Übertrainingssyndrom
Englisch: overtraining syndrome
Definition
Als Übertrainingssyndrom, kurz ÜTS, bezeichnet man in der Sportmedizin einen lange andauernden Abfall der sportlichen Leistungsfähigkeit trotz intensiven Trainings, der auch nach einer angemessenen Regenerationsphase über Monate oder chronisch weiter besteht. Es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose.
Abgrenzung
Bei einem kürzer andauernden Leistungsabfall mit vollständiger Erholung spricht man von einem Overreaching (Überlastungszustand). Ein Overreaching kann unter bestimmten Bedingungen erwünscht sein. Man spricht dann von einem funktionellen Overreaching (FOR). Hier führt die Überlastung nach einigen Tagen der Regeneration zu einem Adaptationsprozess. Die kurzfristig auftretenden Müdigkeitserscheinungen sind innerhalb kurzer Zeit vollständig reversibel und führen zu einer Leistungssteigerung ("Superkompensation"). Ein ungewolltes Overreaching wird auch als nicht-funktionelles Overreaching (NFOR) bezeichnet. Die Erholung von einem NFOR kann zwischen Tagen und Monaten anhalten.
Einteilung
Man unterscheidet eine sympathikotone ("basedowoide") und eine parasympathikotone ("addisonoide") Form des ÜTS. Die sympathikotone Form ist von vegetativer Erregung, verstärktem Antrieb, Schlafstörungen und emotionaler Instabilität geprägt. Die Diagnosestellung ist aufgrund der klareren Symptomatik einfacher. Die parasympathikotone Form zeichnet sich durch das Auftreten von Antriebsarmut und depressiver Stimmungslage aus und ist schwerer zu diagnostizieren. Häufig finden sich Mischformen der beiden Typen.
Ätiologie
Ein Übertrainingssyndrom entsteht durch das Missverhältnis der Summe aller Belastungen und der aktuellen Erholungsfähigkeit. Ein Übertraining kann bei jedem Trainingsstand auftreten.
Folgende Faktoren erhöhen das Risiko für das Auftreten eines ÜTS:
- hohe Trainingsintensität über längeren Zeitraum, insbesondere im anaeroben, laktaziden Bereich
- zu schnelle Steigerung des Trainingsumfangs oder der -intensität
- monotone Ausübung einzelner Trainingsmethoden
- intensive Wettkampfphase ohne ausreichende Erholungsphasen
- reduzierte Regenerationsphasen
- psychischer Leistungsdruck
Neben den Faktoren, die direkt mit dem Training in Zusammenhang stehen, spielen auch Belastungen aus anderen Lebensbereichen eine Rolle. Dazu gehören z.B. Beziehungsprobleme, zeitliche Belastungen, Prüfungsstress, Nährstoffmangel bei unausgewogener Ernährung oder die Anpassung an Umweltfaktoren, wie z.B. Klimabedingungen oder die Anpassung an Höhe.
Pathogenese
Die Pathogenese des ÜTS ist bislang (2024) nicht abschließend geklärt.
Übermäßiges Training führt zu einer Erschöpfung der Glykogenspeicher. Letztlich entsteht eine katabole Stoffwechsellage. Zudem wurden Zusammenhänge zwischen dem Hormonhaushalt und dem Auftreten eines ÜTS beobachtet. So gibt es z.B. Anzeichen für eine insgesamt reduzierte Sympathikusaktivität mit verringerter Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin. Der Organismus scheint weniger sensitiv gegenüber Katecholaminen zu reagieren, die Dichte an β-Adrenorezeptoren ist reduziert.
Zudem spielen Störungen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse eine Rolle.
Möglicherweise sind die hormonellen Veränderungen ein Schutzmechanismus des Körpers, um vor weiterer Überlastung zu schützen.
Symptome
Das ÜTS kann klinisch heterogen sein. Je nach Erscheinungsbild können folgende Symptome beobachtet werden:
Sympathikotones Übertrainingssyndrom | Parasympathikotones Übertrainingssyndrom |
---|---|
leichte Ermüdbarkeit | leichte Ermüdbarkeit |
Erregung | Hemmung |
Schlaf gestört | Schlaf nicht gestört |
Appetit herabgesetzt | normaler Appetit |
Körpergewichtsabnahme | Körpergewicht unverändert |
Neigung zum Schwitzen, Nachtschweiß, feuchte Hände | Thermoregulation normal |
halonierte Augen, Blässe | - |
Neigung zum Kopfschmerz | klarer Kopf |
Herzklopfen, Herzdruck, Herzstiche | - |
Leichte Tachykardie | Bradykardie |
Grundumsatz gesteigert | Grundumsatz normal |
Körpertemperatur leicht erhöht | Körpertemperatur normal |
ausgeprägter roter Dermographismus | - |
verlangsamte Erholung der Herzfrequenz nach Belastung | schnelle Erholung des Kreislaufs nach Belastung |
Blutdruck uncharakteristisch | unter und nach Belastung Erhöhung des diastolischen Wertes |
abnorme Hyperpnoe unter Belastung | keine Atemschwierigkeit |
Überempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen | - |
unkoordinierter Bewegungsablauf | Bewegungsablauf eckig |
Reaktionszeit verkürzt, Fehlreaktionen | Reaktionszeit normal |
Tremor | - |
Erholung verzögert | gute Erholungsfähigkeit |
innere Unruhe, Gereiztheit | normale Stimmungslage |
Diagnostik
Damit die Diagnose gestellt werden kann, müssen andere mögliche Auslöser für den Leistungsabfall (wie z.B. Infekte, Myokarditis o.ä.) ausgeschlossen werden.
Es existieren bislang (2024) keine eindeutigen Diagnoseparameter. Es handelt sich also um eine Ausschlussdiagnose.
Folgende Parameter können die Diagnose stützen, sind jedoch unspezifisch:
- Messung der Herzfrequenzvariabilität (HRV), Ruhetachykardie, erniedrigte maximale Herzfrequenz
- Senkung der submaximalen oder maximalen Blutlaktatkonzentration.
- erhöhte Serumkonzentration von Harnstoff
- erniedrigtes Glutamin
- erniedrigtes IL-6, ggf. Bestimmung weiterer Zytokine
- erniedrigtes Gesamttestosteron, reduziertes Verhältnis aus Testosteron und Cortisol
- erniedrigte nächtliche Katecholaminausschüttung
Es ist zu beachten, dass die Hormonbestimmung anfällig für diverse Störgrößen (Tageszeit, Ernährung, letztes Training etc.) ist.
Zudem kann das Durchführen des POMS (Profile of mood state) oder RESTQ (Recovery-stress questionnaire for sport) Hinweise auf das Vorliegen eines ÜTS liefern.
Differentialdiagnosen
Ähnliche Symptome können durch eine Vielzahl von Krankheitsbildern hervorgerufen werden, darunter
- Schilddrüsenerkrankungen
- Funktionsstörungen der Nebenniere
- Eisenmangelanämie
- Infektionen und Entzündungen, z.B. Hepatitis, EBV, Myokarditis
- Anorexia nervosa, Bulimie
Therapie
Eine spezifische Therapie für das Übertrainingssyndrom existiert nicht. Die wichtigsten Maßnahmen sind die sportmedizinische Behandlung und eine aktive Regeneration mit einem stark reduzierten Trainingsumfang bzw. einer verminderten Trainingsintensität. Ein Training sollte in dieser Zeit nur ohne einen trainingswirksamen Reiz ausgeführt werden. Anschließend ist eine progressive Trainingssteigerung notwendig.
Weitere mögliche Maßnahmen sind:
- Maßnahmen der aktiven Erholung (z.B. Schwimmen)
- evtl. Intervalltrainings mit geringer Intensität
- Massagen
- Bäder und Saunaanwendungen
- ausgewogene Ernährung, ggf. Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln
Teils ist eine Psychotherapie und der Einsatz von Psychopharmaka notwendig.
Prävention
Mithilfe von Fragebogen (z.B. Erholung-Belastungs-Fragebogen, EBF) können mögliche Belastungsfaktoren identifiziert und verhindert werden. Zudem ist das Einhalten ausreichend langer Regenerationsphasen essenziell.
Literatur
- Kottenrott et al., Handbuch Trainingswissenschaften, hofmann, 2017
- Weineck, Optimales Training: Leistungsphysiologische Trainingslehre unter besonderer Berücksichtigung des Kinder- und Jugendtrainings, 17. Auflage, 2019
- Haber et al., Übertraining, in: Medizinische Trainingstherapie, Springerverlag, 2006
- Weineck, Sportbiologie, spitta, 10. Auflage, 2009
- Tomasits et al., Übertraining. In: Leistungsphysiologie, Springerverlag, 2011
- Faude et al., Sportmedizinische Grundlagen: Überbeanspruchung, Übertraining und Übertrainingssyndrom, Erholung und Erholungsfähigkeit. In: Bewegung, Training, Leistung und Gesundheit. Springerverlag, 2019
- Meeusen et al., Prevention, diagnosis and treatment of the overtraining syndrome: Joint consensus statement of the European College of Sport Science (ECSS) and the American College of Sports Medicine (ACSM), European Journal of Sport Science, 2013
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