Morphin
von altgriechisch: Μορφεύς ("Morpheus") - Gott der Träume in der griechischen Mythologie
Synonyme: Morphinum, Morphium
Handelsnamen: Capros®, Dropizol®, Molnex®, MSI®, MST®, Morphin und Morphinsulfat als Generika, Oramorph®, Sendolor®, Sevredol®, Substitol®
Englisch: morphine
Definition
Morphin ist ein natürliches Analgetikum, das im Schlafmohn (Papaver somniferum) vorkommt. Es ist das Hauptalkaloid des Opiums, des getrockneten Milchsafts der unreifen Samenkapseln des Schlafmohns.
Chemie
Morphin ist ein Morphinanalkaloid, das zur Gruppe der Isochinolinalkaloide gehört. Die Summenformel ist C17H19NO3. Der chemische Name ist
- (4R,4aR,7S,7aR,12bS)-3-Methyl-2,4,4a,7,7a,13-hexahydro-1H-4,12-methanobenzofuro[3,2-e]isoquinolin-7,9-diol (IUPAC)
Die molare Masse beträgt 285,3 g/mol, der Oktanol-Wasser-Koeffizient (logP) 0,99. Die CAS-Nummer lautet 57-27-2. Als Arzneistoffe werden die leichter wasserlöslichen Salze (Morphinhydrochlorid, Morphinsulfat-Pentahydrat) eingesetzt.
Pharmakognosie
Morphin ist neben Codein ein Hauptalkaloid, das vom Schlafmohn (Papaver somniferum) aus (-)-(R)-Reticulin synthetisiert wird. Die unreifen Samenkapseln besitzen Milchröhren, deren Milchsaft die Alkaloide enthält, die in Vesikeln gespeichert werden. Das Mengenverhältnis der einzelnen Alkaloide zueinander wird durch den Entwicklungszustand der Pflanze sowie Klima- und Bodenfaktoren bestimmt. Die Mohnkapseln enthalten 0,05 bis 0,8 %, die Samen 0,005 bis 0,05 % Opiumalkaloide. Aus dem nach Anritzen aus den unreifen Kapseln ausgetretenen, erhärteten, braun verfärbten Milchsaft wird Rohopium gewonnen, das zu ca. 20 bis 30 % aus Alkaloiden besteht. Davon sind etwa 3 bis 23 % Morphin.[1]
Wirkmechanismus
Morphin ist ein reversibler Agonist an μ-Opioidrezeptoren (MOPs). Die Aktivierung dieser Rezeptoren löst über ein gekoppeltes inhibitorisches heterotrimeres G-Protein folgende Wirkungen aus:
- Hemmung der Adenylylcyclase
- Aktivierung hyperpolarisierend wirkender K+-Kanäle
- Hemmung spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle
Die endogenen Liganden des MOP sind ß-Endorphin, Met- und Leu-Enkephalin. Es existieren die Rezeptorsubtypen µ1 und µ2, deren therapeutische Bedeutung gegenwärtig (2024) noch nicht geklärt ist. Außerdem zeichnet sich der Rezeptor durch einen Polymorphismus aus, der bei einigen μ-Opioidrezeptor-Varianten zur verminderten Wirksamkeit von Morphin führt.[2]
Wirkprofil
Durch die Aktivierung der zentraler μ-Opioidrezeptoren werden starke analgetische, euphorisierende, antitussive und atemdepressive Wirkungen sowie eine mäßige sedierende Wirkung ausgelöst. Die Analgesie wird zentral durch eine Hemmung der Schmerzübertragung im Rückenmark und die Aktivierung absteigender Bahnen, peripher durch eine Herabsetzung der nozizeptiven Empfindlichkeit ausgelöst.
Morphin steigert die Freisetzung von Dopamin in limbischen Innervationsgebieten (Nucleus accumbens), der sog. mesolimbischen dopaminergen "Belohnungsbahn". Dadurch werden positive Empfindungen wie Lust, Freude und Euphorie ausgelöst. Morphinentzug vermindert die Dopaminfreisetzung und löst dadurch eine Entzugssymptomatik aus.
Sedierende, antitussive und atemdepressive Wirkungen kommen durch eine Dämpfung der Formatio reticularis in der Medulla oblongata zustande. Weitere zentral ausgelöste Wirkungen bzw. Nebenwirkungen sind Brechreiz, Rigidität der Skelettmuskulatur, Krampfneigung, Hypothermie, Miosis, Bradykardie und Hypotonie. Darüber hinaus wird die Freisetzung von Hormonen aus dem Hypothalamus und der Hypophyse durch Morphin beeinflusst.
Periphere Wirkungen, die über μ-Opioidrezeptoren vermittelt werden, betreffen die Hemmung auf die Motilität des Magen-Darm-Traktes. Die Muskulatur des Pylorus, der Gallenblase, des Sphincter Oddi und des Sphincter vesicae werden kontrahiert. Entsprechend kommt es unter Morphin zu einer Obstipation.
Zentrale und periphere μ-Opioidrezeptoren vermitteln immunsuppressive Wirkungen, die die humorale und die zelluläre Immunantwort betreffen.[2]
Pharmakokinetik
Morphin wird nach oraler Aufnahme rasch resorbiert. Die orale Bioverfügbarkeit schwankt aufgrund eines ausgeprägten First-Pass-Effekts zwischen 15 bis 50 %. Die Wirkung tritt nach 20 bis 40 Minuten ein und hält 3 bis 4 Stunden an. Bei retardierten Formen beginnt der Wirkeintritt nach 30 bis 90 Minuten, die Wirkung wird auf ca. 8 bis 12 Stunden verlängert.
Die Plasmaproteinbindung von Morphin beträgt etwa 30 %, das Verteilungsvolumen 1 bis 5 l/kgKG. Morphin kann die Blut-Hirn-Schranke nur langsam überwinden und wird durch P-Glykoprotein wieder ins Blut transportiert. Morphin passiert auch die Plazentaschranke und tritt in die Muttermilch über.
Die hepatische Biotransformation erfolgt durch die Uridindiphosphat-Glucuronosyltransferase UGT2B7 zu den Glucuroniden Morphin-3- und Morphin-6-glucuronid. Während Morphin-3-glucuronid unwirksam ist, wirkt Morphin-6-glucuronid an μ-Opiatrezeptoren stärker als Morphin selbst. Außerdem wird Morphin zu inaktiven N-Desmethylmorphin (Normorphin), Morphinsulfaten und anderen oxidativen Metaboliten umgewandelt. Morphin und Morphin-6-glucuronid werden mit dem Urin ausgeschieden und können bei einer schwerer Einschränkung der Nierenfunktion kumulieren, sodass es zur Atemdepression kommt. Die normale Eliminationshalbwertszeit beträgt 2 bis 3 Stunden.[2]
Indikationen
Darreichungsform
Morphin steht in Form von Film-, Retard- und Schmelztabletten, Kapseln und Hartkapseln, Lösung und Tropfen zur oralen und als Injektionslösung zur parenteralen Anwendung zur Verfügung.
Bei akuten Schmerzen wird Morphin vorwiegend parenteral appliziert.
Bei starken chronischen Schmerzen kommen retardierte Tabletten oder Kapseln zum Einsatz.
Bei Durchbruchschmerzen werden Tropfen, Tabletten oder Injektionslösung eingesetzt.
Morphin kann auch epidural oder intrathekal appliziert werden.
Dosierung
Als Einzeldosis (Morphinsulfat) werden beim Erwachsenen verabreicht:[3][4][5]
- oral: 10 bis 20 mg (retardiert 10 bis 30 mg)
- i.m. oder s.c.: 10 bis 30 mg (Kinder 0,05-0,2 mg/kgKG, aber nicht mehr als 15 mg)
- i.v.: 5 bis 10 mg (Kinder 0,05 bis 0,1 mg/kgKG)
- epidural: 1 bis 4 mg (Kinder 0,05-0,1 mg/kgKG)
- intrathekal: 0,5 bis 1,0 mg (Kinder 0,02 mg/kgKG)
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Die Behandlung wird mit einer nicht retardierten Darreichungsform begonnen, um die effektive analgetische Dosis zu ermitteln. Danach kann auf eine retardierte Darreichungsform umgestellt werden.
In der Palliativmedizin kann bei Schmerzen oder Atemnot ein Morphinperfusor eingesetzt werden. Initial werden subkutan oder intravenös maximal 5 bis 10 mg/24 h (ca. 0,2 bis 0,4 mg/h) appliziert.
Nebenwirkungen
Wichtige unerwünschte Wirkungen von Morphin sind:[2]
- Müdigkeit
- Hypopnoe, Schlafapnoe
- Bradykardie
- Hypotonie
- Sehstörungen
- Brechreiz
- Pylorospasmus
- Obstipation
- Gallenkolik
- Harnverhalt
- Zyklusstörungen
- Antidiurese (durch Freisetzung von Vasopressin)
- Nebenniereninsuffizienz
- Immunsuppression
- Urtikaria, Schwitzen, Juckreiz (durch Freisetzung von Histamin)
Es sind Fälle von akuter generalisierter exanthematischer Pustulose (AGEP) bekannt geworden, die innerhalb der ersten 10 Behandlungstage auftreten und lebensbedrohlich verlaufen kann.[3]
Wechselwirkungen
Die bewusstseinseinschränkenden und atemdepressiven Wirkungen von anderen Arzneimitteln (z.B. Anticholinergika, Antidepressiva, Antiemetika, Antikonvulsiva, Antitussiva, Benzodiazepinen, Clonidin, Neuroleptika, Hypnotika, Sedativa, H1-Antihistaminika) und Alkohol werden verstärkt.[3]
Bei gleichzeitiger Anwendung von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SNRI) und Monoaminoxidasehemmern besteht die Gefahr der Auslösung eines Serotoninsyndroms.
Die orale Wirksamkeit von P2Y12-Antagonisten zur Thrombozytenaggregationshemmung wird vermindert.[3]
Bei gleichzeitiger Anwendung von Rifampicin kann es zu einer Abschwächung der Morphinwirkung kommen.[3]
Durch die Verabreichung von Buprenorphin, Nalbuphin und Naloxon wird die Morphinwirkung abgeschwächt und es können Entzugssymptome ausgelöst werden.
Kontraindikationen
Die Anwendung von Morphin ist kontraindiziert bei:[2][3][4][5]
- Überempfindlichkeit gegen Morphin oder einen der sonstigen Bestandteile des Arzneimittels
- Schwere Atemdepression mit Hypoxie und/oder Hyperkapnie
- Schwere chronisch-obstruktive Lungenerkrankung
- Asthma bronchiale
- Cor pulmonale
- Akutes Abdomen
- Paralytischer Ileus
- Schädelhirntrauma
- Chronisch-entzündliche Darmerkrankung
- Gallenkolik
- Nierenkolik
- Gerinnungsstörungen und Infektionen im Injektionsgebiet bei intrathekaler oder epiduraler Anwendung.[3]
Missbrauch
Bei wiederholter und chronischer Anwendung von Morphin können sich Toleranz sowie starke physische und psychische Abhängigkeit entwickeln, die zur absichtlichen Falschanwendung und zum Missbrauch führen können. Beim abrupten Absetzen wird ein Entzugssyndrom ausgelöst.
siehe auch: Opioidanalgetikum
Schwangerschaft und Stillzeit
Bei strenger Indikationsstellung kann Morphin in der Schwangerschaft verwendet werden. Ein akuter Morphinentzug während der Schwangerschaft kann zu intrauterinem Fruchttod oder vorzeitigen Wehen führen.
Wenn Morphin während der Schwangerschaft bis zur Geburt therapeutisch verabreicht oder missbraucht wird, können beim Neugeborenen Entzugserscheinungen (neonatales Abstinenzsyndrom) einsetzen, die mit einer Latenz von bis zu 72 Stunden einsetzen und schwer verlaufen können.
Wird Morphin unter der Geburt verabreicht, kann es beim Neugeborenen eine Atemdepression auslösen.
Obwohl Morphin in die Muttermilch (M/P-Quotient: 1,1 bis 3,6) übertritt, wurde bisher nicht über schwerwiegende Nebenwirkungen bei gestillten Kindern berichtet.[6]
Toxizität
Eine Überdosierung von Morphin kann eine Opiatintoxikation auslösen. Nach oraler Aufnahme von 100 mg ist bei Personen, die nicht an Morphin gewöhnt sind, mit einer schweren Vergiftung zu rechnen. Drogenabhängige können u.U. eine vielfach höhere Dosis tolerieren. Eine primäre Giftentfernung durch Verabreichung von Aktivkohle kann innerhalb einer Stunde nach der Ingestion erfolgen. Die weitere Behandlung erfolgt in jedem Fall symptomatisch. Besonders wichtig ist eine ausreichende Versorgung mit Sauerstoff.
Naloxon steht als spezifisches Antidot zur Verfügung. Dabei sollte vorsichtig dosiert werden, um Entzugssymptome zu vermeiden.
Analytik
Morphin und seine Metaboliten können im Urin über 2 bis 4 Tage nach der letzten Einnahme nachgewiesen werden. Für die Untersuchung werden 20 ml Spontanurin benötigt. Eine Konzentration unter 0,3 mg/l gilt als negativ. Bei Schnelltests besteht eine Kreuzreaktivität mit Codein, Dihydrocodein und Heroin.[7]
ATC-Code
- N02AA01 - Analgetika - Opioide - Natürliche Opium-Alkaloide
Rechtslage
Pflanzen und Pflanzenteile von Schlafmohn (Papaver somniferum) unterliegen in Deutschland dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG). Der biologische und konventionelle Anbau zur Gewinnung von Opium und Opiumalkaloiden bedarf der betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnis gemäß § 3 BtMG, die von der Bundesopiumstelle ausgestellt wird.[8]
Geschichte
Morphin wurde erstmals 1804 durch den Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner (1783–1841) in Paderborn und Einbeck aus Opium isoliert und als wirksamer Bestandteil erkannt. Seine ersten Veröffentlichungen (1805/1806) wurden wenig beachtet. Die Bezeichnung "Morphium" für den extrahierten Stoff verwendete Sertürner ab 1811. Nachdem er 1817 seine Ergebnisse umfänglicher publiziert hatte, wurde deren Bedeutung anerkannt. Morphin wurde seit 1844 als Analgetikum eingesetzt und noch heute aus Opium gewonnen.[1][2][9]
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Teuscher E, Lindequist U. Biogene Gifte. 3. Aufl., Stuttgart : Wiss. Verl.-Ges. 2010
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 2,5 Aktories K et al. Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie. 13. Aufl., München : Elsevier 2022
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 3,7 Morphin Injektionslösung. Fachinformation ratiopharm Oktober 2023, abgerufen am 08.10.2023
- ↑ 4,0 4,1 Capros akut Schmelztabletten, Fachinformation Ethypharm Oktober 2023, abgerufen am 08.10.2024
- ↑ 5,0 5,1 Morphin Retardtabletten, Fachinformation ratiopharm Oktober 2023, abgerufen am 08.10.2024
- ↑ Morphin, Embryotox, abgerufen am 08.10.2024
- ↑ Scherbaum N. Das Drogentaschenbuch. 6. Aufl., Stuttgart, New York : Thieme 2019
- ↑ Erlaubnis. Bundesopiumstelle, BfArM, abgerufen am 07.10.2024
- ↑ Schott H. Die Chronik der Medizin. Augsburg : Bechtermünz 1997
Weblinks
- Drugbank - Morphine, abgerufen am 07.10.2024
- Gelbe Liste Wirkstoffe - Morphin, abgerufen am 07.10.2024
- PharmaWiki - Morphin, abgerufen am 07.10.2024
- PubChem: 5288826
- MeSH: 68009020