Sakkuläres zerebrales Aneurysma
Synonyme: sacciformes zerebrales Aneurysma, beerenförmiges Aneurysma, Beerenaneursyma
Englisch: saccular aneurysm, berry aneurysm
Definition
Ein sakkuläres zerebrales Aneurysma, kurz SA, ist die häufigste Form eines zerebralen Aneurysmas. Die pathologische Ausstülpung eines Hirngefäßes nach außen betrifft dabei nur einen Teil des Umfangs der Stammarterie. Weiterhin fehlen meist die Lamina elastica interna und die Tunica media, wodurch die fokal ausgedünnte Wand zur Ruptur neigt.
Epidemiologie
Zerebrale Aneurysmen kommen bei 3 % der Erwachsenen vor. Asymptomatische unrupturierte SAs sind mindestens 10-mal häufiger als rupturierte SAs. 80 bis 90 % aller spontanen Subarachnoidalblutungen (ntSAB) entstehen durch Ruptur eines SAs. Der Altersgipfel liegt zwischen 40 und 60 Jahren. Frauen sind deutlich häufiger betroffen, insbesondere bei multiplen SAs.
SAs bei Kindern sind selten, obwohl sie in dieser Altersgruppe die häufigste Ursache für eine spontane SAB sind. Im Vergleich zu Aneurysmen bei Erwachsenen sind sie bei Kindern meist größer, kommen häufiger in der hinteren Strombahn vor und weisen eine komplexere Form auf.
Ätiopathogenese
Sakkuläre Aneurysmen sind fast immer erworbene Läsionen, deren Entwicklung und anschließende Ruptur das Ergebnis mehrerer komplexer Wechselwirkungen sind. Die Bildung beginnt mit einer endothelialen Dysfunktion, gefolgt von Entzündungsprozessen, Remodeling und degenerativen Gefäßwandveränderungen.
Genetik
Ein sakkuläres Aneurysma ist nur sehr selten bereits bei Geburt vorhanden (kongenital). Die Entwicklung und Ruptur sind jedoch von genetischen Faktoren abhängig. Genomweite Assoziationsstudien (GWAS) konnten Suszeptibilitätsgene identifizieren, z.B.:
- Gencluster 9p21: spielt eine wichtige Rolle bei der Zellproliferation
- SOX17: ist wichtig für Bildung und Aufrechterhaltung des Endothels
Eine einzelne krankheitsverursachende Genvariante konnte bisher (2022) nicht identifiziert werden. Hereditäre Bindegewebserkrankungen, anomale Blutgefäße, familiäre Veranlagung und Gefäße, die eine arteriovenöse Malformation (AVM) versorgen, erhöhen das Risiko der Entwicklung einer SA.
Umweltfaktoren
Neben der genetischen Prädisposition erhöhen Umweltfaktoren wie arterielle Hypertonie, Rauchen und starker Alkoholkonsum das Risiko der Entwicklung einer SA.
Anomale Blutgefäße
Bikuspide Aortenklappen, Aortenkoarktation, eine persistierende Arteria trigemina und angeborene Anomalien der Arteria cerebri anterior (z.B. A1-Asymmetrie oder infraoptischer Verlauf des A1-Segments) sind mit einem erhöhten Risiko für eine SA verbunden. Ob arterielle Fenestrationen z.B. der Arteria communicans anterior oder der Arteria basilaris mit einer erhöhten Prävalenz von SAs assoziiert sind, ist umstritten.
Syndromale Aneurysmen
Einige vererbbare Bindegewebsstörungen wie das Marfan-Syndrom, das Ehlers-Danlos-Syndrom Typ II und IV oder die fibromuskuläre Dysplasie sind mit einem erhöhten Risiko für intrakranielle Aneurysmen verbunden.
Bei Neurofibromatose Typ 1 (NF1) betreffen die vaskulären Veränderungen in erster Linie die Aorta, die Nieren-, Koronar- und Magen-Darm-Arterien. Ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung intrakranieller Aneurysmen ist jedoch beschrieben.
Bei der autosomal-dominanten polyzystischen Nierenerkrankung (ADPCKD) beträgt das Lebenszeitrisiko der Entwicklung einer SA 4 bis 23 %. Weiterhin weisen ADPCKD-Patienten ein erhöhtes Risiko für eine Aneurysmaruptur in einem früheren Lebensalter (Durchschnittsalter 35-45 Jahre) im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (Durchschnittsalter 50-54 Jahre) auf.
Andere prädisponierende Erkrankungen sind Pseudoxanthoma elasticum und Multiple endokrine Neoplasie Typ 1.
Familiäre intrakranielle Aneurysmen
Eine positive Familienanamnese ist der größte Risikofaktor für aneurysmatische Subarachnoidalblutungen (aSAH). Das Risiko ist im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 4- bis 10-fach erhöht. Bis zu 20 % der Patienten mit SAs haben eine positive Familienanamnese. Finden sich sakkuläre Aneurysmen bei verwandten Personen ohne bekannte vererbbare Bindegewebsstörung, spricht man von familiären intrakraniellen Aneurysmen (FIAs). Sie treten in der Regel bei jüngeren Patienten auf und rupturieren bei geringerer Größe als sporadische SAs.
Lokalisation
Ein sakkuläres Aneurysma entwickelt sich an Stellen mit maximaler hämodynamischer Belastung, insbesondere an Verzweigungen oder Ästen großer Blutgefäße. Die häufigste Lokalisation ist der Circulus arteriosus und die Bifurkation der Arteria cerebri media (MCA). Aneurysmen jenseits des Circulus arteriosus sind selten.
Vorderer Stromkreis
Ungefähr 90 % der SAs treten im vorderen Stromkreis auf, d.h. in der
- Arteria carotis interna (ICA) und ihren Endästen incl. Arteria hypophysialis superior und inferior
- Arteria cerebri anterior (ACA)
- Arteria cerebri media (MCA)
- Arteria ophthalmica
- Arteria communicans anterior (ACom)
- Arteria communicans posterior (PCom)
- Arteria choroidea anterior
Etwa ein Drittel der SAs betreffen die ACom, ein Drittel die Kreuzung von ICA und PCom und ca. 20 % die Bi- oder Trifurkation der MCA.
Hinterer Stromkreis
10 % der SAs befinden sich im hinteren bzw. vertebrobasilären Kreislauf. Die häufigsten Lokalisationen sind die Arteria basilaris (5 %) und die Arteria posterior inferior cerebelli (PICA).
Morphologie
SAs können 2 mm bis über 1 cm groß sein. Aneurysmen über 2,5 cm werden als Giant-Aneurysma (Riesenaneurysma) bezeichnet.
Anzahl
In 15 bis 20 % d.F. treten multiple Aneurysmen auf. Ungefähr 75 % der Patienten mit multiplen Aneurysmen haben zwei SAs, 15 % haben drei und 10 % mehr als drei SAs. Frauen weisen häufiger multiple SAs auf.
Pathologie
Makroskopie
Intrakranielle sakkuläre Aneurysmen sind dynamische Läsionen, d.h. hämodynamische Insulte können eine pathologische Gefäßreaktion auslösen, die zu einem sich selbst erhaltenden aneurysmatischen Remodeling führt. Die ursprünglich auslösenden hämodynamischen Faktoren sind also für das Fortschreiten der Pathologie nicht notwendig.
Die Konfiguration des Aneurysmas ändert sich im Verlauf, da die Arterienwand einem Remodeling unterworfen ist. Teilweise entwickeln sich ein oder mehrere Lobuli oder eine apikale Kuppel, wobei diese Regionen besonders rupturgefährdert sind.
Mikroskopie
SAs weisen eine unterbrochene oder fehlende Lamina elastica interna auf. Die Tunica media fehlt in den meisten Fällen. Das Gleichgewicht zwischen Synthese und Abbau der Extrazellulärmatrix ist gestört. Weiterhin können Thromben und atherosklerotische Veränderungen in unterschiedlichem Ausmaß vorkommen.
Ein wichtiges histologisches Merkmal von SAs ist die Infiltration von Entzündungszellen, z.B. von Makrophagen und Mastzellen.
Klinik
Sakkuläre zerebrale Aneurysmen sind, solange sie intakt sind, klinisch stumm und werden oft als Zufallsbefund im Rahmen einer CT- oder MRT-Untersuchung entdeckt. Gelegentlich rufen sie uncharakteristische Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Nausea hervor.
Gelegentlich kommt es bei Patienten mit teilweise oder vollständig thrombosierten Aneurysmen zu einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) oder einem Schlaganfall.
Wenn das Aneurysma rupturiert, manifestiert sich die aneurysmatische SAB meist durch einen Vernichtungskopfschmerz. Weiterhin sind Hirnnervenparesen möglich, insbesondere eine Okulomotoriusparese bei PCom-Aneurysmen.
Rupturrisiko
Die jährliche Rupturrate aller SAs beträgt insgesamt 1 bis 2 %. Das Rupturrisiko variiert je nach Größe, Lage und Form des Aneurysmas. Ein erhöhtes Rupturrisiko besteht bei
- Aneurysmen ≥ 5 mm
- Größenprogredienz in Verlaufskontrollen
- nicht sphärischer bzw. sakkulärer Form
- Vorhandensein einer Tochterblase (irreguläre Wandprotrusion)
- Länge > Breite
- vertebrobasilärer Lokalisation
- ACI-PCom-, MCA- und ACA-Lokalisation: nur mäßig erhöhtes Risiko
- vorheriger SAB
- weiblichem Geschlecht
- arterieller Hypertonie
- Nikotinabusus
Der PHASES-Score gibt das absolute Rupturrisiko für die ersten 5 Jahre nach Diagnose anhand von Alter, Größe, Lage, arterieller Hypertonie und früherer SAB aufgrund eines anderen Aneurysmas an. Eine andere Möglichkeit zur Berechnung des Rupturrisikos ist der UIATS-Score.
Diagnostik
Ein sakkuläres Aneurysma wird radiologisch mittels Computertomographie (CT), Magnetresonanztomographie (MRT) oder Angiographie diagnostiziert.
Computertomographie
In der CT fallen kleine, nicht rupturierte SAs i.d.R. nicht auf. Größere Aneurysmen können als leicht hyperdense Raumforderungen erkannt werden, insbesondere bei teil- oder vollständiger Thrombosierung. Rand- bzw. wandständige Verkalkungen sind möglich.
Wird Kontrastmittel verabreicht, zeigen durchgängige SAs eine starke, homogene Kontrastierung des Lumens. Vollständig thrombosierte Aneurysmen werden nicht kontrastiert, wobei chronische Läsionen ein randständiges Enhancement aufgrund von Entzündungsprozessen aufweisen können.
Bei einer akuten Ruptur einer SAs liegt eine Subarachnoidalblutung vor, die meist das ursächliche Aneurysma maskiert. Teilweise fällt im hyperdensen Blut das SA als gut umschriebener, relativ hypodenser Defekt auf.
Magnetresonanztomographie
Ungefähr 50 % der durchgängigen SAs zeigen ein Flow Void in T1w- und T2w-Sequenzen. In anderen Fällen zeigt sich eine heterogene Signalintensität aufgrund von verlangsamtem oder turbulentem Fluss, Sättigungseffekten und Phasenverschiebung. Pulsationsartefakte in Phasenkodierrichtung sind häufig. FLAIR-hyperintense Signalalterationen in den Liquorzisternen weisen auf eine Subarachnoidalblutung hin.
Teil- oder vollständig thrombosierte Aneurysmen erscheinen mehrschichtig mit unterschiedlichen Signalintensitäten. Häufig findet sich ein Blooming-Artefakt in T2*-Sequenzen. In Slow-Flow-Bereichen kann es nach Kontrastmittelgabe zu einer T1-Verkürzung kommen. Hochauflösende kontrastverstärkte MR-Sequenzen zeigen entzündliche Veränderungen in der Aneurysmawand und im angrenzenden Gehirn. Ischämien durch Vasospasmen oder embolisierte Thromben sind in DWI-Sequenzen erkennbar.
Angiographie
Die hochauflösende Multidetektor-CT-Angiographie (CTA) wird bei Patienten mit Verdacht auf eine aneurysmatische Subarachnoidalblutung als Screening eingesetzt. Die Sensitivität beträgt über 95 % für Aneurysmen über 2 mm Größe. Weiterhin kann eine MR-Angiographie (MRA) durchgeführt werden. Die Sensitivität für über 2 mm große Aneurysmen beträgt 90 %.
Die konventionelle digitale Subtraktionsangiographie (DSA) gilt weiterhin als Goldstandard für den Nachweis einer intrakraniellen SAB, insbesondere vor endovaskulärer Behandlung.
Ein Kontrastextravasat ist pathognomonisch für eine Ruptur, wird aber nur selten beobachtet. Weitere Merkmale, die bei Patienten mit mehreren Aneurysmen auf das Ursächliche hinweisen, sind:
- Vorhandensein von Lobulationen oder einer apikalen Kuppel
- Größe: Das größte Aneurysma ist häufig das rupturierte.
- fokaler perianeurysmatischer Thrombus in der CT oder MRT
Differenzialdiagnosen
Radiologische Differenzialdiagnosen sind:
- physiologische Gefäßschlingen: können durch Rekonstruktionen, mehrere Projektionen und 3D-Oberflächendarstellungen differenziert werden.
- infundibulärer Gefäßabgang: Ein Infundibulum ist eine fokale, meist < 3 mm große, symmetrische, konische Erweiterung am Ursprung eines Blutgefäßes. Das distale Gefäß entspringt typischerweise aus dem Apex und nicht aus der Seite des Infundibulums. Die häufigste Lokalisation ist die PCom. Zwar handelt es sich um eine anatomische Normvariante, jedoch kann ein Infundibulum gelegentlich rupturieren oder sich zu einem echten Aneurysma entwickeln.
- Pseudoaneurysma: häufiger an Gefäßen distal des Circulus arteriosus und oft fusiform oder irregulär geformt. Außerdem häufig von fokalen parenchymatösen Hämatomen umgeben.
- fusiformes Aneurysma: langsegmentige, wurstförmige Läsionen, die den gesamten Umfang eines Gefäßes umfassen. Häufiger im vertebrobasilären Kreislauf
- Blood-Blister-like Aneurysma: typischerweise entlang der großen Kurvatur der supraklinoidalen ICA.
- Pneumatisation des Processus clinoideus anterior, aberrate supraorbitale Ethmoidalzellen oder frontale Zellen können mit Flow Void verwechseln werden.
Therapie
...bei nicht-rupturiertem Aneurysma
Die Behandlung eines nicht-rupturierten Aneurysmas ist derzeit (2022) umstritten. Je nach Rupturrisiko kommen konservative Behandlungen (z.B. Blutdruckeinstellung), endovaskuläre oder chirurgische Therapien in Frage.
...bei Aneurysmaruptur
Bei einer Ruptur eines sakkulären Aneurysmas kommen verschiedene Therapieoptionen in Frage:
Die Behandlung sollte frühzeitig erfolgen, da das Risiko einer erneuten Bluttung in den ersten 24 bis 28 Stunden nach erster Blutung am höchsten ist. 20 % der rupturierten, unbehandelten SAB bluten innerhalb von 20 Wochen erneut, 50 % innerhalb von 6 Monaten.
Etwa ein Drittel der Patienten mit aSAB stirbt und ein Drittel überlebt mit deutlichen neurologischen Defiziten. Nur ein Viertel bis ein Drittel der Patienten mit einer SAB erholen sich mit guten funktionellen Ergebnissen.
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