Toxische epidermale Nekrolyse
Synonyme: toxisch-epidermale Nekrolyse, Epidermolysis acuta toxica, Syndrom der verbrühten Haut, medikamentöses Lyell-Syndrom
Englisch: toxic epidermolytic necrosis
Definition
Die toxische epidermale Nekrolyse, kurz TEN, ist eine schwerwiegende allergische Medikamentennebenwirkung, die durch eine progrediente Blasenbildung der Haut mit konsekutiver Ablösung der Epidermis (Epidermolyse) gekennzeichnet ist.
Nomenklatur
In der Literatur wird die toxische epidermale Nekrolyse auch als "Lyell-Syndrom" oder "medikamentöses Lyell-Syndrom" bezeichnet. Diese Bezeichnung wird jedoch zum Teil auch für das Staphylococcal scalded skin syndrome (SSSS) verwendet und kann zu Verwechslungen führen. Es handelt sich um zwei eigenständige Erkrankungen, die sich ätiologisch unterscheiden und verschiedene Therapiestrategien erfordern.
Hintergrund
Die toxische epidermale Nekrolyse und das Stevens-Johnson-Syndrom (SJS) sind Teil des selben pathologischen Prozesses und können ineinander übergehen. Das früher als leichter verlaufende Variante angesehene Erythema exsudativum multiforme (EEM) wird heute (2024) als eigene Krankheitsentität betrachtet.
Ätiopathogenese
Eine toxische epidermale Nekrolyse kann als Arzneimittelkomplikation bei verschiedenen Medikamenten auftreten. Auslöser sind u.a.:
- Allopurinol
- Coxibe (Celecoxib)
- Antiepileptika (Carbamazepin, Phenytoin)
- Analgetika (Metamizol; versch. NSAID, u.a. Ibuprofen, Diclofenac) und
- Antibiotika (Sulfonamide, Cotrimoxazol)
Der genaue Pathomechanismus einer toxischen epidermalen Nekrolyse ist noch nicht genau geklärt. Nach Ansicht einiger Autoren handelt es sich um eine Typ-II-Allergie, nach Ansicht anderer Autoren um eine Typ-IV-Allergie.
Für die Auslösung der Immunreaktion werden drei Modelle vorgeschlagen:[1]
- Kovalente Bindung des Arzneistoffs an ein Protein der Zelloberfläche ("Hapten-Konzept")
- Nicht-kovalente, direkte Interaktion des Arzneistoffs mit einem spezifischen MHC-Klasse-I-Allotyp oder einem T-Zell-Rezeptor
- Modifikation des MHC-Klasse-I-Rezeptors durch Komplexbildung mit dem Arzneistoff, wodurch die betroffene Zelle als körperfremd identifiziert wird
Nach den Modellen II und III besteht nur für Träger bestimmter HLA-Eigenschaften das Risiko, eine toxische epidermale Nekrolyse zu entwickeln. Tatsächlich konnte bei Asiaten eine Assoziation zwischen einer toxischen epidermalen Nekrolyse nach Gabe von Carbamazepin und dem Allel HLA-B*1502 nachgewiesen werden.
Unabhängig vom genauen Auslösemechanismus führt der Arzneistoff zu einer starken Expression von Fas-L (CD95L) auf Keratinozyten und zur Sekretion von Granulysin und Annexin A1 durch zytotoxische T-Zellen, NK-Zellen und Monozyten.[1]
Ein Schlüsselmechanismus der Entzündungsreaktion bei TEN ist die Aktivierung des JAK/STAT-Signalwegs. Mithilfe der Deep-Visual-Proteomics-Technik konnten eine starke Typ-I- und Typ-II-Interferonsignatur in Immunzellen und Keratinozyten sowie eine STAT1-Aktivierung nachgewiesen werden.[2]
Klinik
Klinisch imponieren initial kleine fleckförmige Rötungen, die zu großflächigen Exanthemen konfluieren. Im weiteren Verlauf kommt es zur Blasenbildung, Nekrose und Ablösung der Oberhaut (Epidermolyse) mit schwerwiegenden Flüssigkeits- und Elektrolytverlusten. In der Regel leiden die Patienten unter hohem Fieber.
Diagnostik
Der Befund einer toxischen epidermalen Nekrolyse wird anhand der Anamnese (Medikamenteneinnahme?, Vorerkrankungen?), des Sichtbefundes und der histopathologischen Begutachtung einer Hautprobe gestellt.
Charakteristisch für den pathologischen Befund ist eine epidermale Nekrose und eine Auflösung des Zellverbundes der Keratinozyten (Akantholyse).
Das Nikolski-Phänomen ist positiv.
Differentialdiagnostik
Differentialdiagnostisch gilt die Abgrenzung gegenüber
- dem Staphylococcal scalded skin syndrome, bei dem die Schleimhäute nicht betroffen sind und
- dem Stevens-Johnson-Syndrom, einer milderen Verlaufsform der allergischen Hautreaktion, bei der max. 1/10 des gesamten Integumentes betroffen ist.
Komplikationen
Durch hohe Volumenverluste kann es zur Ausbildung eines hypovolämischen Schockes kommen.
Eine Infektion der betroffenen Hautareale kann eine Sepsis zur Folge haben.
Therapie
Ähnlich dem Verbrennungsmanagement ist eine intensivmedizinische Überwachung mit Volumensubstitution und steriler Abdeckung der betroffenen Körperareale indiziert. Zur Vermeidung bakterieller Infektionen ist der Patient entsprechend zu isolieren. Erste Anzeichen einer Infektion sind antibiotisch zu behandeln.
Die kausale Therapie umfasst vor allem die intravenöse Gabe hochdosierter Glukokortikoide. In kleinen Patientenkollektiven wurden off-label die JAK-Inhibitoren Abrocitinib und Tofacitinib eingesetzt. Unter dieser Therapie kam es zu einer schnellen Rückbildung der Symptome und zu einer Reepithelialisierung der Haut.[2]
Literatur
- Pschyrembel - Lyell-Syndrom, abgerufen am 14.01.2022
- Altmeyers - Toxisch-epidermale Nekrolyse, abgerufen am 14.01.2022
- ICD-Code, abgerufen am 14.01.2022
- Plewig et al. Braun-Falco’s Dermatologie, Venerologie und Allergologie, 7. Auflage, Springer-Verlag, 2018
- Schoenenberger et al. Internistische Notfälle, Thieme-Verlag, 2009
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Wolfram Hoetzenecker et al.: Toxic epidermal necrolysis F1000Res. 2016; 5: F1000 Faculty Rev-951. Published online 2016 May 20. doi: 10.12688/f1000research.7574.1 PMCID: PMC4879934 PMID: 27239294
- ↑ 2,0 2,1 Nordmann, T.M., Anderton, H., Hasegawa, A. et al. Spatial proteomics identifies JAKi as treatment for a lethal skin disease. Nature 635, 1001–1009 (2024). https://doi.org/10.1038/s41586-024-08061-0
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