Körperliche Misshandlung (Kind)
Synonym: physische Misshandlung
Englisch: physical abuse
Definition
Unter körperlicher Misshandlung eines Kindes versteht man die bewusste Anwendung von körperlicher Gewalt, die zu vorübergehenden oder bleibenden Verletzungen führt. Es handelt sich um eine Form der Kindesmisshandlung.
Hintergrund
Sexueller Missbrauch und körperliche Vernachlässigung können mit körperlicher Misshandlung einhergehen, werden jedoch in separaten Artikeln behandelt.
Epidemiologie
Das tatsächliche Ausmaß körperlicher Misshandlung von Kindern ist unbekannt. Retrospektive Befragungen zum Thema beziffern die Prävalenz von körperlicher Misshandlung in Deutschland auf über 12 %. Davon wurden 5,8 % als gering bis mäßig, 3,3 % als mäßig bis schwer und 3,4 % als schwer bis extrem eingestuft.[1] Jungen und Mädchen sind dabei gleichermaßen betroffen.
Es ist von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen.
Ätiologie
Die Ursachen und Risikofaktoren für körperliche Misshandlung sowie andere Formen der Kindesmisshandlung sind vielfältig. Sie basieren u.a. auf bestimmten Merkmalen der Misshandelnden und der betroffenen Kindern sowie auf sozialen Bedingungen.
siehe Hauptartikel: Kindesmisshandlung
Symptomatik
Neben den psychischen Symptomen, Entwicklungsverzögerungen und Verhaltensauffälligkeiten, die Kinder im Rahmen von körperlicher Misshandlung entwickeln, spielen bei der Diagnostik insbesondere somatische Befunde eine wichtige Rolle.
Für alle Symptome gilt, dass eine fehlende, wechselnde oder unpassende Anamnese sowie eine zeitlich verzögerte ärztliche Vorstellung eine Misshandlung als Ursache wahrscheinlicher machen.
In 90 % der Fälle finden sich Symptome an der Haut der betroffenen Patienten. Zu den typischen Befunden zählen:
- Hämatome, misshandlungsverdächtig sind insbesondere:
- Geformte Hämatome (als Abdruck eines Gegenstandes, z.B. eines Kochlöffels oder einer Hand)
- Gruppierte Hämatome
- Hämatome unterschiedlichen Alters (Cave: Altersbestimmung ist mit einer großen Unsicherheit vergesellschaftet)
- charakteristische Lokalisationen
- bei allen Altersgruppen: im Bereich der Ohren, der Kieferwinkel, des Halses, der Hände, der Waden und der Genitalien
- bei mobilen Säuglingen und Kleinkindern: im Bereich des vorderen Thorax, des Abdomens und des Gesäßes
- Petechien
- Petechiale Einblutungen im Gesicht und den Bindehäuten oder im Bereich von Fesselungen
- Hautverletzungen wie Schürfungen, Schnitt- oder Stichverletzungen
- Frakturen, misshandlungsverdächtig sind insbesondere:
- Frakturen bei prämobilen Kindern
- Rippenfrakturen
- Metaphysäre Frakturen
- Frakturen der Scapulae und des Sternums
- Innere Verletzungen (eher selten, sind aber die zweithäufigste Todesursache in letal verlaufenden Fällen)
- Verletzung von Hohlorganen, Darmwandhämatome oder intestinale Rupturen (insb. Duodenum), Verletzungen von Pankreas und (linker) Leber
- Nicht-akzidentelles Schädel-Hirn-Trauma (NASHT)
- Retinale Blutungen
- Subduralhämatome
- Enzephalopathie und Bewusstseinsverlust
- Apnoe
- Anfälle
- Ggf. äußere Verletzungen und Frakturen beim Shaken-Impact-Syndrom
Komplikationen
Die Folgen von körperlicher Misshandlung sind akute Schmerzen. In schweren Fällen können lebensbedrohliche innere oder intrakranielle Verletzungen auftreten.
Sind die Kinder über einen längeren Zeitraum von körperlicher Misshandlung betroffen, treten im Verlauf Entwicklungsverzögerungen, psychische Symptome und Verhaltensauffälligkeiten hinzu. Langfristig haben misshandelte Kinder ein erhöhtes Risiko für Drogenmissbrauch, Suizidalität, Typ-2-Diabetes, Krebserkrankungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Diagnostik
Die körperliche Untersuchung sollte immer am vollständig entkleideten Kind erfolgen und die Prädilektionsstellen für Verletzungen einbeziehen (enoral, behaarte Kopfhaut und Genitale). Labor- und apparative Diagnostik sind je nach Verletzungsmuster und Alter indiziert. In Erwägung gezogen werden sollte bei misshandlungsverdächtigen Verletzungen, insbesondere bei jüngeren Kindern:
- Fotodokumentation mit Winkellineal (Übersicht- und Detailaufnahmen)
- Röntgen-Skelettscreening
- MRT
- Abdomen-Sonographie
- Funduskopie (nach Möglichkeit mit Fotodokumentation)
- Labordiagnostik
- Gerinnung: INR, aPTT, Fibrinogen, Differentialblutbild; bei Auffälligkeiten ggf. Einzelfaktoren (XIII, VIII und XI bei männlichen Patienten), Von-Willebrand-Faktor und Thrombozytenfunktion
- Knochenstoffwechsel: Blutbild und Urinuntersuchung
Bildgebung
Konventionelles Röntgen
Bei begründetem Verdacht auf körperliche Misshandlung sollte ein standardisiertes Röntgen-Skelettscreening erfolgen. Dieses besteht aus Aufnahmen des Schädels, des Thorax und der Extremitäten.
siehe Hauptartikel: Röntgen-Skelettscreening
Computertomographie
Die Computertomographie (CT) kommt nur in begründeten Einzelfällen zum Einsatz, z.B. notfallmäßig bei NASHT.
Magnetresonanztomographie
In der Magnetresonanztomographie (MRT) können ein Knochenmarködem oder eine Epiphysenfugenverletzung sowie assoziierte Verletzungen der Weichteile (Muskelödem, Hämatom, subkutane Kontusionen) auffallen.
Bei einem NASHT zeigen sich beispielsweise subdurale, subarachnoidale und intrazerebrale Blutungen sowie Kalottenfrakturen.
Knochenszintigraphie
Die Knochenszintigraphie kann bei nicht eindeutigem Skelettscreening und hohem klinischen Verdacht eingesetzt werden. Frakturen unterschiedlichen Alters deuten auf eine Kindesmisshandlung hin.
Differenzialdiagnosen
Folgende Differenzialdiagnosen kommen radiologisch in Frage:
- Metabolische Knochenerkrankungen: Beispielsweise finden sich bei der Rachitis ebenfalls metaphysäre Unregelmäßigkeiten und subperiostale Knochenneubildungen.
- Neoplasien: Bei der Leukämie kommen metaphysäre Aufhellungsbänder und subperiostale Knochenneubildungen vor.
- Myelomeningozele: kann zu einer verminderten Sensibilität in der unteren Extremität und somit zu einem erhöhten Frakturrisiko führen.
- Kongenitale Erkrankungen mit gestörter Sensitivität der unteren Extremität und folglich erhöhtem Frakturrisiko: Osteogenesis imperfecta, spondyloepiphysäre Dysplasie, metaphysäre Chondrodysplasie
Hierbei ist zu beachten, dass chronisch kranke und behinderte Kinder ein erhöhtes Risiko haben, von Misshandlung betroffen zu sein. Veränderungen im Knochenstoffwechsel (z.B. im Rahmen einer chronischen Erkrankung) sind daher nicht hinreichend, um eine Misshandlung auszuschließen.
Vorgehen
Das Vorgehen beinhaltet je nach Gefährdungseinschätzung durch das Behandlungsteam und Wahrscheinlichkeit einer Misshandlung:
- Unterstützungs- und Entlastungsangebote für die Familie
- Frühe Hilfen
- Eine erhöhte Konsultationsfrequenz (meist allein nicht ausreichend)
- Die Einbeziehung des Jugendamtes nach §4 Kinderschutzgesetz und Mitarbeit am Schutzkonzept für das betroffene Kind
- Psychotherapeutische Angebote
Leitlinie
Quellen
- ↑ Witt et al., Child maltreatment in Germany: prevalence rates in the general population, Child Adolesc Psychiatry Ment Health, 2017
Artikel wurde in Kooperation mit der Medizinischen Kinderschutzhotline erstellt. |