Bilaterale Vestibulopathie
Definition
Eine bilaterale Vestibulopathie ist eine beidseitig auftretende Erkrankung des Gleichgewichtsorgans, die zu einem teilweisen oder vollständigen Ausfall des Organs führt. Sie gehört zu den Schwindelsyndromen.
Ursachen
In über 50 % d.F. lässt sich keine Ursache eruieren (idiopathisch). In diesen Fällen ist eine degenerative Erkrankung anzunehmen. Die häufigsten erkennbaren Ursachen sind:
- ototoxische Medikamente (13 %): Aminoglykoside, Zytostatika, Schleifendiuretika, Aspirin
- beidseitiger Morbus Menière (7 %)
- Meningitis (5 %)
Weitere mögliche Ursachen einer bilateralen Vestibulopathie sind u.a.:
- HNO-ärztliche Operationen
- zerebelläre Erkrankungen: CANVAS-Syndrom, spinozerebelläre Ataxien, Multisystematrophien
- Labyrinthitis (z.B. Streptokokken, Mycobacterium tuberculosis)
- Tumoren: bilaterale Akustikusneurinome bei Neurofibromatose Typ 2, Non-Hodgkin-Lymphom, Meningeosis carcinomatosa, Tumorinfiltration der Schädelbasis
- Autoimmunerkrankungen: Cogan-Syndrom, Neurosarkoidose, Morbus Behcet, zerebrale Vaskulitis, systemischer Lupus erythematodes, Polychondritis, rheumatoide Arthritis, Polyarteriitis nodosa, Granulomatose mit Polyangiitis, Riesenzellarteriitis, Antiphospholipid-Syndrom
- Neuropathien: Vitamin-B12-Mangel, Vitamin-B6-Mangel, hereditäre sensorische und motorische Neuropathie (HSMN IV)
- bilaterale sequenzielle Neuritis vestibularis
- kongenitale Fehlbildungen: z.B. Usher-Syndrom
- superfiziale Siderose
- beidseitige Felsenbeinfraktur
- Morbus Paget
- Makroglobulinämie
- vertebrobasiläre Dolichoektasie
Klinik
Patienten mit einer bilateralen Vestibulopathie klagen meist über einen bewegungsabhängigen Schwankschwindel und über eine Gang- und Standunsicherheit, die sich in Dunkelheit und auf unebenem Grund verstärkt. Im Sitzen und Liegen sind die Betroffenen i.d.R. beschwerdefrei. Ungefähr 40 % der Patienten bemerken ein Unscharfsehen beim Gehen und bei Kopfbewegungen (Oszillopsien). Außerdem treten Störungen des räumlichen Gedächtnisses und der Navigation auf, oft begleitend von einer Hippocampusatrophie.
Diagnose
Für die Diagnose einer bilateralen Vestibulopathie müssen mindestens zwei der folgenden 4 Kriterien vorliegen:
- Unsicherheit beim Gehen oder Stehen und/oder
- bewegungsinduziertes unscharfes Sehen bzw. Oszillopsien und/oder
- Verschlechterung des Schwankschwindels in der Dunkelheit und/oder auf unebenem Boden
- Keine Symptome beim Sitzen oder Liegen ohne translatorische Bewegungen
- Bilateral reduzierte/fehlende Funktion des horizontalen vestibulookulären Reflexes (VOR): Testung durch Kopfimpulstest nach Halmagyi und Curthoys oder kalorische Prüfung
- Fehlende bessere Erklärung durch eine andere Krankheit
Beim Kopfimpulstest zeigen sich sowohl bei Kopfdrehung nach rechts und links Refixationssakkaden als Ausdruck des Hochfrequenzdefizits des VOR. Bei unklarem Ergebnis kann auch eine Videookulographie erfolgen. Auch der VOR-Lesetest mit Bestimmung der Visusabnahme bei Kopfdrehungen (Dynamic Visual Acuity) ist diagnostisch hilfreich. Darüber hinaus zeigen sich keine Störungen der Okulomotorik, außer bei Patienten mit CANVAS-Syndrom oder anderen zerebellären Okulomotorikstörungen.
Die Stand- und Gangprüfungen sind bei offenen Augen weitgehend normal. Bei geschlossenen Augen zeigt sich ein Körperschwanken im Romberg-Standversuch sowie beim Seiltänzergang. Die bilaterale Vestibulopathie kann weiterhin mit oder ohne Hörstörungen verlaufen.
Je nach Ursache finden sich weitere Zeichen, z.B.:
- Blutungen und Kontrastmittelaufnahme im Labyrinth und/oder in der Cochlea in der Magnetresonanztomographie bei Patienten mit Cogan-Syndrom
- zerebelläres Syndrom, Downbeat-Nystagmus, Neuropathie bei CANVAS-Syndrom (vermutlich häufigste Ursache bei den vermeintlich idiopathischen Formen)
Differenzialdiagnosen
- phobischer Schwankschwindel
- Vestibularisparoxysmie
- Perilymphfistel
- orthostatische Dysregulation
- Sehstörungen
- einseitiger Vestibularisausfall
Therapie
Eine bilaterale Vestibulopathie aufgrund einer autoimmunen Genese kann mit Hilfe von Immunsuppressiva symptomatisch behandelt werden. Hierfür eignen sich Glukokortikoide (z.B. hochdosierte Steroidtherapie beim Cogan-Syndrom) sowie ggf. Azathioprin oder Cyclophosphamid. Entscheidend ist die Förderung der zentralen Kompensation durch eine physikalische Therapie.
Prophylaxe
Patienten mit Nierenversagen, hohem Alter oder familiärer ototoxischer Suszeptibilität sollten Aminoglykoside nur unter strenger Indikationsstellung erhalten. Eine Kombination ototoxischer Medikamente muss vermieden werden.