Harnröhrendivertikel
Synonym: Urethraldivertikel
Englisch: urethral diverticulum
Definition
Als Harnröhrendivertikel beschreibt man luminale Aussackungen (Divertikel) der Urethra. Urethraldivertikel können kongenital oder erworben sein, wobei die erworbenen Formen häufiger auftreten.
Epidemiologie
Bei Frauen wird die Inzidenz von Harnröhrendivertikeln auf etwa 1 bis 5 % geschätzt. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher, da viele Fälle asymptomatisch und somit unentdeckt bleiben. Bei Männern sind Harnröhrendivertikel aufgrund der anatomischen Gegebenheiten eine Seltenheit.
Das mediane Alter bei Symptombeginn liegt bei 40 Jahren.
Ätiologie
Kongenitale Divertikel entstehen durch Entwicklungsanomalien und sind eher selten. Erworbene Divertikel werden häufig von Traumata, Infektionen oder iatrogenen Ursachen wie chirurgischen Eingriffen an der Urethra verursacht.
Bei Frauen entstehen die Divertikel oft aus paraurethralen Drüsen und sind meist in den äußeren zwei Dritteln der Harnröhre lokalisiert. Der Divertikelhals liegt häufig posterolateral der Harnröhre.
Abgrenzung
Ein Harnröhrendivertikel steht im Gegensatz zu einer paraurethralen Zyste mit dem Lumen der Urethra in Verbindung. In vielen Fällen trifft die klassische Definition eines Divertikels (Ausstülpung aller Wandschichten) oder Pseudodivertikels (Ausstülpung eines Teils der Wandschichten) jedoch nicht zu.
Symptomatik
Die Symptome von Harnröhrendivertikeln variieren stark. Besonders bei Frauen sind die Divertikel oft asymptomatisch. Symptome manifestieren sich häufig erst, wenn lokale Komplikationen auftreten. Die Größe und Konfiguration des Divertikels korreliert nicht mit der Symptomlast.
Eine typische Symptomkombination, die auf ein Urethraldivertikel hindeuten kann, ist die Trias aus Dysurie (30 bis 70 %), Dyspareunie (bis 25 %) und Harnnachträufeln (bis 30 %).
Weitere mögliche Symptome sind:
- Drang- und Reizbeschwerden (40 bis 100 % der Patienten)
- häufige Harnwegsinfekte (30 bis 50 %)
- Hämaturie
- Inkontinenz
- Schmerzen im Beckenbereich
- suprapubische und perineale Schmerzen
- eitriger Ausfluss
- Gefühl unvollständiger Blasenentleerung
- Harnverhalt
- isolierte terminale Algurie
Komplikationen
Harnröhrendivertikel können unterschiedliche Komplikationen verursachen. Dazu gehören:
- rezidivierende Harnwegsinfekte durch Harnretention und Bildung eines bakteriellen Reservoirs
- Steinbildung durch Harnretention und die Kristallisation von Salzen (meist Kalziumoxalat- oder Kalziumphosphatsteine)
- Obstruktionen der Harnröhre durch gefüllte Divertikel und Narbenbildung der umgebenden Harnröhre aufgrund chronischer Infektionen
- Entstehung von Tumoren durch anhaltende Entzündungen und ggf. vorhandene Steine
Etwa 5 % aller Harnröhrentumoren entwickeln sich aus Harnröhrendivertikeln. Die meisten dieser Tumoren sind maligne. Histologisch sind Adenokarzinome (62 %) am häufigsten, gefolgt von Urothelkarzinomen (25 %). Die Prognose ist ähnlich der von primären Karzinomen der Harnröhre. Die Tumoren befinden sich bei Diagnosestellung häufig in einem fortgeschrittenen Stadium.
Eine anhaltende, schmerzlose Mikrohämaturie ohne andere auffällige Harntraktbefunde können auf eine Raumforderung innerhalb eines Harnröhrendivertikels hinweisen.
Diagnostik
Die Diagnose von Urethraldivertikeln beruht vorrangig auf einer sorgfältigen Anamnese, einer gründlichen körperlichen Untersuchung und der Bildgebung.
Körperliche Untersuchung
Bei Frauen erfolgt eine Palpation der vorderen Vaginalwand. Beim transvaginalen Ausstreichen der Urethra wird selten (4 bis 6 %) ein Eiterabgang über den Meatus urethrae externus beobachtet. Harnröhrendivertikel können meist ertastet werden. Mehr als die Hälfte der Patientinnen zeigen eine deutliche Verhärtung des periurethralen Gewebes. Die Sensitivität der Palpation erhöht sich durch Wiederholung der Untersuchung mit einliegendem Einmalkatheter.
Bei Männern erfolgt die perineale sowie penoskrotale Palpation der Harnröhre. Urethraldivertikel bei Männern sind in der Regel Folge von Manipulationen und ohne urologische Vorgeschichte eine Seltenheit.
Deutliche Verhärtungen bei der Palpation könnten auf eine Neoplasie oder einen Divertikelstein hindeuten und erfordern eine weitere Abklärung.
Urindiagnostik
Der Urin ist häufig unauffällig. Möglich ist das Vorhandensein von Bakterien im Spontanurin, während Punktions- oder Einmalkatheterurin steril sind. Eine Mikrohämaturie ist möglich, jedoch häufiger bei Steinbildung oder Neoplasien zu finden.
Invasive Diagnostik
Weiterführende diagnostische Maßnahme umfassen:
- Urethroskopie: da die Divertikelhälse oft nur klein sind, können diese oft nicht entdeckt werden
- Miktionszysturethrographie: Sensitivität von etwa 65 %
- Doppelballon-Urethrographie: Sensitivität von 60 bis 100 %, oft bei Frauen zusätzlich durchgeführt. Mögliche Komplikation ist eine Divertikelperforation
Zur Erhöhung der Sensitivität und Verringerung des notwendigen Drucks bei der Kontrastmitteldarstellung sollte vor der Untersuchung die Harnröhre ausgestrichen werden, um das Divertikel zu entleeren.
Bildgebung
Die Sonographie der Harnröhre erreicht eine Sensitivität von etwa 65 % und ermöglicht oft eine suffiziente Aussage über den Divertikelhals.
Zudem werden zunehmend radiologische Untersuchungsmethoden wie die Magnetresonanztomographie (MRT) mit endourethraler Spule (Sensitivität 80 bis 100 %) oder die computertomographische virtuelle Urethrozystoskopie vorgenommen. Diese ist mit der konventionellen Spiegelung vergleichbar und ermöglicht gleichzeitig eine Beurteilung des periurethralen Gewebes.
Differentialdiagnosen
Differentialdiagnostisch kommen rezidivierende Harnwegsinfektionen oder eine bakterielle Urethritis in Betracht.
Mögliche weitere Ursachen einer palpierbaren periurethralen Raumforderung sind:
- ektope Ureterozelen
- periurethrale Fibrose (beim Mann als Spongiofibrose bekannt)
- Leiomyome, Endometriose
- vaginale oder andere urethrale Neoplasien
Oft kann erst eine Gewebeprobe die endgültige Diagnose sichern. Bei Verdacht auf ein malignes Geschehen ist teils eine chirurgische Abtragung sinnvoll, um das Risiko von Stichkanalmetastasen zu minimieren.
Therapie
Die Therapieentscheidung bei Urethraldivertikeln richtet sich nach der klinischen Präsentation des Patienten.
Kleine, asymptomatische Divertikel benötigen in der Regel keine unmittelbare Behandlung, sollten jedoch aufgrund eines Entartungsrisikos von etwa 5 bis 10 % klinisch und sonographisch nachkontrolliert werden.
Bei symptomatischen Verläufen und Größenzunahme ist eine chirurgische Therapie indiziert.
Transvaginale Exzision
Die transvaginale Exzision ist Therapie der Wahl. Dabei wird der Divertikel von vaginal aus freigelegt und auf dem Niveau der Harnröhre exzidiert.
Marsupialisation
Bei Frauen kann, insbesondere bei distalen Divertikeln, eine Marsupialisation durchgeführt werden. Dabei besteht jedoch das Risiko einer urethrovaginalen Fistelbildung und kann bei proximalen Divertikeln zu schwer therapierbarer Harninkontinenz führen. Eine anatomische Veränderung des Meatus urethrae externus kann zudem zu häufigen Harnwegsinfekten führen.
Transurethrale Inzision
Für kleinere Divertikel mit engem Divertikelhals ist die transurethrale Inzision eine mögliche Therapieoption.
Offene chirurgische Divertikelabtragung
Diese Methode kommt bei Männern, bei proximal gelegenen Divertikeln der Frau sowie bei Verdacht auf Malignität zum Einsatz. Die Operation beinhaltet die Freilegung der Harnröhre, die Darstellung des Divertikelhalses und die en-bloc-Resektion des Divertikels. Bei großen Divertikeln mit weitem Hals ist eine Rekonstruktion der Harnröhre erforderlich. Nach der Operation ist eine transurethrale Katheterversorgung für etwa 21 Tage notwendig.
Quellen
- springer.de - Divertikel der Urethra, zuletzt abgerufen am 27.11.2023
- Greiman et al, Urethral diverticulum: A systematic review, Arab J Urol 2019