch nicht frei stehen.
Die Lebenserwartung liegt bei 10 bis 20 Jahren.
SMA Typ III
Der Erkrankungsbeginn der SMA Typ III liegt jenseits des 18. Lebensmonats, jedoch vor dem 18. Lebensjahr. Insgesamt ist die Muskelatrophie leicht ausgeprägt, die Lebenserwartung kaum eingeschränkt. Stehen und Gehen ist im Allgemeinen möglich, teilweise geht eine erlernte Gehfähigkeit aber auch wieder verloren.[5] Einige Patienten werden rollstuhlbedürftig. Häufig findet sich eine Skoliose.
SMA Typ IV
Die SMA Typ IV beginnt im Erwachsenenalter. Das klinische Bild ähnelt der SMA Typ III, wobei die Muskelschwäche geringer ausgeprägt ist. Sie betrifft anfangs v.a. die Bein- und Hüftmuskulatur, im Verlauf teils auch die obere Extremität. Die Lebenserwartung ist normal.
Diagnostik
Wegweisend für die Diagnosestellung ist die Anamnese und klinische Untersuchung. Letztere zeigt v.a. beim Typ I eine generalisierte Areflexie und beinbetonte proximale Paresen. Zusätzlich sollte ein EMG abgeleitet werden, hier finden sich Zeichen einer Denervierung. Gesichert wird die Diagnose durch eine molekulargenetische Untersuchung.
Bei den Betroffenen und ihren Familienangehörigen sollte eine humangenetische Beratung erfolgen. Bei Kinderwunsch ist eine Pränataldiagnostik möglich.
Differentialdiagnosen
Differentialdiagnostisch kommen insbesondere andere genetisch bedingte Motoneuronerkrankungen in Frage, z.B.:
Therapie
Supportive Maßnahmen umfassen physiotherapeutische Behandlung, Logopädie, Ergotherapie, Schmerztherapie sowie orthopädisch notwendige Korrekturoperationen. Bei starker Ateminsuffizienz müssen die Patienten beatmet werden.
Gentherapie
Das Gentherapeutikum Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®) ist für die SMA Typ I durch homozygote SMN-1-Mutation zugelassen, sofern höchstens 3 SMN2-Kopien vorliegen. Es handelt sich dabei um einen adenoviralen Vektor, der eine Genkopie von SMN1 als Episom in den Zellkern der Motoneurone einschleust. Das Arzneimittel wird einmalig intravenös verabreicht. Die Gentherapie zeigte in den Zulassungsstudien eine relevante Besserung des Krankheitsverlaufes mit deutlicher Senkung der Mortalität. Für eine Behandlung im Alter über 2 Jahre ist jedoch keine Wirksamkeit mehr nachgewiesen[8], vermutlich aufgrund der zu geringen Zahl verbleibender Motoneurone.
Die Kosten einer Einzeldosis liegen derzeit (2024) bei rund 1,4 Millionen Euro.[9] Das IQWIG sieht den Zusatznutzen gegenüber Nusinersen aufgrund unzureichender Datengrundlage als nicht belegt an.[10]
Spleißmodulatoren
Für die Behandlung der SMN1-bedingten SMA älterer Kinder ist das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen (Spinraza®) verfügbar.[11] Nusinersen bindet komplementär an das Exon 7 der SMN2-prä-mRNA und verhindert so, dass dieses herausgespleißt wird.[2] Hierduch steigt die Menge an funktionsfähigem SMN2-Genprodukt. Der Arzneistoff muss alle 4 Monate durch intrathekale Injektion direkt in das ZNS eingebracht werden.
Seit 2021 ist zudem der Arzneistoff Risdiplam (Evrysdi®) in Deutschland zugelassen. Sein Wirkmechanismus entspricht dem von Nusinersen. Da es sich jedoch nicht um ein Oligonukleotid handelt, kann die Substanz auch oral verabreicht werden. Ridisplam muss täglich und lebenslang eingenommen werden.
Leitlinien
- S1-Leitlinie Motoneuronerkrankungen der DGN, Stand 13.08.2021.
- S1-Leitlinie Spinale Muskelatrophie (SMA), Diagnostik und Therapie der GNP, Stand 2.12.2020.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 D'Amico et al. Spinal muscular atrophy. Orphanet Journal of Rare Diseases, 2011.
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 Schaaf und Zschocke. Basiswissen Humangenetik. Kapitel 31.2 Neurodegenerative Erkrankungen, S. 396ff.. 3. Auflage. Springer Verlag. 2018.
- ↑ Jorch (Hrsg.). Fetoneonatale Neurologie. 1. Auflage. Thieme Verlag Stuttgart, 2013.
- ↑ 4,0 4,1 Moog, Rieß (Hrsg.). Medizinische Genetik für die Praxis. 1. Auflage. Thieme Verlag Stuttgart, 2014.
- ↑ 5,0 5,1 5,2 5,3 Borell, Pechmann, Kirschner. Spinale Muskelatrophie. Monatsschrift Kinderheilkunde, 2015.
- ↑ Gehlen et al. (Hrsg.). Neurologie. 12., vollständig überarbeitete Auflage. Thieme Verlag Stuttgart, 2010.
- ↑ Genetics Home Reference Eintrag: Spinal muscular atrophy, abgerufen am 31.08.16
- ↑ Novartis AG. Fachinformation zu Zolgensma®. Abgerufen am 23.05.2024.
- ↑ Deutscher Bundestag, Drucksache 20/10008 - Evaluationsbericht über die Auswirkungen der Änderungen durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz auf die Versorgung mit Arzneimitteln. Januar 2024.
- ↑ Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Nutzenbewertung Onasemnogen-Abeparvovec vom 12.08.2021.
- ↑ Finkel RS et al.: Nusinersen bei infantiler spinaler Muskelatrophie: wirksam, aber nicht heilend. Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86(03): 143. DOI: 10.1055/s-0043-123055
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