Sexueller Missbrauch (Kind)
Synonym: sexualisierte Gewalt gegen Kinder
Englisch: sexual abuse
Definition
Unter sexuellem Missbrauch bei Kindern versteht man in der Medizin sexuelle Handlungen, die das betroffene Kind in seiner Integrität verletzen und ihm psychischen und/oder physischen Schaden zufügen.
Rechtliche Definition
Die Definition gemäß der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung lautet:
"Sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen und Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen."[1]
Der Machtaspekt ist hierbei entscheidend. Aufgrund des bestehenden Machtgefälles kann es per Definition keine einvernehmlichen Handlungen zwischen deutlich älteren Personen und Kindern unter 14 Jahren geben. Ausnahmen können bestehen, wenn es sich um einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Personen mit einem geringen Altersunterschied handelt.
Nomenklatur
In der Literatur wird der ältere Begriff des sexuellen Missbrauchs zunehmend durch "sexualisierte Gewalt" ersetzt.
Epidemiologie
Dunkelfeldstudien schätzen die Prävalenz Minderjähriger für mindestens mittelgradigen sexuellen Missbrauch auf rund 8 %. In Risikopopulationen, wie Heranwachsenden in stationären Jugendhilfeeinrichtungen und Internaten kann die Prävalenz bis zu 50 % betragen, wenn sexuelle Übergriffe durch Gleichaltrige berücksichtigt werden.[2][3]
Formen
Sexualisierte Gewalt kann viele Formen annehmen. Für die medizinische Diagnostik ist entscheidend, ob ein Körperkontakt stattgefunden hat oder nicht. Entsprechend wird in Hands-off- und Hands-on-Formen untergliedert.
Hands-off-Formen
Zu den Hands-off-Formen zählen z.B.:
- verbale sexualisierte Gewalt
- das Masturbieren eines Täters vor dem Kind
- gemeinsames Betrachten von Pornografie
Diese Formen hinterlassen keine körperlichen Spuren, die später einer Diagnostik zugänglich wären.
Hands-on-Formen
Hands-on-Formen umfassen jegliche sexuelle Handlungen, bei der es zum direkten Körperkontakt kommt. Dabei sind leichtere Form häufig ebenfalls in der körperlichen Untersuchung nicht nachweisbar.
Lediglich spezifische Verletzungen des Kindes (inner- und außerhalb des Genitalbereiches), Schwangerschaft, fremde DNA-Spuren sowie der Nachweis sexuell übertragbarer Krankheiten (STD) erlauben einen somatisch sicheren Nachweis eines sexuellen Missbrauchs.
Dies ist jedoch nur in einem geringen Anteil der Fälle sexualisierter Gewalt möglich. Somit wird klar, dass ein körperlicher "Normalbefund" keinesfalls einen stattgehabten sexuellen Missbrauch ausschließen kann und der Aussage des betroffenen Kindes entscheidende Bedeutung zukommt.
Diagnostik
Abhängig von der (vermuteten) Art des sexuellen Übergriffes und dem (vermuteten) Abstand zum letzten Täterkontakt sieht die S3-Leitlinie Kinderschutz eine strukturierte Vorgehensweise vor. Diese umfasst folgende Bestandteile:
- Ganzkörperuntersuchung
- Anamnese
- Strukturierte Anamnese, d.h. nichtsuggestive Befragung durch eine entsprechend geschulte Person
- Anogenitale/kindergynäkologische Untersuchung
- Untersuchung auf sexuell übertragbare Erreger
- Schwangerschaftstest
- Spurensuche
- Psychischer Status
Entscheidend hierbei ist, dass der Wille des Kindes beachtet wird. Eine körperliche Untersuchung gegen Widerstand ist kontraindiziert.
Die früher gelegentlich praktizierte Untersuchung in Narkose ist ausschließlich bei Verdacht auf schwere Verletzungen, die akuten Handlungsbedarf haben, indiziert. Ansonsten wird über Folgetermine versucht, das nötige Vertrauen aufzubauen, um die entsprechenden Untersuchungen durchführen zu können.
Therapie
Bei der Therapie ist der Wille des betroffenen Kindes ebenso wegweisend wie bei der Diagnostik. Ggf. wird z.B. bei strikter Ablehnung einer körperlichen Untersuchung bei entsprechender Indikation eine Postexpositionsprophylaxe und Notfallkontrazeption zunächst auch ohne Untersuchung angeboten. Zu bedenken sind neben der Versorgung etwaiger Verletzungen:
- Notfallkontrazeption (Cave: Zeitfenster)
- Postexpositionsprophylaxe bakterieller und viraler STDs
- Spurensicherung (siehe auch Rechtliches)
- psychotherapeutische Intervention
- rechtliche Beratung, z.B. in Fachberatungsstelle
Rechtliches
Wie alle medizinischen Maßnahmen bedürfen auch Diagnostik und Therapie bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch der Einwilligung des Patienten, bzw. bei nicht einwilligungsfähigen Kindern der Einwilligung des Sorgeberechtigten. Dies kann insbesondere dann schwierig sein, wenn eine oder beide sorgeberechtigte Personen als Täter infrage kommen. Spätestens hier ist die Einbeziehung des Jugendamtes zu prüfen.
Eine Spurensicherung ist inzwischen fast bundesweit auch ohne vorangegangene Strafanzeige möglich. So kann innerhalb des kurzen Zeitfensters eine Spurensicherung sichergestellt werden, die Entscheidung über eine Strafanzeige kann danach in Ruhe erwogen werden.
Weblinks
Leitlinie
Quellen
- ↑ UBSKM - Definition von Kindesmissbrauch, abgerufen am 08.03.2023
- ↑ Allroggen et al., Lifetime prevalence and incidence of sexual victimization of adolescents in institutional care, Child Abuse Negl, 2017
- ↑ Witt et al., Child maltreatment in Germany: prevalence rates in the general population, Child Adolesc Psychiatry Ment Health, 2017
Artikel wurde in Kooperation mit der Medizinischen Kinderschutzhotline erstellt. |
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