Anämie bei chronischer Erkrankung
Synonyme: Anämie bei chronischer Entzündung, Infektanämie, Tumoranämie
Englisch: Anemia of Chronic Disease(ACD), Anemia of Chronic Infection (ACI)
Definition
Die Anämie bei chronischer Erkrankung, kurz ACD, ist eine erworbene Anämieform, die bei einer länger bestehenden Entzündungsreaktion auftritt. Das Krankheitsbild überschneidet sich mit dem funktionellen Eisenmangel und der Tumoranämie.
Häufig wird der englische Begriff "anemia of chronic disease" bzw. die Abkürzung "ACD" verwendet.
Epidemiologie
Chronische Entzündungszustände sind nach dem Eisenmangel die zweithäufigste Ursache einer Anämie. Die Inzidenz nimmt mit dem Alter zu. Bei Krankenhauspatienten ist die Anämie bei chronischer Erkrankung der häufigste Grund für einen Anämie.
Ätiologie
Typische Erkrankungen, bei denen eine ACD entsteht, sind:
Pathophysiologie
Bei der ACD führen Mikroorganismen, maligne Zellen oder eine autoimmune Dysregulation zur Aktivierung von CD3-positiven T-Lymphozyten und Monozyten. Diese Immunzellen setzen Zytokine frei, z.B. Interleukin-1, -6, -10, TNF-α und IFN-γ, welche eine gestörte Eisenhomöostase, eine Dyserythropoese sowie ein vermindertes Ansprechen auf Erythropoetin bewirken.
Dabei spielt das Akute-Phase-Protein Hepcidin eine entscheidende Rolle: Seine Synthese in der Leber wird durch Interleukin-6 sowie bakterielle Lipopolysaccharide stimuliert. Hepcidin und andere Zytokine haben unter anderem folgende Effekte auf den Eisenhaushalt:
- Hemmung der duodenalen Eisenaufnahme (Abbau von Ferroportin-1)
- vermehrte Eisenaufnahme in Makrophagen (erhöhte Expression von DMT1, Ferritin und Transferrinrezeptor, gehäufte Phagozytose von Erythrozyten)
- gleichzeitig verminderte Eisenabgabe an erythrozytäre Vorläuferzellen (Abbau von Ferroportin-1)
Entsprechend liegt meist nur ein funktioneller Eisenmangel vor, d.h. Eisen steht für die Erythropoese nicht ausreichend zur Verfügung, da es in den Makrophagen des retikuloendothelialen Systems zurückgehalten wird. Die durch alle diese Veränderungen bewirkte Eisenrestriktion ist wahrscheinlich als unspezifische Abwehrreaktion zu verstehen, da auch Mikroorganismen und Krebszellen auf Eisen angewiesen sind.
Diagnose
Eine ACD muss immer bei Patienten mit einer Anämie bei gleichzeitigem Vorliegen einer chronischen Entzündung erwogen werden. Entsprechend liegen labordiagnostische Zeichen einer Entzündungsreaktion vor, z.B. erhöhtes CRP und beschleunigte Blutsenkungsgeschwindigkeit (Entzündungsparameter).
Anämie
Die Anämie bei chronischer Erkrankung ist initial meist normozytär und normochrom, bei Überwiegen des funktionellen Eisenmangels mikrozytär und hypochrom. Die Hämoglobinkonzentration ist meist nur leicht bis moderat vermindert. Weiterhin sind die Retikulozytenzahl und der Retikulozytenindex erniedrigt (hypoproliferative Anämie).
Eisenstoffwechel
- Serum-Eisen: vermindert
- Serum-Ferritin: Akute-Phase-Protein, meist normal oder erhöht
- Serum-Transferrin: Anti-Akute-Phase-Protein, vermindert oder normal
- Transferrinsättigung: vermindert
- Hämoglobingehalt der Retikulozyten: niedrig normal bis vermindert
- löslicher Transferrinrezeptor (sTfR): normwertig
Erythrozyten-Turnover
Die entzündungsbedingte Anämie wird erst bei chronischer Erkrankung, d.h. nach einigen Wochen sichtbar, weil zunächst ein großer Teil der Erythrozyten unter Eisenrestriktion gebildet worden sein muss, bevor der Einfluss auf die Hämoglobinkonzentration und die Erythrozytenindizes sichtbar werden. Durch Beobachtung des Retikulozytenhämoglobins kann die Eisenrestriktion aber schon im Verlauf von Tagen festgestellt werden. Ein Abfall des Retikulozytenhämoglobins ohne Ferritin-Verminderung wird daher als Infektions- bzw. Sepsismarker diskutiert.
Differenzialdiagnostik
Häufig ist die chronische Entzündung nur eine der Ursachen der Anämie. Viele Patienten haben parallel einen Eisenmangel. Auch eine chronische Nierenerkrankung kann zur Entstehung der Anämie beitragen (renale Anämie). Im Falle der Tumoranämie kommen weiterhin eine Verdrängung des Knochenmarks durch Metastasen oder Nebenwirkungen der zytotoxischen Chemotherapie in Frage (Myelophthise).
Hepcidin wird aktuell (2023) nicht standardmäßig bestimmt. Allerdings stellt es vermutlich den sensitivsten Marker dar:[1] Bei Eisenmangelanämie ist die Hepcidinkonzentration vermindert, bei reiner ACD ist sie erhöht, bei Mischformen ist sie leicht vermindert oder normal.
Laborparameter | ACD | Eisenmangelanämie | Kombination |
---|---|---|---|
Serum-Eisen | ↓ | ↓ | ↓ |
Serum-Transferrin | ↓/n | ↑ | ↓ |
Transferrinsättigung | ↓ | ↓ | ↓ |
Serum-Ferritin | n/↑ | ↓ | ↓/n |
sTfR | n | ↑ | n/↑ |
Ferritinindex: sTfR/log(Ferritin) | < 1 | > 2 | > 2 |
Algorithmus
Bei Vorliegen einer Anämie mit erhöhten Entzündungsparametern und erniedrigter Transferrinsättigung (< 16 %) sollte initial das Serum-Ferritin gemessen werden.[2] Ein möglicher differenzialdiagnostischer Algorithmus ist:
- Ferritin < 30 → Eisenmangel
- Ferritin > 100 → ACD
- Ferritin 30 bis 100: Bestimmung des Ferritinindex
- Ferritinindex < 1 → ACD
- Ferritinindex > 2 → ACD + Eisenmangel
Der Ferritinindex ist methodenabhängig, es ist der herstellereigene Cut-off-Wert zu beachten.
Therapie
Bei Vorliegen einer ACD sollte in erster Linie eine kausale Therapie angestrebt werden. Symptomatisch werden Erythrozytentransfusionen sowie Erythropoese-stimulierende Wirkstoffe (z.B. rekombinantes Erythropoetin) verwendet. Wenn ein zusätzlicher Eisenmangel besteht, kann dieser behandelt werden. Wenn nicht, ist eine Eisensubstitution nicht hilfreich, da in erster Linie die Eisenrestriktion noch verstärkt wird.
Literatur
- Nairz M, Theurl I, Wolf D, Weiss G: Iron deficiency or anemia of inflammation? : Differential diagnosis and mechanisms of anemia of inflammation. Wien Med Wochenschr. 2016. Frei zugänglich, abgerufen 22.08.17
- Madu AJ, Ughasoro MD Anaemia of Chronic Disease: An In-Depth Review, Med Princ Pract. 2017 Jan; 26(1): 1–9, abgerufen am 29.08.2019
Quellen
- ↑ Shu T et al. Hepcidin in tumor-related iron deficiency anemia and tumor-related anemia of chronic disease: pathogenic mechanisms and diagnosis, Eur J Haematol. 2015 Jan;94(1):67-73, abgerufen am 02.09.2019
- ↑ Weiss G, Goodnough LW Anemia of Chronic Disease, N Engl J Med 2005; 352:1011-1023, abgerufen am 29.08.2019