LGI1-Antikörper-Enzephalitis
Englisch: LGI1-antibody encephalitis, Anti-Leucine–Rich Glioma-Inactivated 1 Antibody Encephalitis
Definition
Die LGI1-Antikörper-Enzephalitis ist eine limbische Autoimmunenzephalitis, die durch Antikörper gegen das synaptische Oberflächenprotein LGI1 verursacht wird. Sie führt typischerweise zu subakuten Gedächtnisstörungen, psychiatrischen Symptomen und epileptischen Anfällen, insbesondere faziobrachialen dystonen Anfällen (FBDS).
Hintergrund
LGI1 wurde 2010 als Zielantigen der zuvor als „VGKC-Antikörper-positiv“ bezeichneten limbischen Enzephalitis identifiziert. Frühere Befunde zeigten erhöhte Antikörpertiter gegen den spannungsabhängigen Kaliumkanalkomplex (VGKC). Später wurde erkannt, dass die pathogenen Antikörper überwiegend gegen die funktionell assoziierten Proteine LGI1 und CASPR2 gerichtet sind.[1]
Kurz nach der Beschreibung der LGI1-Antikörper wurde die charakteristische Klinik mit limbischer Enzephalitis und faziobrachialen dystonen Anfällen als Frühsymptom sowie die gute Ansprechbarkeit auf Immuntherapie beschrieben.[2][3] Diese Arbeiten führten zur Abgrenzung der LGI1-Antikörper-Enzephalitis als eigenständige Form der Autoimmunenzephalitis.
Epidemiologie
Die Enzephalitis mit LGI1-Antikörpern gehört bei Erwachsenen zu den häufigsten Autoimmunenzephalitiden und ist im höheren Lebensalter die am häufigsten auftretende Form. Die jährliche Inzidenz wird auf etwa 0,8 Fälle pro Million Einwohner geschätzt.[4] Betroffen sind überwiegend Personen im 6. bis 7. Lebensjahrzehnt. Männer erkranken etwas häufiger als Frauen. Eine Tumorassoziation ist selten (unter 10 %).
Ätiologie
Die Erkrankung beruht auf einer fehlgesteuerten humoralen Immunantwort gegen das extrazelluläre synaptische Protein LGI1. Genetische Prädispositionen, insbesondere bestimmte HLA-Haplotypen, erhöhen vermutlich die Anfälligkeit. Eine auslösende Ursache ist in der Regel nicht nachweisbar. Paraneoplastische Formen sind selten.
Pathogenese
LGI1 bildet zusammen mit ADAM22 und ADAM23 einen transsynaptischen Komplex, der präsynaptische und postsynaptische Signalstrukturen funktionell verbindet und die AMPA-Rezeptor-vermittelte synaptische Transmission sowie die neuronale Plastizität in limbischen Netzwerken stabilisiert.[5] LGI1-Antikörper blockieren die Interaktion von LGI1 mit ADAM22, was zu einem Verlust postsynaptischer AMPA-Rezeptoren, einer veränderten Dichte der dendritischen Dornfortsätze und einer erhöhten neuronalen Erregbarkeit führt.[6]
LGI1 ist vor allem im Hippokampus, in der Amygdala und im Nucleus caudatus aktiv, den Regionen, die bei dieser Erkrankung typischerweise betroffen sind.
Symptome
Typisch ist eine subakut einsetzende limbische Enzephalitis mit:
- Antegrader Amnesie und kognitiven Defiziten
- Verwirrtheit, affektiven und psychotischen Symptomen
- Fokalen Temporallappenanfällen.
Faziobrachiale dystone Anfälle (FBDS) gelten als pathognomonisch. Es handelt sich dabei um sehr kurze (< 3 s), einseitige tonisch-dystone Bewegungen von Arm und gleichseitigem Gesicht, die häufig dutzend- bis hundertfach täglich auftreten. Sie gehen der limbischen Enzephalitis meist um Tage bis Wochen voraus und sprechen schlecht auf Anfallssuppressiva, jedoch sehr gut auf Immuntherapie an.
Weitere Befunde sind u.a.:
- Hyponatriämie (bei etwa 60-70 %), teils früh im Verlauf
- Schlafstörungen, Parasomnien und REM-Schlaf-Verhaltensstörung
- Autonome Symptome wie Hyperhidrose, Herzfrequenz- und Blutdruckschwankungen, seltener kardiale Arrhythmien
- Kognitive Störungen (z. B. Wortfindungsstörungen, Aufmerksamkeits- und Exekutivdefizite)
- Psychiatrische Auffälligkeiten mit Reizbarkeit, Angst, Depression, Verhaltensänderungen oder Halluzinationen.
Diagnostik
Die Diagnose beruht auf der typischen Klinik, dem Nachweis von LGI1-Antikörpern und unterstützenden Zusatzbefunden.
Labor
Eine Hyponatriämie ist häufig (ca. 60 %) und kann frühes Warnzeichen sein.
Liquor
Der Liquor ist oft normal oder nur mild entzündlich verändert (geringe Pleozytose, Eiweißerhöhung, oligoklonale Banden in ca. 30-40 %). Ein unauffälliger Befund schließt die Diagnose nicht aus.
Antikörpernachweis
Goldstandard ist das zellbasierte Assay (CBA). Serum ist sensitiver als Liquor. Die Titerniveaus im Liquor betragen nur 1-10 % der Serumwerte. Titerschwankungen korrelieren nicht zuverlässig mit der klinischen Schwere oder Prognose.
MRT des Gehirns
In etwa der Hälfte der Fälle finden sich T2-/FLAIR-Hyperintensitäten der medialen Temporallappen, ein- oder beidseitig (Hippokampus, Amygdala).[7] Ein Teil der Patienten zeigt zusätzlich Basalganglienläsionen, insbesondere bei faziobrachialen dystonen Anfällen.
Diffusionsrestriktion und Kontrastmittelanreicherung fehlen meist oder sind gering ausgeprägt. Die Kombination aus temporallappenbegrenzten FLAIR-Hyperintensitäten ohne Diffusionsrestriktion oder Kontrastmittelanreicherung ist sehr charakteristisch und grenzt die Erkrankung beispielsweise von Herpes-simplex-Enzephalitis und Creutzfeld-Jakob-Krankheit zuverlässig ab.[8]
Als Spätfolgen sind hippocampale Atrophie oder mesiale Temporallappensklerose mit Gedächtnisdefiziten möglich.[9]
EEG
Häufig finden sich fokale Verlangsamungen oder epileptiforme Potentiale temporaler Ableitungen. Bei faziobrachialen dystonen Anfällen zeigt sich meist keine korrelierende iktale Aktivität.
Differentialdiagnosen
Die Kombination aus höherem Alter, limbischer Enzephalitis, faziobrachialen dystonen Anfällen, Hyponatriämie, typischen MRT-Befunden und LGI1-Antikörpernachweis ist sehr charakteristisch für die LGI1-Enzephalitis und grenzt die Erkrankung von anderen Enzephalopathien ab.
Zu den wichtigsten Differentialdiagnosen gehören:
- infektiöse Enzephalitis (insbesondere Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis)
- andere Autoimmunenzephalitiden (CASPR2-, GABA-B-, AMPA-, NMDA-R-, GAD-Antikörper-Enzephalitis)
- paraneoplastische limbische Enzephalitis (Hu-, Ma2-, CV2/CRMP5-Antikörper)
- neurodegenerative Erkrankungen (v.a. Creutzfeldt-Jakob-Krankheit)
- metabolische oder toxische Enzephalopathie
- primär psychiatrische Störungen
Therapie
Ziel der Akuttherapie ist die rasche Kontrolle der immunvermittelten Krankheitsaktivität und die Verhinderung irreversibler neuronaler Schäden. Ein früher Therapiebeginn verbessert nachweislich die Prognose.
Akuttherapie
Zur Erstbehandlung werden eingesetzt:
- hochdosierte intravenöse Glukokortikoide (Methylprednisolon 1 g i. v. über 3-5 Tage, anschließend langsames orales Ausschleichen)
- intravenöse Immunglobuline (0,4 g/kgKG über 5 Tage)
- Plasmapherese oder Immunadsorption bei schweren oder unzureichend ansprechenden Verläufen
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Glukokortikoide gelten als Therapie der ersten Wahl, da sie in Studien mit einer schnelleren und häufigeren klinischen Besserung assoziiert sind. IVIG oder Plasmapherese werden oft ergänzend eingesetzt, wobei Plasmapherese bei schweren Verläufen bevorzugt wird.
Unter der Akuttherapie bessern sich epileptische und kognitive Symptome, insbesondere die faziobrachialen dystonen Anfälle, meist innerhalb weniger Tage. Bei unzureichendem Ansprechen auf die Akuttherapie oder bei schwerem Verlauf wird eine Eskalation mit Rituximab empfohlen.
Anfallssuppressive Therapie
Eine anfallsuppressive Therapie kann bei epileptischen Anfällen ergänzend erfolgen. Bei faziobrachialen dystonen Anfällen ist die Wirksamkeit antiepileptischer Medikamente jedoch gering, sodass die Immuntherapie im Vordergrund steht. Nach erfolgreicher Behandlung kann die antikonvulsive Medikation in der Regel reduziert oder beendet werden.
Erhaltungstherapie
Die Erkrankung verläuft in der Regel monophasisch, sodass eine Erhaltungstherapie meist nicht erforderlich ist.
Zur Rezidivprophylaxe kann in ausgewählten Fällen eine zeitlich begrenzte Immuntherapie erwogen werden, insbesondere bei hohem Rückfallrisiko oder nach einem bereits aufgetretenen Rezidiv. Der Einsatz von Rituximab ist hierbei am besten belegt.
Langfristig ist eine neurologische, neuropsychologische und psychiatrische Nachsorge sinnvoll, um Residualsymptome zu erkennen und gezielt zu behandeln. Ergänzend sollte eine strukturierte Schlaf- und Epilepsiediagnostik erfolgen.
Prognose
Die Prognose ist bei frühzeitiger Diagnosestellung und konsequenter Immuntherapie in der Regel gut. Nach 12 Monaten erreichen etwa 80 % der Patienten ein gutes funktionelles Outcome (mRS ≤ 2).[10] Trotz funktioneller Besserung bestehen jedoch bei ungefähr zwei Drittel der Fälle weiterhin kognitive Restdefizite.[11] Eine Epilepsie tritt längerfristig bei etwa 10-15 % der Patienten auf.[12]
Insgesamt kommt es in etwa 15-25 % der Fälle zu Rezidiven, die in der Regel innerhalb der ersten zwei Jahre auftreten, aber milder verlaufen als die Erstepisode.[12]
Quellen
- ↑ Lai et al. Investigation of LGI1 as the antigen in limbic encephalitis previously attributed to potassium channels: a case series. The Lancet Neurology, 2010
- ↑ Irani et al. Faciobrachial dystonic seizures precede Lgi1 antibody limbic encephalitis. Annals of Neurology, 2011
- ↑ Irani et al. Faciobrachial dystonic seizures: the influence of immunotherapy on seizure control and prevention of cognitive impairment in a broadening phenotype. Brain, 2013
- ↑ Zuliani et al. Epidemiology of neuronal surface antibody-mediated autoimmune encephalitis and antibody-based diagnostics. Journal of Neuroimmunology, 2021
- ↑ Fukata et al., Epilepsy-related ligand/receptor complex LGI1 and ADAM22 regulate synaptic transmission. Science, 2006
- ↑ Ohkawa et al. Autoantibodies to epilepsy-related LGI1 in limbic encephalitis neutralize LGI1–ADAM22 interaction and reduce synaptic AMPA receptors. Journal of Neuroscience, 2013
- ↑ Almeida et al. MR Imaging Findings in Anti-Leucine-Rich Glioma Inactivated Protein 1 Encephalitis: A Systematic Review and Meta-analysis. AJNR American Journal of Neuroradiology, 2024
- ↑ Kelly MJ et al. Magnetic resonance imaging characteristics of LGI1-antibody and CASPR2-antibody encephalitis. JAMA Neurology, 2024
- ↑ Finke et al. Evaluation of cognitive deficits and structural hippocampal damage in encephalitis with leucine-rich, glioma-inactivated 1 antibodies. JAMA Neurology, 2017
- ↑ Seery N et al. Acute and Long-Term Immune-Treatment Strategies in Anti-LGI1 Antibody–Mediated Encephalitis. Neurology Neuroimmunology and Neuroinflammation, 2025.
- ↑ Galioto R et al. Cognitive outcomes in anti-LGI1 encephalitis. Journal of the International Neuropsychological Society. 2023
- ↑ 12,0 12,1 Campetella L et al. Predictors and Clinical Characteristics of Relapses in LGI1-Antibody Encephalitis. Neurology Neuroimmunology and Neuroinflammation, 2024