Idiopathische infantile Hyperkalziämie
Englisch: idiopathic infantile hypercalcemia
Definition
Die idiopathische infantile Hyperkalziämie, kurz IIH, ist eine seltene, meist autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, der eine Störung des Vitamin-D-Stoffwechsels zugrunde liegt.
Terminologie
Der Begriff IIH ist eigentlich irreführend, da die Ätiologie mittlerweile häufig geklärt werden kann und sich die Erkrankung teils auch erst in der Jugend oder im Erwachsenenalter manifestiert.
Epidemiologie
Die Inzidenz wird auf 1 zu 33.000 Lebendgeburten geschätzt.
Ätiopathogenese
Die IIH entsteht durch eine Störung des Vitamin-D-Stoffwechsels. Dabei wurden verschiedene ursächliche Gendefekte beschrieben. Der Erbgang ist i.d.R. autosomal-rezessiv. Sowohl homozygote als auch compound- heterozygote Patienten können erkranken. Heterozygote Träger sind i.d.R. asymptomatisch oder zeigen nur einzelne Symptome. In seltenen Fälle wurden dominante Erbgänge beschrieben.
Eine mögliche Ursache sind Mutationen im CYP24A1-Gen auf Chromosom 20. Das Gen kodiert für die 24-Hydroxylase, die am Abbau von Vitamin D-Metaboliten beteiligt ist. Das Enzym inaktiviert sowohl die Speicherform (25(OH)D3) als auch die aktive Form (1,25(OH)2D3) von Vitamin D mittels Hydroxylierung. Bei verminderter Enzymfunktion kommt es zu einer vermehrten Calcium-Aufnahme in das Blut.
Eine weitere mögliche Ursache sind Mutationen im SLC34A1-Gen auf Chromosom 5. Das Gen kodiert für einen natriumabhängigen Phosphattransporter (NaPi-IIa). Dieser Transporter ist in der Membran von Nierenzellen vorhanden und kann bei Bedarf Phosphationen aus dem Urin zurück resorbieren. Bei einem Funktionsverlust des Transporters kommt es zu einem Phosphatmangel. Die entstehende Hypophosphatämie führt wiederum zu einer Hemmung von CYP24A1, mit oben genannten Folgen.
Klinik
Der Phänotyp der Erkrankung ist sehr variabel. Teils treten erste Symptome erst im Erwachsenenalter bei der Supplementation von Vitamin D auf. Im dritten Trimester einer Schwangerschaft ist das Risiko für eine symptomatische Hyperkalzämie besonders hoch, da es zu einer physiologischen Erhöhung der 1,25(OH)2D3-Konzentration kommt.
In den meisten Fällen handelt es sich um einen Zufallsbefund. In einer Laboruntersuchung fällt in der Regel ein leicht erhöhtes Serumcalcium auf. Mögliche Komplikationen sind:
- Nephrolithiasis
- Nephrokalzinose
- Chronische Niereninsuffizienz
- Osteoporose: aufgrund einer verstärkten Osteoklasten-Aktivität
- Arteriosklerose
- Kalzium-Ablagerungen in Gelenken oder Kornea
Bei einem kleinen Teil der Betroffenen manifestiert sich die IIH im Kindesalter akut durch Gewichtsverlust, Dehydratation mit Polyurie sowie eine muskuläre Hypotonie. Dazu kann Fieber bestehen. In Einzelfällen besteht Lebensgefahr.
Weitere mögliche Symptome einer akuten Hypokalzämie bei Kindern sind u.a. Muskelschwäche, Verwirrung, Bewusstseinsstörungen, Kopfschmerzen, gastrointestinale Beschwerden, Polyurie und Polydipsie, Nephrokalzinose, Nephrolithiasis, Knochenschmerzen oder Herzrhythmusstörungen.
Diagnostik
Neben der klinischen Untersuchung und der Anamnese steht vor allem die Laboruntersuchung im Mittelpunkt. Dabei werden verschiedene Parameter bestimmt:
- ionisiertes und Gesamtcalcium
- Ausschluss einer Vitamin-D-Intoxikation durch Bestimmung von 25-OH-D3
- Elektrolyte inklusive Phosphat, Blutgasanalyse
- Nierenretentionsparameter
- alkalische Phosphatase
- Parathormon
- Vitamin-D-Metaboliten, insbesondere erhöhtes aktives 1,25-OH2D3
- PTH-related peptide (PTHrP)
- Vitamin A
- Angiotensin converting enzyme (ACE)
Im Urin werden folgende Parameter bestimmt:
- Elektrolyte
- Kreatinin
- Calcium-Kreatinin-Quotient
Ist durch den Gendefekt das aktive Vitamin D erhöht, wird die Ausschüttung von Parathormon in der Nebenschilddrüse gehemmt. Es finden sich daher häufig erhöhte Vitamin D-Werte (Hyperkalzämie und Hyperkalziurie) bei erniedrigten PTH-Werten.
Ergänzend werden bildgebende Verfahren eingesetzt:
- Sonografie von Niere und Harnwegen, Nebenschilddrüsen
- Röntgen der langen Röhrenknochen
- Szintigrafie der Nebenschilddrüsen
Auslösende Mutationen können molekulargenetisch nachgewiesen werden.
Differenzialdiagnostik
Im Kindesalter sind die häufigsten Ursachen einer Hyperkalzämie ein primärer Hyperparathyreoidismus und eine Hyperkalzämie bei maligner Grunderkrankung. Weiterhin können andere seltene hereditäre Erkrankungen ursächlich sein, insbesondere im Säuglingsalter.
Therapie
Eine kausale Therapie existiert nicht (Stand 2024). Folgende allgemein supportive Maßnahmen werden angewendet:
- Calcium-arme Diät
- Vitamin-D-Restriktion
- ausreichende Hydrierung
- regelmäßige Laborkontrollen des Calciumspiegels und der Nierenwerte
- regelmäßiges Screening auf Folgeerkrankungen (Niereninsuffizienz, kardiovaskuläre Erkrankungen, Osteoporose, u.a.)
Medikamentös kann im Akutfall die renale Calciumausscheidung mittels Furosemid erhöht werden. Glukokortikoide hemmen die enterale Kalziumresorption und die Konversion von Vitamin D. Bisphosphonate können die Kalziumfreisetzung aus dem Knochen hemmen. Es gibt Fallberichte, bei denen Ketoconazol zur Hemmung der 1α-Hydroxylase, eingesetzt wurde, um die Produktion von aktivem Vitamin D zu verringern.
Literatur
- Schlingmann et al., Idiopathische infantile Hyperkalzämie, Die Nephrologie, 2012