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Lenacapavir

Handelsname: Sunlenca®
Synonyme: GS-6207, Lenacapavirum
Englisch: lenacapavir

1. Definition

Lenacapavir ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Virostatika. Es handelt sich um den ersten Kapsid-Inhibitor, der zur Behandlung und Präexpositionsprophylaxe (PrEP) einer HIV-Infektion eingesetzt wird.

2. Chemie

Lenacapavir ist ein Indazol- und Pyridin-Derivat. Die Summenformel lautet C39H32ClF10N7O5S2 . Der chemische Name ist

  • N-[(1S)-1-[3-[4-Chloro-3-(methanesulfonamido)-1-(2,2,2-trifluoroethyl)indazol-7-yl]-6-(3-methyl-3-methylsulfonylbut-1-ynyl)pyridin-2-yl]-2-(3,5-difluorophenyl)ethyl]-2-[(2S,4R)-5,5-difluoro-9-(trifluoromethyl)-7,8-diazatricyclo[4.3.0.02,4]nona-1(6),8-dien-7-yl]acetamid (IUPAC)

Die molare Masse beträgt 968,3 g/mol, der Oktanol-Wasser-Koeffizient (logP) 6,47. Die CAS-Nummer lautet 2189684-44-2. Als Arzneistoff wird das Natriumsalz verwendet, das in Wasser praktisch unlöslich ist.

3. Wirkmechanismus

Lenacapavir hemmt spezifisch die Replikation aller Gruppen und Subtypen des humanen Immundefizienzvirus Typ 1 (HIV-1). Es entfaltet seine antiretrovirale Wirkung durch eine mehrstufige, selektive Bindung an die Schnittstellen zwischen den Untereinheiten der Hexamere des Kapsidproteins p24.[1] Die kapsidvermittelte Aufnahme von proviraler HIV-1-DNA aus dem Zytosol der Wirtszellen in den Zellkern wird so blockiert. Durch eine Störung der Expression der gag- und gag/pol-Gene wird die Synthese von Kapsid-Untereinheiten und deren Assoziation gehemmt. Infolgedessen werden das Assembly[2] und die Freisetzung des Virus blockiert.[3][4]

4. Pharmakokinetik

Lenacapavir erreicht nach oraler Aufnahme nach 4 Stunden maximale Plasmaspiegel. Die Bioverfügbarkeit ist nach oraler Applikation gering (etwa 6 bis 10 %). Nach subkutaner Injektion wird Lenacapavir vollständig, aber sehr langsam absorbiert, sodass maximale Plasmaspiegel erst nach 77 bis 84 Tagen erreicht werden. Die Plasmaproteinbindung beträgt mehr als 98,5 %. Das Verteilungsvolumen wird nach oraler Verabreichung mit 19.240 Litern (ca. 275 l/kgKG), nach subkutaner Injektion mit 9.500 bis 11.700 Litern angegeben.

Die Biotransformation in der Leber erfolgt über das Cytochrom-P450-Isoenzym CYP3A und die UDP-Glucuronosyltransferase UGT1A1. Lenacapavir wird zu 76 % mit den Fäzes (zu 33 % unverändert) und zu weniger als 1 % mit dem Urin ausgeschieden. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt nach oraler Verabreichung 10 bis 12 Tage, nach subkutaner Injektion 8 bis 12 Wochen. Die antiretrovirale Wirkung hält bis zu 28 Wochen nach der letzten Injektion an. Lenacapavir kann aber bis zu 12 Monate oder länger im Plasma nachweisbar sein.[4][5]

5. Indikationen

Lenacapavir ist in Kombination mit anderen antiretroviralen Arzneimitteln zur Behandlung von Erwachsenen mit einer HIV-1-Infektion indiziert, bei denen aufgrund von (Multi-)Resistenz, Unverträglichkeit oder Sicherheitsbedenken kein anderes supprimierendes, antivirales Regime zusammengestellt werden kann.[3][4]

6. Klinische Studien

In einer klinischen Studie Phase 3 (PURPOSE 1) wurde die Wirksamkeit der PrEP mit Lenacapavir (2-mal jährlich 927 mg subkutan) mit der täglichen oralen Einnahme von Emtricitabin/Tenofoviralafenamid (200 mg/25 mg) bzw. Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil (200 mg/300 mg) bei Cisgender-Frauen verglichen. Die Studie erfolgte randomisiert und verblindet über einen Zeitraum von zwei Jahren. Während in der Lenacapavir-Gruppe keine HIV-Infektion auftrat, infizierten sich Personen in beiden oral behandelten Gruppen aufgrund mangelhafter Adhärenz (Compliance) (2,02 pro 100 Personenjahre bzw. 1,69 pro 100 Personenjahre; Vergleichswert ohne PrEP: 3,5 pro 100 Personenjahre).[6]

In einer weiteren klinischen Studie Phase 3 (PURPOSE 2) wurde die Wirksamkeit der PrEP mit Lenacapavir (2-mal jährlich 927 mg subkutan) mit der täglichen oralen Einnahme von Emtricitabine/Tenofovirdisoproxilfumarat (200 mg/300 mg) bei Cisgender-Männern, Transgender-Frauen, Transgender-Männern und Personen ohne Geschlechtszuordnung untersucht. Die Studie erfolgte randomisiert und verblindet über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren. Während in der Lenacapavir-Gruppe bei 2 von 2.179 Personen (0,10 pro 100 Personenjahre) durch eine N74D-Kapsidresistenzmutation im HI-Virus eine Infektion auftrat, infizierten sich 9 von 1.086 Personen (0,93 pro 100 Personenjahre; Vergleichswert ohne PrEP: 2,37 pro 100 Personenjahre) in der oral behandelten Gruppe aufgrund mangelhafter Adhärenz.[7]

7. Darreichungsform

Lenacapavir steht in Form von Filmtabletten zur oralen und als Injektionslösung zur subkutanen Anwendung zur Verfügung.

8. Dosierung

Das übliche Dosierungsschema umfasst folgende Schritte:[3][4]

  • Einleitungstherapie
    • Tag 1 und 2: 600 mg p.o. (2 x 300 mg)
    • Tag 8: 300 mg p.o.
    • Tag 15: 927 mg s.c.
  • Erhaltungstherapie
    • alle 6 Monate (26 Wochen; ± 2 Wochen) 927 mg s.c.

Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.

9. Nebenwirkungen

Die häufigsten unerwünschten Wirkungen von Lenacapavir sind:[4][5]

Auf Symptome eines Immunrekonstitutionssyndroms, einer überschießenden Entzündungsreaktion, die Wochen bis Monate nach Therapiebeginn auftreten kann, muss geachtet werden.[3][5]

10. Wechselwirkungen

Arzneimittel, die starke Induktoren von CYP3A, P-gp und UGT1A1 sind (z.B. Rifampicin, Carbamazepin, Phenytoin, Johanniskraut), können die Wirkung von Lenacapavir verringern, sodass es zum Verlust der therapeutischen Wirkung und einer Resistenzentwicklung kommen kann.[3][4]

Arzneimittel, die starke Inhibitoren von CYP3A, P‑gp und UGT1A1 (z.B. Atazanavir/Cobicistat) sind, können die Wirkung von Lenacapavir verstärken.[4]

Lenacapavir kann bis 9 Monate nach der letzten subkutanen Applikation zu einer Wirkungsverstärkung von Arzneistoffen führen, die hauptsächlich durch CYP3A metabolisiert werden.[5]

Ausführliche Informationen zu möglichen Interaktionen enthalten die Fachinformationen.[3][4][5]

11. Kontraindikationen

  • Überempfindlichkeit gegen Lenacapavir oder einen der sonstigen Bestandteile des Arzneimittels
  • gleichzeitige Anwendung mit starken CYP3A-, P-gp- und UGT1A1-Induktoren
  • gleichzeitige Anwendung mit starken Inhibitoren von CYP3A, P-gp und UGT1A1

12. Schwangerschaft und Stillzeit

Tierexperimentelle Studien ergaben keine Hinweise auf reproduktionstoxische Wirkungen. Bei der Anwendung bei Frauen im gebärfähigen Alter muss eine Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. Dabei ist die lange Persistenz von Lenacapavir zu berücksichtigen. Eine Anwendung während der Schwangerschaft sollte vermieden werden, es sei denn, der klinische Zustand der Frau erfordert eine Behandlung.[3][4]

Es ist nicht bekannt, ob Lenacapavir in die Muttermilch übertritt. Ob das Stillen unter der Behandlung zu unterbrechen ist oder auf die Behandlung während der Stillzeit verzichtet werden soll, ist im Einzelfall zu entscheiden.

13. Toxizität

Es liegen aktuell (2024) keine Erfahrungen zur Symptomatik einer Überdosierung oder Vergiftung mit Lenacapavir vor. Eine primäre Giftentfernung durch Verabreichung von Aktivkohle kann innerhalb einer Stunde nach der Ingestion erfolgen. Unmittelbar nach subkutaner Injektion einer sehr hohen Dosis ist eine Exzision der Injektionsstelle zu erwägen. Die weitere Behandlung erfolgt in jedem Fall symptomatisch. Ein spezifisches Antidot steht bisher (2024) nicht zur Verfügung. Aufgrund seiner pharmakokinetischen Eigenschaften (hohe Plasmaproteinbindung; großes Verteilungsvolumen) ist eine sekundäre Giftentfernung durch Hämodialyse nicht effektiv.

14. Zulassung

Lenacapavir wurde 2022 durch die EMA in der EU[8] und die FDA in den USA[9] und 2023 durch Swissmedic in der Schweiz[4] zugelassen. Da die Zulassungsstudie von Lenacapavir nicht den Kriterien eines Nutzenbewertungsverfahrens entspricht, hat der Hersteller Lenacapavir bislang nicht auf dem deutschen Markt eingeführt. Grundsätzlich ist das Arzneimittel bei entsprechender Verordnung jedoch über internationale Apotheken verfügbar.

15. Kosten

Die Jahrestherapiekosten in vergleichbaren Märkten liegen derzeit (2024) bei etwa 40.000 Euro.

16. ATC-Code

  • J05AX31- Antiinfektiva zur systemischen Anwendung - Antivirale Mittel zur systemischen Anwendung - Direkt wirkende Antivirale Mittel - Andere antivirale Mittel

17. Quellen

  1. Rossi E et al. Structure, Function, and Interactions of the HIV-1 Capsid Protein. Life (Basel). 2021
  2. Overview of Retroviral Assembly. Retroviruses, abgerufen am 28.11.2024
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels Sunlenca, EMA, abgerufen am 28.11.2024
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 4,5 4,6 4,7 4,8 4,9 Fachinformation Sunlenca, Swissmedic, abgerufen am 28.11.2024
  5. 5,0 5,1 5,2 5,3 5,4 Full Prescribing Information Sunlenca, FDA, abgerufen am 28.11.2024
  6. Bekker LG et al. Twice-Yearly Lenacapavir or Daily F/TAF for HIV Prevention in Cisgender Women. N Engl J Med. 2024
  7. Kelley CF et al. Twice-Yearly Lenacapavir for HIV Prevention in Men and Gender-Diverse Persons. N Engl J Med. 2024
  8. Sunlenca, EMA, abgerufen am 28.11.2024
  9. Paik J. Lenacapavir: First Approval. Drugs. 2022

18. Weblinks

Stichworte: HIV Typ I, Virostatikum
Fachgebiete: Arzneimittel, Pharmakologie

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30.11.2024, 17:18
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