Lidöffnungsapraxie
Synonyme: Augenlidöffnungsapraxie, Apraxie der (Augen-)Lidöffnung
Englisch: apraxia of (eye-)lid opening (AEO), apraxia of lid opening, eye-opening apraxia
Definition
Als Lidöffnungsapraxie bezeichnet man die vorübergehende Unfähigkeit, die Augenlider nach deren vorherigem Schließen wieder zu heben, ohne dass eine muskuläre, nervale oder nukleäre Störung der Lidmotorik oder eine klinisch sichtbare Kontraktion des Musculus orbicularis oculi vorliegt.
Historie
Die Erstbeschreibung in Kombination mit einer Lidschlussapraxie geht auf den österreichischen Psychiater Paul Schilder zurück.[1]
Terminologie
Der Begriff Lidöffnungsapraxie ist umstritten, da dem Störungsbild aller Wahrscheinlichkeit nach keine apraktische Störung zugrundeliegt (s.u.).[2][3] Vor dem Hintergrund verschiedenartiger pathophysiologischer Konzepte wurden daher zahlreiche alternative Bezeichnungen vorgeschlagen, z.B. "sogenannte" Lidöffnungsapraxie (so-called Apraxia of eyelid opening, scAEO), fokale Augenliddystonie, Blepharokolyse, prätarsaler Blepharospasmus, Blepharospasmus vom Levator-/Lidöffnungsinhibitionstyp oder Augenlid-Freezing.[2][3][4] Da der Begriff der Lidöffnungsapraxie ungeachtet der tatsächlichen Pathophysiologie jedoch die üblichste Bezeichnung des Phänomens darstellt, wird dieser auch im Folgenden verwendet.
Epidemiologie
Es handelt sich um ein seltenes Phänomen, das vor allem im Rahmen von Fallbeschreibungen und -serien erfasst ist. Derzeit liegen nur wenige epidemiologische Daten vor. Eine italienische Studie bezifferte die Prävalenz auf 5,9 Fälle pro 100.000 Einwohner, was bei sehr geringer Fallzahl und breitem Konfidenzintervall jedoch mit Vorsicht zu beurteilen ist.[5]
Ätiologie
Eine Lidöffnungsapraxie wurde beschrieben bei:[2][6][7][8][9][10][11][12][13][14][15][16]
- neurodegenerativen Erkrankungen (häufigste Ursache)
- tiefer Hirnstimulation des Nucleus subthalamicus sowie bilateraler Subthalamotomie
- Lithiumintoxikation
- Therapie mit Flunarizin oder Antipsychotika
- Hirninfarkten oder -blutungen, insbesondere rechtshemisphärisch, thalamisch oder basalganglionär
- Schädel-Hirn-Trauma
- multipler Sklerose
Unter tiefer Hirnstimulation und L-Dopa-Therapie bei Parkinsonsyndrom wurde sowohl ein Auftreten als auch eine Besserung einer Lidöffnungsapraxie berichtet.[2]
Selten kann eine Lidöffnungsapraxie auch isoliert bzw. idiopathisch auftreten.[9][17][18]
Pathophysiologie
Die Hebung des Oberlides nach Augenschluss erfordert die gleichzeitige Relaxation des Musculus orbicularis oculi und Aktivierung des Musculus levator palpebrae superioris. In elektrophysiologischen Studien sind hierfür bei Lidöffnungsapraxiepatienten drei Störungsmuster nachweisbar:[2]
- eine Minderaktivierung des Musculus levator palpebrae superioris ("involuntary levator palpebrae inhibition", ILPI)
- eine inadäquate, tonische Aktivierung der Pars palpebralis des Musculus orbicularis oculi (entsprechend einem prätarsalen Blepharospasmus), wobei diese Kontraktionen klinisch nicht beobachtbar, aber EMG-technisch nachweisbar sind
- kombinierte Störungen von Levator-Aktivierung und Orbicularis-oculi-Relaxation ("disturbed reciprocal innervation", häufigstes Muster)
Innerhalb der Dyskinesien kann man die Lidöffnungsapraxie damit, je vorherrschender Störung, entweder als hypokinetische Dyskinesie (insbesondere als eine Art Freezing-Phänomen) oder als hyperkinetische Dyskinesie (insbesondere als Dystonie) einordnen.[2] Möglicherweise handelt es sich um ein Störungsspektrum, bei denen prätarsaler Blepharospasmus und Levator-palpebrae-Inaktivität zwei Extrempole darstellen.[2] Andererseits existieren auch Hypothesen, nach welchen auch bei Patienten mit ILPI inadäquate Kontraktionen nur des Riolan-Muskel-Anteils des Orbicularis oculis ursächlich sein könnten und somit in jedem Fall eine Art Blepharospasmus vorliegt.[2]
Eine Apraxie – zumindest in deren engeren Sinne – liegt wahrscheinlich aus mehreren Gründen nicht vor.[2] Schließlich ist die Lidöffnung keine willkürmotorische Fähigkeit, die einer komplexen Handlungsplanung bedarf, sondern läuft automatisiert und reflexähnlich ab. Für andere apraktische Störungen typische Fehlhandlungsmuster werden nicht beobachtet. Auch findet sich weder eine Assoziation mit anderen Apraxien noch eine nachweisbare Verbindung mit typischerweise apraxieassoziierten kortikalen Läsionen; die häufig ursächlichen Erkrankungen sind primär subkortikal lokalisiert.
Abgesehen von der eher basalganglionären Lokalisation der ursächlichen Erkrankungen ist die Topologie der Störung bislang ungeklärt. Größere Bildgebungsstudien zur Korrelation mit lädierten Hirnarealen liegen bisher nicht vor.[2]
Klinik
Kennzeichen der Lidöffnungsapraxie ist die intermittierend auftretende Unfähigkeit, nach einem willkürlichen oder unwillkürlichen Augenschluss die Lider wieder anzuheben.[2][3] Meist sind dabei beide, seltener nur ein Lid oder beide Seiten im Wechsel betroffen.[10][18] Sehr häufig heben die Patienten als Kompensationsversuch dabei die Augenbrauen durch Kontraktion des Musculus (occipito-)frontalis stark an,[2][3][19] in einigen Fallschilderungen sind auch kompensatorische Kopfschleuderbewegungen beschrieben.[1][3][19]
Ein Teil der Patienten verwendet außerdem antagonistische Gesten,[2] z.B. Berühren von Temporalregion oder Augenwinkel, das Abdecken der Augen oder die manuelle Öffnung der Lider,[3][10][20] um bei Apraxieepisoden eine Lidöffnung zu ermöglichen.
Teilweise lassen sich Apraxieepisoden auch durch sensorische Stimuli provozieren, z.B. Beklopfen der Glabella oder Berührung der Wimpern.[2] Für einige idiopathische Fälle ist auch ein Auftreten ausschließlich beim Aufwachen beschrieben.[18]
Diagnostik
Es handelt sich primär um eine klinische Diagnose. In der körperlichen Untersuchung kann bei prätarsalem Blepharospasmus teilweise ein Widerstand gegen die Lidöffnung durch den Untersucher oder eine Induzierbarkeit durch sensorische Stimuli (s.o.) beobachtet werden.
Zumindest in einem Teil der Fälle sind in der Elektromyographie Auffälligkeiten festzustellen.
Von Lepore und Duvoisin verwendete Diagnosekriterien sind:[21]
- Transiente Unfähigkeit zur Initiierung der Lidhebung
- keine klinischen Anzeichen einer Orbicularis-oculi-Kontraktion, z.B. negatives Charcot-Zeichen (Absenken der Augenbrauen unterhalb des Orbitaoberrandes)
- deutliche Frontaliskontraktion während der Apraxieepisoden
- kein Nachweis einer okulären Myopathie, Okulomotorius- oder Sympathikusdysfunktion
Differentialdiagnostik
Differentialdiagnostisch ist eine Ptosis palpebrae abzugrenzen, bei der die Lidhebung an sich gestört ist. Im Gegensatz zu dieser ist das Aufrechterhalten einer Lidelevation nach forcierter Öffnung durch den Untersucher bei der Lidöffnungsapraxie ungestört möglich.[13] Ein Blepharospasmus mit sichtbarer Orbicularis-oculi-Kontraktion kann anhand des Charcot-Zeichens (s.o.) abgegrenzt werden.[4][21] Des Weiteren muss man funktionelle Lidöffnungsstörungen bedenken.
Therapie
Erstlinientherapie ist die prätarsale Injektion von Botulinumtoxin, worauf zumindest ein Teil der Patienten anspricht.[2][22] Inwieweit hierfür die EMG-technische Feststellung einer Dystoniekomponente notwendig bzw. sinnvoll ist, ist bislang (2025) nicht untersucht.
Zur weiteren Therapie existiert kaum Evidenz. Unter Behandlung mit L-Dopa ist sowohl eine Besserung als auch eine Provokation der Apraxieepisoden beschrieben,[2] auch bei idiopathischer Genese ohne assoziiertes Parkinsonsyndrom kann eine solche Therapie erwogen werden.[23] In Einzelberichten kam es außerdem unter Therapie mit Aripiprazol zur Linderung.[24]
Bei ausbleibender Besserung können auch plastisch-chirurgische Eingriffe (z.B. Straffung des Musculus levator palpebrae superioris, Frontalissuspension) hilfreich sein.[22][25] Bei PSP-bedingter Lidöffnungsapraxie wurde außerdem über eine Symptombesserung durch beidseitige tiefe Hirnstimulation im Bereich des GPi berichtet.[26]
Weblinks
- Befund einer Lidöffnungsapraxie mit Blepharospasmuskomponente und antagonistischen Gesten bei zwei Patienten (Video): Miller, Apraxia of Eyelid Opening, Neuro-Ophthalmology Virtual Education Library, University of Utah, 2024.
- Befund einer Lidöffnungapraxie nach tiefer Hirnstimulation: Behbehani, Apraxia of Eyelid Opening, Neuro-Ophthalmology Virtual Education Library, University of Utah, 2016.
Quellen
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