Gentherapie
Englisch: gene therapy
Definition
Als Gentherapie bezeichnet man in der Medizin das Einfügen von Genen in Zellen oder Gewebe eines Menschen, um Erbkrankheiten oder Gendefekte zu behandeln. Die Gentherapie ist eine relativ neue Methode, an der zur Zeit (2023) intensiv geforscht wird. Die entsprechenden Arzneimittel werden als Gentherapeutika bezeichnet. Sie gehören zur Gruppe der Arzneimittel für neuartige Therapien (ATMP).
Methoden
Für den ungezielten Transfer gibt es verschiedene Methoden (Vektoren), um ein therapeutisches Gen in eine Zelle zu transportieren:
- Transfektion (chemisch): Die therapeutischen Gene und eine elektrisch geladene Verbindung (z.B. Calciumphosphat) werden zu den Zellen gegeben. Die elektrisch geladene Verbindung stört die Struktur der Zellmembran, wodurch die neue DNA ins Zellinnere gelangen kann. Die Chancen für einen erfolgreichen Einbau der DNA stehen mit dieser Methode bei 1:1000 bis 1:100000.
- Transfektion (physikalisch): Die Mikroinjektion bietet hohe Chancen für einen erfolgreichen Einbau des Gens (ca. 1:5), jedoch muss jede Zelle einzeln behandelt werden.
- Transfektion (physikalisch): Bei der Elektroporation macht ein Stromstoß die Zellmembran vorübergehend durchlässig, so dass die neue DNA in die Zelle eindringen kann. Bei dieser Methode können jedoch die Zellen stark geschädigt werden.
- Transfektion (physikalisch): Mit der Particle gun werden kleine Goldkügelchen in die Zelle geschossen, auf deren Oberfläche die therapeutischen Gene haften. Auch diese Methode kann schwere Zellschäden hervorrufen.
- Transfektion durch Erythrozyten-Ghosts: Rote Blutkörperchen werden in einer Lösung, die die therapeutischen Gene enthält zur Lyse gebracht. Die Zellmembranen schliessen sich kurze Zeit darauf wieder, wodurch die therapeutischen Gene in den Erythrozyten gekapselt werden. Anschliessend werden die Blutzellen mit den Zielzellen verschmolzen.
- Transduktion: Hierbei bringt ein Virus das therapeutische Gen in die Zelle. Diese Methode eignet sich für die klinische Behandlung am besten.
Bei der Transduktion gibt es mehrere mögliche Transportviren:
Vorteile | Nachteile | |
---|---|---|
DNA-Viren | * Das therapeutische Gen liegt bereits als DNA vor | * Begrenztes Fassungsvermögen * Sie dringen nur in (wenige) bestimmte Zellen ein |
RNA-Viren | * Großes Fassungsvermögen * Die Viren infizieren viele verschiedene Zelltypen |
* RNA baut sich in der Zelle schnell ab, da sie nicht in DNA umgeschrieben wird |
Retroviren | * Großes Fassungsvermögen * Die Viren infizieren viele verschiedene Zelltypen * RNA wird in DNA umgeschrieben und ins Erbgut der Wirtszelle eingebaut |
* Es werden teilungsaktive Zellen benötigt (z.B. keine Nervenzellen) * Sie können bei ihrer Vermehrung im Körper maligne Tumore auslösen |
Retroviren
Heftet sich ein Hüllprotein eines Retrovirus an einen Rezeptor auf einer Zellmembran, entlässt das Virus bestimmte Proteine (Reverse Transkriptase) und seine RNA in die Zelle. Die typische Retroviren-RNA hat folgenden Aufbau:
Name | Länge (bp) | codiert |
---|---|---|
R-U5 | 90-180 | 5'-Ende |
ψ (psi) | ??? | "Startsequenz" zur Herstellung viraler RNA aus dem Provirus |
gag | ca. 2.000 | Proteine des Kernbereichs |
pol | ca. 2.900 | Reverse Transkriptase Protease |
env | ca. 1.800 | Virushülle |
U3-R | 170-1.260 | 3'-Ende |
Im Zytoplasma der Zelle schreibt die reverse Transkriptase die virale RNA in eine DNA mit verlängerten Endabschnitten um. Diese langen terminalen Repetitionen (LTRs) beeinflussen die Aktivität der Virusgene und erleichtern den Einbau der viralen DNA in die Erbsubstanz der Zelle. Diese (seit dem Einbau Provirus genannte) DNA kann jetzt die viralen Proteine und die virale RNA (aus sich selbst) bilden, welche dann zu einem neuen Virus zusammengebaut werden und die Wirtszelle durch Knospung verlassen.
Die Retroviren haben sich als bisher beste Vektoren erwiesen. Um aus einem Retrovirus einen sicheren Vektor herzustellen, sind mehrere Schritte nötig:
- In einem Provirus werden die viralen Gene (die den Aufbau des Virus codieren) durch das therapeutische Gen ersetzt. Dabei bleibt die virale Y (psi)-Region erhalten, die dafür sorgt, dass die DNA in virale RNA ungewandelt werden kann.
- Das therapeutische Provirus (Y +) wird in eine "Verpackungszelle" eingebracht. In der Erbinformation dieser Zelle befindet sich ein Helfer-Provirus, dem der Y-Abschnitt fehlt.
- Das therapeutische Provirus stellt eine Y +-RNA her.
- Das Helfer-Provirus stellt virale Proteine und eine unverpackbare Y --RNA her.
- Die therapeutische Y +-RNA wird nun mit den nötigen viralen Proteinen in die durch das Helfer-Provirus erzeugte Virushülle eingelagert und aus der Verpackungszelle ausgeschleust. Dieser neue Virus ist ein sicherer Vektor, da er sich nicht mehr vermehren kann.
- "Infiziert" dieser neue Virus eine Zelle, so wird lediglich das therapeutische Gen in die Zell-DNA eingebaut. Es kann weder virale RNA noch virale Proteine erzeugen, sondern nur das gewünschte, bisher fehlende Protein.
Geeignete Zellen
Körperzellen, die für eine Gentherapie mit Retroviren als Vektor in Frage kommen, müssen bestimmte Anforderungen erfüllen:
- Sie müssen widerstandsfähig genug sein, um die "Infektion", besonders aber die Entnahme aus und die Wiedereinpflanzung in den Körper zu überstehen.
- Sie müssen leicht entnehmbar und wieder einsetzbar sein.
- Sie sollten langlebig sein, damit sie das neue Protein über lange Zeit hinweg produzieren können.
Folgende Zelltypen haben sich als geeignet erwiesen:
- Hautzellen: Fibroblasten aus der Lederhaut (nicht mehr aktuell)
- Leberzellen
- T-Zellen: T-Lymphozyten sind für die zelluläre Immunantwort zuständig. Das Fehlen des Gens für Adenosindesaminase (ADA), das zu einem "schweren kombinierten Immundefekt" (SCID) führt, wird durch entsprechende Behandlung dieser Zellen therapiert.
- Knochenmarkszellen: Sie produzieren die roten und weißen Blutkörperchen. Durch Gentherapie der seltenen Stammzellen lassen sich genetisch bedingte Krankheiten des Blutes und des Immunsystems behandeln. So kann man z.B. die Beta-Thalassämie (ein Mangel an Beta-Globin führt zu Anämie) durch Einbau eines Genabschnitts in hämatopoetische Stammzellen behandeln.
Nomenklatur
Die Freinamen (INN) der Gentherapeutika sind zweiteilig. Der erste Teil des Namens verweist auf das zu reparierende Gen, der zweite Teil auf den verwendeten Vektor. Beide Namensteile sind wiederum dreiteilig.
Beispiel: Val-octoco-gen Roxa-parvo-vec (Roctavian®)
- Erster Namensteil
- Anfang: frei wählbar
- Mitte: bezieht sich auf den Wirkmechanismus, hier auf den Gerinnungsfaktor VIII als Target
- Ende: immer gen
- Zweiter Namensteil
- Anfang: frei wählbar
- Mitte: Virusart des Vektors; hier: parvo für Parvoviridae; bei anderen Vektoren: lenti, herpa oder adeno
- Ende: Art des Vektors: vec - nicht replizierend; repvec - replizierend
Beispiele
Die erste beim Menschen zugelassene Gentherapie war Alipogen-Tiparvovec im Jahr 2012. Sie wurde jedoch bereits nach wenigen Jahren vom Markt genommen. Aktuell (2023) zugelassene Gentherapien sind:
- Atidarsagen-Autotemcel (Libmeldy®) bei metachromatischer Leukodystrophie (MLD)
- Axicabtagen-Ciloleucel (Yescarta®) zur Behandlung von Lymphomen
- βA-T87Q-Globin-HSC (Zynteglo®) bei Beta-Thalassämie
- Brexucabtagen-Autoleucel (Tecartus®) zur Behandlung des Mantelzelllymphoms und der ALL
- Ciltacabtagen-Autoleucel (Carvykti®) zur Therapie des multiplen Myeloms
- Eladocagen-Exuparvovec (Upstaza®) bei AADC-Mangel
- Etranacogen-Dezaparvovec (Hemgenix®) bei Hämophilie B
- Idecabtagen-Vicleucel (Abecma®) zur Therapie des multiplen Myeloms
- Lisocabtagen-Maraleucel (Breyanzi®) zur Behandlung von Lymphomen
- Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®) bei spinaler Muskelatrophie
- Strimvelis® bei ADA-SCID
- Talimogen-Laherparepvec (Imlygic®) zur Krebsimmuntherapie des malignen Melanoms
- Tisagenlecleucel (Kymriah®) zur Behandlung von ALL und DLBCL
- Valoctocogen-Roxaparvovec (Roctavian®) bei Hämophilie A
- Voretigen-Neparvovec (Luxturna®) zur Behandlung der Leberschen kongenitalen Amaurose
Literatur
- Scientific American, November 1990, Inder M. Verma, "Gene Therapy"
- D.T. Suzuki, A.J.F. Griffith, J.H. Miller, R.C. Lewontin, "Genetik", VCH Verlag, 1991
- Benjamin Lewin, "Genes V", Oxford University Press, 1994