Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie
Synonyme: PNH, Marchiafava-Micheli-Syndrom, Marchiafava-Anämie
Englisch: paroxysmal nocturnal hemoglobinuria
Definition
Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie, kurz PNH, ist eine genetisch bedingte Erkrankung, die durch hämolytische Anämie, Thrombophilie und Panzytopenie gekennzeichnet ist. Ihr liegt eine erworbene klonale Störung der hämatopoetischen Stammzellen des Knochenmarks zugrunde.
- ICD-10-Code: D59.5
Geschichte
Erstmals wurde die Symptomatik dieser Erkrankung 1882 von Strübling beschrieben. Danach wurde sie von Marchiafava und Micheli 1911 ausführlicher in der Literatur erwähnt.
Epidemiologie
Die PNH ist eine sehr seltene Erkrankung mit einer Inzidenz von 1/100.000 bis 1/500.000. Die Prävalenz wird auf etwa 5 pro 1 Million Einwohner geschätzt. Meist manifestiert sich die PNH zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr und unabhängig vom Geschlecht. Eine familiäre Häufung beziehungsweise ein erbliches Risiko ist nicht beschrieben.
Ätiologie
Die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie beruht auf einer Mutation des Gens für Phosphatidyl-Inositol-Glykan-A (PIGA) in den multipotenten hämatopoetischen Stammzellen im Knochenmark. Da es sich um eine somatische Mutation handelt, existieren sowohl gesunde als auch betroffene Zellklone in allen drei hämatopoetischen Zellreihen. Der Gendefekt der Mutation ist auf dem X-Chromosom lokalisiert.
PIGA ist die katalytische Untereinheit der Phosphatidylinositol-N-Acetylglucosaminyl-Transferase. Dieses Enzym überträgt UDP-N-Acetylglucosamin auf Phosphatidylinositol, wodurch N-Acetylglucosaminyl-Phosphatidylinositol (GlcNAc-PI) entsteht - der erste Schritt der Biosynthese des sogenannten GPI-Ankers. Der GPI-Anker fixiert bestimmte Proteine durch Peptidbrücken an der Oberfläche der Zellmembran. Zu diesen gebundenen Proteinen zählen insbesondere:
- Complement Decay Accelerating Factor (DAF oder CD55)
- Membran Inhibitor of Reactive Lysis (MIRL oder CD59)
Beide Komponenten hemmen das Komplementsystem bzw. die Insertion des terminalen Membranangriffskomplexes (C5b - C9). Dadurch wird die Zelle vor dem körpereigenen Komplementsystem geschützt.
Pathophysiologie
Durch Fehlen des GPI-Ankers mit entsprechendem Wegfall der komplementregulierenden Oberflächenproteine ist die Erythrozytenmembran unzureichend geschützt. Dieser intrinsische (korpuskuläre) Defekt der Erythrozyten führt zu einer gesteigerten Vulnerabilität gegenüber dem Komplementsystem. Die Folge ist eine intravasale Hämolyse. Zusätzlich können Infektionen und andere Situationen über Komplementaktivierung zu einer Exazerbation der Hämolyse führen.
Die intravasale Hämolyse führt unter anderem zur Entstehung von freiem Hämoglobin im Blut, welches Stickstoffmonoxid bindet. Die Folge ist eine endotheliale Dysfunktion mit konsekutiver Kontraktion der glatten Muskulatur, Thrombozytenaktivierung und -aggregation. Dies bedingt ein erhöhtes Risiko für Thromboembolien.
Einteilung
Die PNH lässt sich in drei Formen einteilen:
- Primäre (klassische) PNH ohne zugrundeliegende Störung des Knochenmarks
- Sekundäre PNH im Rahmen von anderen Knochenmarkserkrankungen, z.B. aplastischer Anämie, myelodysplastischem Syndrom, myeloproliferativem Syndrom
- Subklinische PNH: Kleine GPI-defiziente Population, die jedoch keine laborchemischen oder klinischen Zeichen einer Hämolyse hervorruft
Symptome
Die typische Trias besteht aus:
- Chronischer intravasaler hämolytischer Anämie mit rezidivierenden hämolytischen Krisen
- Thromboembolien: Insbesondere venöse Thrombosen an atypischen Stellen
- Zytopenien: Leukopenie und/oder Thrombopenie durch Knochenmarkinsuffizienz
Hämoglobinurie
Die namensgebende nächtliche Hämoglobinurie tritt nur in 25 % der Fälle auf. Meist finden sich allenfalls intermittierende Episoden ohne Beziehung zum Tag-Nacht-Rhythmus.
Chronische Hämolyse
Die meisten Patienten gehen initial aufgrund einer Anämie zum Arzt. Die chronische Hämolyse zeigt sich mit
- allgemeinen Anämiesymptomen: Abgeschlagenheit, Leistungsminderung, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Belastungsdyspnoe, Tachykardie, Schwindel
- Symptomen der chronischen Hämolyse: : Ikterus, Splenomegalie, Gallensteine, chronische Niereninsuffizienz
Im Rahmen von Infekten, Stress, Hormonumstellungen, Operationen oder einer Kontrastmittelgabe kann es zu hämolytischen Krise kommen. Neben Hämoglobinurie, Fieber und Schüttelfrost besteht das Risiko eines akuten Nierenversagens. Aufgrund der NO-Bindung durch freies Hämoglobin können vasokonstriktorische Komplikationen mit Kopf-, Bauch- und Rückenschmerzen, Dysphagie (Ösophagusspasmen), pulmonaler und arterieller Hypertonie, erektiler Dysfunktion sowie neurologischen Symptomen entstehen.
Thromboembolie
Die Thrombophilie verursacht venöse Thrombosen, vornehmlich an atypischen Stellen:
- Milzvenen
- Pfortader
- Lebervenen (Budd-Chiari-Syndrom) mit Hepatomegalie und Aszites
- Sinusvenenthrombose z.B. im Sinus cavernosus des ZNS
- Hautvenen
Zum Teil entstehen auch arterielle Thromboembolien (Myokardinfarkt, Schlaganfall).
Zytopenie
Die Zytopenie reicht von einer subklinischen Verminderung einzelner Zellreihen bis hin zur Panzytopenie. Dabei erhöht die Neutropenie das Risiko für Infektionen, während die Thrombopenie zu Blutungen führen kann.
Zum Teil finden sich PNH-Patienten, bei denen die Hämolyse im Verlauf milder wird, während die Zytopenie gleichzeitig zunimmt, bis diese in eine aplastische Anämie mündet. Meistens geht der PNH jedoch eine aplastische Anämie voraus.
Diagnostik
Blutbild
Die Anämie ist ein relativ konstant auftretender Laborbefund bei der PNH. Das Spektrum reicht dabei von leichten bis sehr schweren Verläufen. In der Regel ist sie normochrom (MCH), aufgrund der Retikulozytose jedoch makrozytär (MCV, Hyperregeneratorische Anämie). Im Verlauf kann ein Eisenmangel entstehen, sodass die Erythrozyten mikrozytär werden.
Neben der Anämie zeigt sich in einigen Fällen im Blutbild eine Leukopenie (Neutropenie) und Thrombopenie. Des Weiteren kann eine Poikilozytose vorliegen, d.h. es kommen verschieden geformte, entrundete Erythrozyten im peripheren Blut vor. In der Price-Jones-Kurve entstehen dadurch mehrere Maxima.
Als Hämolyseparameter finden sich ein erhöhtes indirektes Bilirubin, eine erhöhte LDH sowie ein erniedrigtes Haptoglobin. Der direkte Coombs-Test fällt negativ aus.
Urindiagnostik
In einer Urin-Stichprobe kann eine Hämoglobinurie möglich sein, wobei sich erhebliche tageszeitliche Variationen zeigen können. Daher sollten serielle Proben entnommen werden.
Durchflusszytometrie
Der heutige Goldstandard zur diagnostischen Sicherung ist die Durchflusszytometrie der GPI-verankerten Membranantigene oder des GPI-Ankers (Fluorescently Labeled Aerolysin, FLAER) auf Granulozyten, Monozyten, Lymphozyten, Erythrozyten und Retikulozyten. Typischerweise zeigt sich eine bimodale Verteilung mit Nachweis einer CD59- und CD55-negativen Zellpopulation. Als diagnostisches Minimalkriterium gilt eine GPI-defiziente Population für mindestens zwei verschiedene GPI-verankerte Proteine auf zwei verschiedenen Zelllinien.
Knochenmarkzytologie
Das Knochenmark zeigt sich zellreich mit leicht bis massiv erhöhter Hyperplasie der Erythropoese. Diese geht oft einher mit einer Dyserythropoese, die jedoch nicht Ausdruck eines MDS ist. Sie ist entsteht vielmehr reaktiv sowie aufgrund eines Folsäure- und Vitamin-B12-Mangels. Im Verlauf wird das Knochenmark oft hypozellulär oder aplastisch.
Differenzialdiagnostik
Eine PNH muss abgegrenzt werden von anderen Coombs-negativen hämolytischen Anämien, z.B. von einer thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura (TTP). Bei dieser zeigen sich im Ausstrich typischerweise Fragmentozyten. Weiterhin müssen Ursachen einer sekundären PNH abgeklärt werden. Hierbei kann die Messung der alkalischen Leukozytenphosphatase helfen, deren Konzentration bei der PNH typischerweise erniedrigt ist.
Therapie
Ein kausale Therapie, die den Gendefekt beseitigt, ist zur Zeit (2021) nicht möglich. Jedoch kann kurativ eine allogene Knochenmarktransplantation durchgeführt werden. Aufgrund der hohen transplantationsassoziierten Mortalität wird diese nur bei schwerer Aplasie, nicht beherrschbaren hämolytischen Krisen oder rezidivierenden Thromboembolien in Erwägung gezogen.
Biologika
Eculizumab ist ein seit Juni 2007 in Europa zugelassenes spezifisches Therapeutikum. Als humanisierter monoklonaler Antikörper gegen den Komplementfaktor C5 blockiert es die terminale Komplementstrecke und reduziert signifikant die intravasale Hämolyse. Ob die Thrombophilie beseitigt werden kann, ist aktuell (2023) noch ungeklärt.
Obwohl die Erythrozyten nicht mehr durch den Membranangriffskomplex zerstört werden, bleiben einige Patienten trotzdem transfusionspflichtig, da die Zellen noch durch C3-Fragmente opsoniert und von Makrophagen hämolysiert werden. Deshalb zeigen Patienten unter Eculizumab-Therapie auch eine positive Coombs-Reaktion als Zeichen der extravasalen Hämolyse.
Eculizumab wird alle 14 Tage intravenös verabreicht. Dabei muss ein erhöhtes Risiko für Infektionen mit Neisserien (insbesondere Neisseria meningitidis) beachtet werden. Empfohlen wird eine vorherige Impfung mit dem tetravalenten Konjugatimpfstoff gegen A, C, W, Y und eine Impfung gegen Meningokokken B. Alternativ kann eine antibiotische Prophylaxe für mindestens 2 Wochen erwogen werden.
Im Juli 2019 wurde mit Ravulizumab ein weiterer monoklonaler Antikörper in Europa zugelassen. Pegcetacoplan, ein pegyliertes Peptid, das den Komplementfaktor C3 hemmt, ist seit Ende 2021 in der EU verfügbar.
Antikoagulation
Bei bereits stattgehabter Thromboembolie sollte eine lebenslange Antikoagulation erfolgen. Ob eine Primärprophylaxe notwendig ist, wird individuell entschieden. Eingesetzt werden:
- Niedermolekulares Heparin: 1 mal pro Tag subkutan, insbesondere während der Schwangerschaft
- Phenprocoumon: Als Substrat von CYP450-Isoenzymen können pharmakokinetische Wechselwirkungen entstehen
Bei schweren thromboembolischen Komplikationen kann eine Lysetherapie notwendig sein.
Weitere supportive Therapie
Zwingend erforderlich ist ein Substitution von Folsäure (5 mg pro Tag) sowie je nach Laborwerten eine Gabe von Vitamin-B12 und Eisen. Je nach Bedarf können weitere supportive Maßnahmen erfolgen, dazu zählen:
- Erythrozytenkonzentrate
- Antibiotika: Frühzeitig bei Infekten zur Vermeidung von hämolytischen Krisen
- Analgetika (z.B. Paracetamol): Bei schmerzhaften Krisen
- Glukokortikoide (z.B. Prednisolon): Bis 1 mg/Kg/ Tag als empirische Maßnahme während einer hämolytischen Krise. Kortikoide sollen die hämolytische Wirkung des Komplementsystems abschwächen. Ein gesicherten Nutzen besteht nicht und eine Dauertherapie ist nicht indiziert.
- Bei aplastischer Anämie: Antilymphozytenglobulin und Ciclosporin A können die Thrombo- und Neutropenie verbessern
Prognose
Die PNH zeigt einen sehr variablen Verlauf. Ohne spezifische Therapie versterben ca. 35 % in den ersten 5 Jahren nach Diagnosestellung. Unter Eculizumab konnte teilweise eine Normalisierung der Lebenserwartung erreicht werden.
Negative prognostische Faktoren sind:
- GPI-defiziente Granulozytenpopulation über 50 %
- LDH über dem 1,5fachen der Norm
- Häufige abdominelle Schmerzkrisen
Ein Übergang in eine aplastische Anämie, in eine akute myeloische Leukämie sowie in ein myelodysplastisches Syndrom ist möglich. Einzelfälle einer spontanen Remission sind dokumentiert. Die häufigsten Todesursachen sind fulminant verlaufende Thromboembolien, unkontrollierte Infektionen sowie Blutungsereignisse.
Literatur
- Hill, A., Hillmen, P et al : Sustained response and longterm safety of eculizumab in paroxymal nocturnal hemoglobinuria. Blood, 2005; 106: 2559-65
- Zao, M., Shao, Z. et al, Clinical analysis of 78 cases of PNH diagnosed in the past 10 years; Chin. Med. J. (english); 2002; 114; 398-401
- Suttorp N. et al., Harrisons Innere Medizin, Hrsg. 19. Auflage. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag; 2016
- Herold, G.: Innere Medizin 2019. Köln: Gerd Herold, 2018