Ovarielles Hyperstimulationssyndrom
Synonym: ovarielles Überstimulationssyndrom
Englisch: ovarian hyperstimulation syndrome
Definition
Das ovarielle Hyperstimulationssyndrom, kurz OHSS, ist ein seltenes, meist iatrogen ausgelöstes und im seltenen Fall potentiell lebensbedrohliches Krankheitsbild, das hauptsächlich als Folge einer hormonellen Follikelstimulation auftritt. Es ist eine Hauptkomplikation der In-vitro-Fertilisation.[1]
Geschichte
Das OHSS wurde erstmals 1943 nach einer Behandlung mit Gonadotropinen beschrieben.[2] Die ersten Todesfälle aufgrund eines schweren OHSS wurden in den 1950ern publiziert.[3]
Einteilung
Das ovarielle Hyperstimulationssyndrom wird eingeteilt in:
- Frühes OHSS: Entwickelt sich durch die finale HCG-Gabe im Rahmen der Follikelstimulation kurz nach der Eizellentnahme
- Spätes OHSS: Entsteht 12 bis 20 Tage nach der HCG-Gabe – entweder durch exogenes HCG zur Lutealphasenunterstützung oder durch endogenes HCG bei Eintritt einer Schwangerschaft. Bei einer Mehrlingsschwangerschaft tritt es verstärkt auf.
Klassifikation
Es gibt keine einheitliche Klassifikation des OHSS, sie unterscheidet sich je nach Literatur. Je nach Klassifikationsmodell wird das OHSS in 3 bis 6 Grade eingeteilt, wobei entweder die Symptomatik oder der Schweregrad im Fokus stehen. Gängige Klassifikationen wurden von Golan[4], Navot[5] sowie von Rizk und Aboulghar[6] publiziert.
... nach Golan
Kategorie | Grad | Klinik |
---|---|---|
leichtes OHSS | 1 |
|
2 | Zusätzlich zu den Merkmalen von Grad 1: | |
moderates OHSS | 3 | Zusätzlich zu den Merkmalen eines leichten OHSS: |
4 | Zusätzlich zu den Merkmalen von Grad 3: | |
schweres OHSS | 5 | Zusätzlich zu den Merkmalen eines moderaten OHSS:
|
6 | Alle oben genannten Merkmale und:
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Epidemiologie
Die Inzidenz des OHSS wird mit 0,2–1 % aller IVF-Zyklen und einer Mortalitätsrate von 1:45.000–1:50.000 angegeben.[7] Durch angepasste Stimulationsprotokolle und verbessertes Therapiemanagement erhofft man sich einen Rückgang der Mortalitätsrate. Nach Angaben des Deutschen IVF-Registers e.V. (DIR) sind die Zahlen der letzten Jahre stabil bzw. tendenziell rückläufig.
Ätiologie
Das OHSS wird meist iatrogen durch die Gabe des zur Follikelstimulation verwendeten humanen Choriogonadotropins (β-HCG) ausgelöst. Es sind allerdings auch Einzelfälle ohne iatrogenen Einfluss beschrieben worden, die mit einer Mutation des FSHR-Gens assoziiert waren, das für den FSH-Rezeptor kodiert.[1] Eine Empfehlung zum Screening auf bestimmte Polymorphismen des FSHR-Gens besteht derzeit (2025) nicht.
Pathophysiologie
Die Pathophysiologie des OHSS ist bis heute (2025) noch nicht vollständig verstanden. Auslöser ist β-HCG. Es triggert wahrscheinlich einen Anstieg an Zytokinen und Wachstumsfaktoren (v.a. VEGF), der zu einer Erhöhung der Kapillarpermeabilität und damit zu einer massiven Flüssigkeitsverlagerung von intra- nach extravasal führt.[8] Dadurch können Aszites oder Pleuraergüsse entstehen und der Hämatokrit steigt. Der Anstieg der Blutviskosität begünstigt wiederum Thrombosen.
Risikofaktoren
Einer der größten Risikofaktoren für die Entwicklung eines OHSS ist ein polyzystisches Ovarialsyndrom, da bei diesem viele Ovarialfollikel vorhanden sind und es durch die Stimulation zu einer Vergrößerung vieler Follikel kommt.
...vor der Stimulation
- AMH-Wert (> 7 ng/ml)
- hohe antrale Follikelzahl (> 14 Follikel im AFC) bzw. polyzystisches Ovar
- Alter (< 30 Jahre)
- Niedriger BMI
- OHSS in der Vorgeschichte
...während der Stimulation
- Hohe Östradiol-Konzentration im Serum
- Hohe Anzahl an Follikeln > 13 mm bei Ovulationsinduktion
- Schnell ansteigender Östradiolspiegel
- Hohe Gonatropingabe
- Ovulationsinduktion mit hCG
- Transfer mehrerer Embryonen (Gefahr einer Mehrlingsschwangerschaft)
Therapie
Das OHSS ist häufig selbstlimitierend, wenn keine Schwangerschaft eintritt, oder wenn nach der 12. SSW der luteoplazentare Shift stattgefunden hat. Daher bedarf es bei leichtem bis moderatem OHSS oftmals keiner oder nur einer konservativen Therapie. Letztere umfasst ambulante Kontrollen, Ruhe, proteinreiche Nahrung, um den kolloidosmotischen Druck zu erhöhen, sowie die Empfehlung viel zu trinken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Gegebenenfalls ist eine Thromboseprophylaxe indiziert.
Bei schwereren Formen ist eine stationäre Aufnahme nötig, die eine Heparinisierung, regelmäßige Kontrollen des Hämatokrits und eine Überwachung der Diurese umfasst. Eventuell können eine intravenöse Flüssigkeitstherapie, eine Aszites- oder Pleurapunktion sowie die Gabe von Albumin indiziert sein. Eine Pleurapunktion kann auch ambulant durchgeführt werden, wenn eine stationäre Aufnahme (noch) nicht indiziert ist. Droht ein hypovolämischer Schock, ist meist auch die Anlage eines zentralvenösen Gefäßzugangs nötig.[1]
Prophylaxe
Bei bekannten Risikofaktoren kann bei der In-vitro-Fertilisation ein alternatives Stimulationsprotokoll – das GnRH-Antagonistenprotokoll – verwendet werden, bei dem die Ovulation nicht durch β-HCG, sondern durch einen GnRH-Agonisten ausgelöst wird.[1] Wenn möglich, sollte die Gonadotropindosis angepasst werden. Gegebenenfalls ist ein Coasting und Einnahme eines Dopaminagonisten wie Cabergolin während der Stimulationsphase abzuwägen. Ein Frischtransfer sollte vermieden und stattdessen eine Freeze-all-Strategie verfolgt werden, um eine Verlängerung bzw. Verstärkung des OHSS zu vermeiden.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart · New York: Frauenheilkunde up2date 2015; 9(2): 153-164 DOI: 10.1055/s-0033-1358128.
- ↑ Rydberg et al. Effect of serum gonadotropin and chronic gonadotropin on the human ovary. JAMA. 121(14):1117-1122. 1943
- ↑ Rizk. Complications of Ovarian Hyperstimulation Syndrome. In: Ovarian Hyperstimulation Syndrome: Epidemiology, Pathophysiology, Prevention and Management. Cambridge University Press. 92-118. 2006
- ↑ Golan. A modern classification of OHSS. Reproductive BioMedicine Online. 19(1):28-32. 2009
- ↑ Navot et al. Ovarian hyperstimulation syndrome in novel reproductive technologies: prevention and treatment. Fertility and sterility. 58(2), 249–261. 1992
- ↑ Rizk und Aboulghar. REVIEW: Modern management of ovarian hyperstimulation syndrome. Human Reproduction. 6(8):1082-1087. 1991
- ↑ Binder et al. Update on ovarian hyperstimulation syndrome: Part 1 -- Incidence and pathogenesis. Int J Fertil Womens Med. 52(1):11-26. 2007
- ↑ Soares et al. Targeting the vascular endothelial growth factor system to prevent ovarian hyperstimulation syndrome. Human Reproduction Update. 14(4):321-333. 2008