Vordere Schultergelenkluxation
Synonyme: Anteriore Schultergelenkluxation, vordere Schulterluxation, Luxatio glenohumeralis anterior, Luxatio subcoracoidea
Englisch: anterior glenohumeral dislocation, anterior shoulder instability
Definition
Bei der vorderen Schultergelenkluxation wird der Humeruskopf nach anterior aus der Gelenkpfanne des Schultergelenks (Glenoid) verschoben. Es handelt sich um die häufigste Form der Schultergelenkluxation.
Epidemiologie
Eine vordere Schultergelenkluxation weist zwei Altersgipfel auf: Im Alter von 20 bis 29 Jahren tritt sie in ca. der Hälfte der Fälle im Rahmen von Sportverletzungen auf. Dabei sind Männer häufiger betroffen. Der zweite Altersgipfel ist weiblich dominiert, geringer ausgeprägt und resultiert typischerweise aus Stolperstürzen ab dem 60. Lebensjahr. Die Inzidenz beträgt 11 bis 29 pro 100.000 Einwohner. Es handelt sich um die häufigste Gelenkluxation des menschlichen Körpers.
Ätiologie
Verschiedene Mechanismen können eine vordere Schultergelenkluxation bedingen. Ursächlich ist häufig eine anteriore Krafteinwirkung auf den distalen Arm, der sich in Abduktion- und Außenrotationstellung befindet. Dadurch hebelt der Humeruskopf nach vorne aus und der Humerushals berührt das Akromion. Alternativ kann auch ein direkter Schlag auf die Rückseite der Schulter oder ein gewaltsamer Zug am Arm zu einer vorderen Luxation führen.
Begleitverletzungen
Eine vordere Schultergelenkluxation kann zu verschiedenen Begleitverletzungen führen. Der posteriore Humeruskopf berührt das anteriore Glenoid und führt zu einem Abriss des Labrum glenoidale (Bankart-Läsion) oder zu Knochenverletzungen (Hill-Sachs-Fraktur, Bankart-Fraktur).
Die Abflachung des posterosuperioren Humeruskopfs (Hill-Sachs-Fraktur) und die anteroinferiore Glenoidfraktur (ossäre Bankart-Läsion) werden als bipolare Knochenverletzung zusammengefasst.
Hill-Sachs-Fraktur
Eine Hill-Sachs-Impaktionsfraktur tritt in etwa 80 % der Fälle auf. Sie führt zu einer Abflachung des posterosuperioren Humeruskopfs und wird im Hinblick auf die Stabilität des Gelenks wie folgt bewertet:
- stabil: < 20 % der Gelenkfläche betroffen
- intermediär: 20 - 40 % der Gelenkfläche betroffen
- instabil (Reluxation wahrscheinlich): > 40 % der Gelenkfläche betroffen
Eine Hill-Sachs-Läsion (HSL) kann in Außenrotation und Abduktion am anterioren Glenoidrand einhaken (Engaging) und so zur chronischen Instabilität führen. Nach dem Glenoid-Track-Konzept bestimmt dabei die Lage und Größe der Hill-Sachs-Delle, ob das Gelenk instabil ist. In diesem Konzept wird die Kontaktzone zwischen Humeruskopf und Glenoid als "Glenoid Track" bezeichnet. Ist die HSL kleiner als diese Zone, spricht man von einer On-Track-Läsion, ist sie größer, liegt eine Off-Track-Läsion vor. Bei Off-Track-Läsionen besteht ein erhöhtes Engaging-Risiko mit Dislokation.
Mithilfe des radiologisch vermessenen Hill-Sachs-Intervalls lassen sich die Hill-Sachs-Frakturen den beiden o.a. Kategorien zuordnen:
- Off-Track: Größe Hill-Sachs-Intervall > Glenoid Track
- On-Track: Größe Hill-Sachs-Intervall < Glenoid Track
Bankart-Fraktur
Die Bankart-Fraktur ist eine anteroinferiore Glenoidfraktur bzw. ein entsprechender Knochenverlust. Sie kann zu einer Non-Union führen oder es kommt zu einer Resorption des Fragments. Der Knochenverlust am Glenoid kann sich bei bleibender Instabilität vergrößern. Wenn er mehr als 20 bis 25 % der Cavitas glenoidalis beträgt, ist unter Umständen eine Knochenaugmentation notwendig.
Bankart-Läsion
Eine Bankart-Läsion (vorderer Labrumriss) oder ihre Varianten treten nach anteriorer Luxation bei etwa 75 % der Patienten unter 40 Jahren auf. Bei der klassischen Bankart-Läsion liegt ein Riss des vorderen Labrums und der Kapselinsertion vor.
Weitere Läsionen
- HAGL-Läsion ("Humeral Avulsion of the Glenohumeral Ligament")
- GAGL-Läsion ("Glenoid Avulsion of the Glenohumeral Ligament")
- Riss des anterioren Schenkels des IGHL
- Rotatorenmanschettenruptur (80 % bei > 60 Jahren)
- Tuberculum-majus-Fraktur (Avulsionsfraktur, viermal häufiger bei Personen > 30 Jahren)
- Riss der Subscapularissehne oder Avulsionsfraktur des Tuberculum minus humeri
- Nerven- und Gefäßverletzungen (selten), z.B. des Nervus axillaris
Die meisten dieser Verletzungen kommen vor allem bei älteren Patienten vor.
Klinik
Die anteriore Schulterluxation geht mit Schulterschmerzen und Bewegungseinschränkungen einher. Der Patient nimmt eine Schonhaltung mit angewinkeltem Arm ein.
Diagnostik
Die Diagnosestellung umfasst Anamnese, körperliche Untersuchung und Bildgebung. In der Anamnese sind Unfallmechanismus, vorangegangene Luxationsereignisse sowie das Aktivitätslevel der Patienten entscheidend für die weitere Therapieentscheidung.
Die körperliche Untersuchung umfasst eine Überprüfung der peripheren Durchblutung, Motorik und Sensibilität. Außerdem wird die Schulterstabilität (z.B. Apprehension-Test) und die Funktion der Rotatorenmanschette (z.B. Jobe-Test, Hornblower-Zeichen, Lift-Off-Test) getestet. Eine Hyperlaxizität als Risikofaktor für eine Reluxation wird z.B. mit dem Beighton-Score eingeschätzt.
Konventionelles Röntgen
Im Röntgen-Schulter a.p. ist der Humeruskopf in Relation zum Glenoid nach medial und inferior verschoben. Dabei kann der Humeruskopf entlang des anterioren Glenoidrands eingerastet sein. Insbesondere bei älteren Patienten kann zusätzlich eine Tuberculum-majus-Fraktur vorliegen.
In der axialen Aufnahme ist der Humeruskopf in Relation zum Glenoid nach anterior verlagert. In einigen Fällen ist eine Fraktur des vorderen Glenoidrands (Bankart-Fraktur) oder eine Abflachung des anterioren Glenoids (Impaktion oder chronischer Knochenverlust) erkennbar. Nach der ersten Luxation findet sich eine Bankart-Fraktur in 15 % der Fälle.
Die seitliche Projektion (Y-Aufnahme) wird angefertigt, wenn die axiale Aufnahme lagerungsbedingt nicht durchführbar ist. Dabei ist der Humeruskopf nach anterior unter den Processus coracoideus verlagert.
Ungefähr 35 % der Frakturen nach einer Luxation sind nur in Röntgenbildern nach Reposition erkennbar. Bei anteriorer Instabilität nach Reposition werden folgende Aufnahmen angefertigt:
- Aufnahme bei innenrotiertem Humeruskopf (IRO): Posterosuperiore Impaktionsfraktur des Humeruskopfs (Hill-Sachs-Läsion). Ist in 80 % der Fälle nach der ersten Luxation erkennbar.
- Schulter axial: Bankart-Fraktur oder Knochenverlust des Glenoids
- West-Point-Aufnahme: sensitiver für kleine Bankart-Frakturen
Computertomographie
Die Computertomographie (CT) wird insbesondere nach Reposition durchgeführt. Sie ist sensitiver für den Nachweis von Hill-Sachs- und Bankart-Frakturen als das Röntgen. Weiterhin dient die CT der Planung von Knochentransplantationen bei großen Hill-Sachs-Frakturen und/oder erheblichem Knochenverlust am Glenoid.
Die CT-Arthrographie ist nützlich für die Diagnose von Labrumrissen, insbesondere wenn eine MRT nicht durchführbar ist.
Magnetresonanztomographie
Entscheidende Sequenzen bei der Magnetresonanztomographie sind koronale T2w-FS- und axiale PDw-FS-Sequenzen. Anteroinferior finden sich folgende Befunde:
- Bankart-Läsion: anteroinferiorer kapsulolabraler Riss
- Abflachung des vorderen Glenoids (Impaktion oder chronischer Knochenverlust) oder Frakturfragment (ossäre Bankart-Läsion)
- Riss des Ligamentum glenohumerale inferius (IGHL): Am häufigsten ist das anteriore Band betroffen.
Am posterosuperioren Humeruskopf kann neben einer Knochenkontusion auch eine Hill-Sachs-Impaktionsfraktur erkennbar sein.
Die MR-Arthrographie ist sensitiver für anteriore kapsulolabrale Verletzungen. Bei nicht-dislozierten anterioren Labrumrissen ist die ABER-Position hilfreich.
Differentialdiagnosen
- inferiore Humeruskopf-Subluxation: Subluxation aufgrund einer Schwäche des Musculus deltoideus, meist nach Fraktur des Humerushalses
- multidirektionale Schulterinstabilität: Instabilitätsgefühl ohne vorherige Luxation oder Labrumläsion. Überdehnbarer Kapsel-Bandapparat, typischerweise familiär oder bei Sportlern mit großem Bewegungsausmaß im Schultergelenk (z.B. Schwimmern).
Therapie
Bei einer anterioren Luxation wird in der Regel eine geschlossene Reposition unter Analgosedierung vorgenommen, z.B. mit der Arlt-Technik oder Stimson-Technik. In Einzelfällen, z.B. bei sehr starkem Muskeltonus, ist eine Kurznarkose erforderlich, um eine ausreichende Muskelrelaxation zu erreichen. Danach erfolgt eine temporäre Ruhigstellung (meist in Außenrotationsstellung) für etwa 2 bis 4 Wochen mit begleitender Physiotherapie. Nach Ausheilung dient ein Muskeltraining der Stärkung des Schultergelenks, um das Risiko einer erneuten Luxation zu senken. Sollte es zu einer Reluxation oder zu Instabilitätsbeschwerden durch Subluxationen trotz mindestens sechsmonatiger konservativer Behandlung kommen, wird die Indikation zur operativen Stabilisierung gestellt.
Eine operative Therapie wird vor allem bei jungen, sportlich aktiven Männern empfohlen, da diese ein deutlich höheres Risiko für eine anhaltende Instabilität nach einer traumatischen Erstluxation aufweisen als Frauen. Die operative Stabilisierung erfolgt meist arthroskopisch.
Arthroskopische Operationen
| Operation | Indikation | Durchführung |
|---|---|---|
| Bankart-Operation | Labrumverletzung, Glenoidverletzung | Refixation des ventralen Labrumkomplexes |
| Bankart-Plus-Technik | Labrumverletzung und ossäre Glenoiddefekte | Ergänzung der Labrumrefixation um Interponat aus demineralisierter spongiöser Knochenmatrix |
| Remplissage | Off-Track-Hill-Sachs-Läsion | Augmentation mit posterolateraler Kapsel und Teilen des Musculus infraspinatus |
| Latarjet-Operation | Chronische traumatische Schulterinstabilität bei Verletzung des Glenoids | Transfer des Processus coracoideus mit korakoakromialen Ligamenten und Conjoint Tendon an den ventralen Glenoidrand |
Offen-chirurgische Operationen
| Operation | Indikation | Durchführung |
|---|---|---|
| Latarjet-Operation | chronische ossäre Glenoiddefekte | deltopektoraler Zugangsweg und Transfer von Processus coracoideus und korakoakromialen Ligamenten und Conjoint Tendon an den ventralen Glenoidrand |
| Offene Bankart-Operation | Verletzung des Glenoids mit ggf. knöcherndem Defekt | Refixation des ventralen Labrums an das Glenoid. Größere knöcherne Defekte werden mittels Schrauben refixiert. |
| Knochenblocktransfer | chronische Instabilität mit substanziellem knöchernem Glenoiddefekt | Entnahme eines Knochenspans aus dem vorderen Beckenkamm oder als freier Korakoidtransfer bzw. Verwendung von Allografts (Beckenkammspan, Femurkopf, distaler Tibiaspan) und Fixation mit Schrauben oder Impaktion mittels J-Span-Technik |
Prognose
Tritt eine anteriore Schulterluxation vor dem 20. Lebensjahr auf, beträgt das Risiko einer erneuten Luxation rund 90 %. Bei einer anterioren Schulterluxation nach dem 40. Lebensjahr, beträgt das Risiko einer Reluxation etwa 10 bis 15 %.