Atypisches hämolytisch-urämisches Syndrom
Synonym: Komplementvermitteltes HUS
Englisch: atypical hemolytic-uremic syndrome
Definition
Das atypische hämolytisch-urämische Syndrom, kurz aHUS, ist eine Form der thrombotischen Mikroangiopathie, die durch eine unkontrollierte Aktivierung des Komplementsystems verursacht wird. Es äußert sich durch eine Symptom-Trias aus hämolytischer Anämie, Thrombozytopenie und akuter Nierenfunktionsstörung.
Abgrenzung
Das aHUS darf nicht mit dem typischen hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) verwechselt werden, bei dem die Symptome durch Bakterientoxine ausgelöst werden.
Epidemiologie
Die Prävalenz in Europa wird auf 1 von 50.000 bis 100.000 geschätzt. Bei Kindern macht das aHUS etwa 5 bis 10 % der HUS-Fälle aus. Die Geschlechterverteilung ist ausgeglichen. Bei Erwachsenen handelt es sich in den meisten Fällen um ein aHUS, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer.
Ätiologie
Dem aHUS liegen verschiedene prädispositionierende genetische Veränderungen in Genen des alternativen Komplementwegs zugrunde. Damit ein aHUS entsteht, muss jedoch ein zusätzlicher Auslöser dazukommen. Mögliche Auslöser sind z.B. eine Schwangerschaft, eine Transplantation oder eine akute Infektionen. Sie führen zu einer unkontrollierten Aktivierung des Komplementsystems.
Die genetischen Veränderungen umfassen z.B. Einzelnukleotidvpolymorphismen (SNPs) und Kopienzahlvarianten (copy number variants, CNVs). Die genetischen Veränderungen bei aHUS betreffen u.a. den Komplementregulator Faktor H, Gene des Regulator of Complement Activation Genclusters (CFHR 1 bis 5), den Faktor I, das Membrancofaktorprotein (CD46), Thrombomodulin sowie die Komponenten der C3-Konvertase, den Komplementfaktor C3 und Faktor B.
Allerdings können Mutationen und genetische Polymorphismen in Komplementgenen nur bei 60 bis 70 % der Patienten nachgewiesen werden.
Darüber hinaus existiert eine erworbene Form des aHUS, die durch Faktor-H-Autoantikörper ausgelöst wird.
Pathophysiologie
Die unkontrollierte Aktivität des Komplementsystems verursacht eine ausgeprägte Schädigung des Endothels. Dies führt zur Bildung von Blutgerinnseln in den kleinen Gefäßen und zur Entwicklung einer thrombotischen Mikroangiopathie. Dabei sind die Erythrozyten erhöhten Scherkräften ausgesetzt. So entsteht eine Coombs-negative hämolytische Anämie mit Schistozyten. Durch die Mikrothromben kommt es zur Nierenschädigung und Thrombozytopenie.
Symptome
Das klinische Bild kann je nach Ausmaß der Thrombosierungen und Organschäden unterschiedlich aussehen. Typisch ist ein akuter Beginn, in 20 % der Fälle beginnen die Symptome jedoch schleichend.
Mögliche Symptome sind:
- Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen
- Anorexie
- Blässe
- Hypertonie
- Proteinurie, Hämaturie, Oligurie, Anurie
- Schmerzen
Weiterhin können andere Organsysteme betroffen sein und unterschiedliche Symptome verursachen:
- ZNS (10 bis 50 %): Gereiztheit, Verwirrtheit, Krampfanfälle, fokale neurologische Defizite, Bewusstseinsveränderungen
- Herz-Kreislauf (ca. 10 %): Kardiomyopathie, Myokardinfarkt
- Peripheres Gefäßsystem (selten): gangränöse Läsionen in Fingern und Zehen
- Lunge (selten): Hämorrhagien
- Gastrointestinaltrakt (selten): Pankreatitis, Blutungen, hepatozelluläre Schädigung
- Muskulatur (selten): Rhabdomyolyse
Etwa 50 Prozent der Patienten erleiden innerhalb kurzer Zeit ein vollständiges Nierenversagen und werden dialyseabhängig.
Diagnostik
Die Verdachtsdiagnose aHUS wird gestellt, wenn bei einer thrombotischen Mikroangiopathie mit Nierenschädigung häufigere Differenzialdiagnosen ausgeschlossen wurden.
Zur Diagnosesicherung werden eine Gendiagnostik sowie Funktionstests der Komplementfaktoren durchgeführt. Zudem erfolgt ein Test auf Faktor-H-Autoantikörper.
Therapie
Patienten mit aHUS können Eculizumab erhalten. Dabei handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper gegen den Komplementfaktor C5. Das Medikament sollte möglichst innerhalb von 24h verabreicht werden und wird dauerhaft eingenommen.
Zusätzlich erfolgt die symptomatische Behandlung der auftretenden Symptome, z.B. mittels Nierenersatztherapie und Erythrozytenkonzentrat-Transfusionen.
Der Plasmaaustausch ist weniger wirksam als der Einsatz von Eculizumab, kann aber besonders in ärmeren Ländern zum Einsatz kommen.
Beim Vorliegen von Faktor-H-Autoantikörpern kann eine immunsuppressive Therapie eingesetzt werden.
Prognose
Unbehandelt entwickeln etwa 50 % der Patienten innerhalb kurzer Zeit eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz. Das aHUS verläuft meist schwerer als das typische HUS.
Durch Fortschritte in der Therapie des aHUS konnte die Prognose deutlich verbessert werden.
Quellen
- orpha.net – Hämolytisch-urämisches Syndrom, atypische Form, abgerufen am 18.07.2024
- Raina et al., Atypical Hemolytic-Uremic Syndrome: An Update on Pathophysiology, Diagnosis, and Treatment, The Apher Dial, 2019
- medgen-mainz.de – Genetische Diagnostik des atypischen hämolytisch-urämischen Syndroms (aHUS, komplement-vermitteltes HUS), abgerufen am 18.07.2024