Blepharospasmus
von altgriechisch: βλέφαρον ("blépharon") - Augenlid; σπασμός ("spasmós") - Krampf
Synonyme: Lidkrampf, Blinzelkrampf, Blepharismus
Englisch: blepharospasm
Definition
Der Blepharospasmus bzw. Lidkrampf ist eine fokale Dystonie der Lidmuskeln, bei der es zu einer ein- oder beidseitigen Kontraktion des Musculus orbicularis oculi mit unwillkürlichem Lidschluss kommt.
Einteilung
Grundsätzlich werden zwei Formen des Blepharospasmus unterschieden:[1][2][3][4][5]
- Primärer Blepharospasmus (idiopathischer Blepharospasmus, essentieller bzw. benigner essentieller Blepharospasmus): Tritt ohne identifizierbaren Auslöser auf.
- Sekundärer Blepharospasmus: Entsteht als Folge einer fokalen Hirnläsion oder als Schutzreflex bei einer okulären Störung, wobei Letzteres auch als "Reflexblepharospasmus" bezeichnet wird.
Epidemiologie
Der Blepharospasmus gilt als häufigste fokale Dystonie des Kopfbereiches[1] und als eine der häufigsten Dystonien des Erwachsenenalters im Allgemeinen.[6]
Angaben zur Prävalenz variieren zwischen 1,6 und 13,3 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Frauen sind in den meisten Erhebungen häufiger betroffen. Das Altersmittel bei Erstmanifestation liegt um 60 Jahre, wobei große Spannweiten angegeben werden.[7]
Ätiologie und Pathogenese
Primärer Blepharospasmus
Die genaue Ätiologie des primären Blepharospasmus ist unklar. Gelegentlich lassen sich familiäre Häufungen bzw. eine Assoziation mit anderen fokalen Dystonien bei erstgradigen Verwandten beobachten, was für eine genetische Prädisposition spricht.[5][8] In einigen Fällen wurden Mutationen in Risikogenen wie THAP1, TOR1A, TOR2A, DRD5 und CACNA1A mit einem idiopathischen Blepharospasmus assoziiert. Veränderungen dieser Gene – teilweise dieselben Mutationen – wurden auch mit der oromandibulären Dystonie oder dem Meige-Syndrom in Verbindung gesetzt.[9]
Zu weiteren, nicht-genetischen ätiologischen Faktoren existiert derzeit (2025) keine ausreichende Evidenz.
Ein gesichertes Konzept zur Pathogenese des essentiellen Blepharospasmus ist aktuell nicht vorhanden. Als wahrscheinlich gilt eine Fehlregulation des Lidschlussreflexes, insbesondere von dessen R2-Anteil.[1][5] Diskutiert wird eine Beteiligung diverser neuroanatomischer Regionen (z.B. Basalganglien, Zerebellum, Thalamus, Motorkortex) und Netzwerke sowie eine Involvierung verschiedenener Neurotransmittersysteme, insbesondere dopaminerger, aber auch cholinerger, serotoninerger und GABAerger.[1][9]
Sekundärer Blepharospasmus
Allgemeine Ursachen des sekundären Blepharospasmus sind:[3][10][11][12][13][14][15][16][17]
- strukturelle Hirnläsionen verschiedener Regionen, insbesondere von Thalamus, Zerebellum, Hirnstamm (alle Anteile) und Basalganglien
- Pharmaka
- Benzo- und Thienodiazepine
- Antipsychotika (sowohl als Früh- als auch als Spätdyskinesie)
- Flunarizin, Cinnarizin
- Venlafaxin
- Lamotrigin
- selten nasale Dekongestiva (Phenylephrin, Pheniramin)
- Parkinsonsyndrome, sowohl atypische Parkinsonsyndrome als auch Morbus Parkinson
Okuläre Ursachen eines sekundären (Reflex-)Blepharospasmus sind:[4][18]
Klinik
Blepharospasmen treten fast immer beidseitig-synchron auf.[5][6] Sie äußern sich durch eine klonische oder tonische Kontraktion des Musculus orbicularis oculi, die zum unwillkürlichen Lidschluss führt.[19] Ein Blepharospasmus dauert üblicherweise Sekunden bis Minuten, in schweren Fällen können die Augen stundenlang geschlossen bleiben.[20] In ausgeprägten Fällen kann ein Blepharospasmus auch zur funktionellen Blindheit führen.[5] Häufig findet sich auch zwischen den Spasmen eine erhöhte Blinzelfrequenz.[5][6]
Typische Auslöser bzw. Verschlechterungsfaktoren sind:[5][19]
- Luftzüge
- helle Lichtreize
- Fernsehen
- Müdigkeit
- emotionaler Stress
- Augentrockenheit
- konzentrierte Tätigkeiten, z.B. Lesen (teils auch als lindernd beschrieben)
Während der Nacht verschwinden die Symptome häufig. In den Morgenstunden sind sie dann deutlich geringer ausgeprägt als abends.
Etwa die Hälfte der Patienten können einen Blepharospasmus durch antagonistische Gesten (sogenannte "sensorische Tricks") lösen.[6] Typisch sind hierfür beispielsweise Gähnen oder das Berühren der Periorbitalregion mit den Fingern.[19]
Idiopathische Blepharospasmen verlaufen in der Regel progredient und breiten sich häufig als Dystonie anderer Körperregionen, insbesondere der perioralen und Kaumuskulatur, aus.[5][9] Eine häufig hieraus resultierende Kombination aus oromandibulärer Dystonie und Blepharospasmus wird als Meige-Syndrom bezeichnet.[5][19]
Eine klinische Sonderform, die sich insbesondere bei Parkinson-Syndromen häufig findet, stellt der prätarsale Blepharospasmus bei der Lidöffnungsapraxie dar.
Diagnostik
Die Diagnosestellung geschieht vor allem klinisch. Hier ist unter anderem auf eine erhöhte Blinzelfrequenz zu achten, die sich durch Konzentrationsaufgaben (z.B. Zählen) vermindern kann. Provoziert werden können die Spasmen beispielsweise durch Lichtquellen, forcierten Augenschluss oder Beklopfen der Glabella.
Eine Darstellung der Orbicularis-oculi-Kontraktionen sowie von Lidschlussreflexanomalien ist mittels EMG möglich, was in der Abgrenzung psychogener Störungen sinnvoll sein kann.[5] Bei typischer Klinik, Auftreten im höherem Erwachsenenalter und isoliert-fokaler Dystonie ist eine weiterführende Diagnostik (z.B. eine cMRT) nur in Ausnahmefällen indiziert.[21]
Bei symptomatischen Fällen richtet sich die weiterführende Diagnostik nach der vermuteten Ursache.
Differentialdiagnostik
Wichtige Differentialdiagnosen sind:[5][19]
- Hemispasmus facialis
- Tic-Störung
- Synkinesien nach Fazialisparese
- psychogenene Gesichtsspasmen
Therapie
Erstlinientherapie ist die lokale Injektion mit Botulinumtoxin[5][21] in die Musculi orbicularis oculi, procerus und corrugator supercilii.[2] Diese Therapie besitzt eine hohe Wirkstärke und eine etwa 90-prozentige Ansprechrate, ihre Wirkung hält im Mittel etwa 12 Wochen an.[21] Mögliche Nebenwirkungen sind Ptosis (durch Diffusion des Toxins zum Musculus levator palpebrae superioris), Lagophthalmus und Keratokonjunktivitis sicca durch den reduzierten Lidschlag.
Insbesondere bei Auslösbarkeit durch Lichtreize können supportiv außerdem Farbton-Brillengläser eingesetzt werden.[2]
Weitere Therapieoptionen, die bei Nichtansprechen auf Botulinumtoxin eingesetzt werden können, sind:[2][21][22]
- Anticholinergika, Tetrabenazin (geringe Evidenz)
- tiefe Hirnstimulation des Ncl. subthalamicus oder GPi bei Meige-Syndrom
- chirurgische Myektomie
Leitlinie
- S1-Leitlinie Dystonie der DGN im AWMF-Register, Stand 2021.
Weblinks
- Untersuchung eines Patienten mit primärem Blepharospasmus: Wray, Benign Essential Blepharospasm, Neuro-Ophthalmology Virtual Education Library, University of Utah, 1996.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 Zhu et al., The pathogenesis of blepharospasm, Frontiers in Neurology, 2024.
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 Yen, Developments in the treatment of benign essential blepharospasm, Current Opinion in Ophthalmology, 2018.
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- ↑ 4,0 4,1 Kuma et al., Reflex Blepharospasm. In: Schmidt-Erfurth und Kohnen (Hrsg.), Encyclopedia of Ophthalmology, Springer Verlag, 2016.
- ↑ 5,00 5,01 5,02 5,03 5,04 5,05 5,06 5,07 5,08 5,09 5,10 5,11 Titi-Lartey und Patel, Benign Essential Blepharospasm, StatPearls, 2023.
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