Polytrauma
Synonym: Mehrfachverletzung
Englisch: polytrauma, multiple trauma
Definition
Unter dem Notfallbild des Polytraumas versteht man eine gleichzeitig entstandene Verletzung mehrerer Körperregionen oder Organsysteme, wobei mindestens eine der Verletzungen oder eine Kombination aus zwei Verletzungen lebensbedrohlich ist.
Einteilung
Der Begriff Polytrauma wird nicht einheitlich verwendet. Es existieren verschiedene Definitionen. So fordert eine andere Definition einen Injury Severity Score (ISS) von mindestens 16 (von max. 75) Punkten. Diese ist präklinisch jedoch kaum umsetzbar. Der Injury Severity Score wird insbesondere für die Klassifikation von Verletzungsgraden im Rahmen von Studien verwendet.
Seit 2014 gibt es zudem die sogenannte Berlin-Definition. Diese definiert ein Polytrauma durch relevante Verletzungen von mindestens zwei Körperregionen mit einem AIS-Wert (Abbreviated Injury Scale) von ≥3, wobei zusätzlich einer der folgenden Parameter vorliegen muss: Alter ≥ 70, Azidose, Hypotension, Koagulopathie und Bewusstlosigkeit.
Hintergrund
Bis zum Beweis des Gegenteils muss ein Polytrauma angenommen werden bei:
- Hochgeschwindigkeitstrauma
- Tod eines Fahrzeuginsassen oder Unfallgegners
- Ejektion aus dem Fahrzeug
- Überrolltrauma
- Sturz aus großer Höhe (> 3 Meter)
- Explosion
Epidemiologie
Jedes Jahr verletzen sich in Deutschland zwischen 32.000 bis 38.000 Menschen schwer (ISS > 15), die stationär bzw. intensivmedizinisch im Krankenhaus behandelt werden müssen. In den meisten Fällen (ca. 60 %) handelt es sich dabei um Verkehrsunfälle, daneben um Stürze aus mehr als 3 Meter Höhe oder Suizidversuche. In mehr als der Häfte der Fälle liegt dabei ein schweres Schädel-Hirn-Trauma oder ein Thoraxtrauma vor. Schwere Bauchtraumata finden sich etwa in 1/4 der Fälle.
Pathogenese
Unabhängig von der Ursache und den Verletzungen führt ein (unbehandeltes) Polytrauma zu einer Ischämie des Gewebes. Bei dieser Schädigung kommt es zu einer massiven Ausschüttung von Zytokinen, die eine überschießende Immunantwort auslösen und ein SIRS verursachen können. Diese Dysregulation ist maßgeblich für die Entstehung eines Multiorganversagens als Folge eines Polytraumas verantwortlich.
Komponenten
Als Polytraumen können unter anderem Beckenfrakturen, Wirbelsäulenverletzungen, starke arterielle Blutungen, Schädel-Hirn-Traumata, Rippenserienfrakturen (mit und ohne Hämatothorax, einzeln oder in Kombination) - je nach Schweregrad der einzelnen Verletzung - angesehen werden.
Prähospitale Phase
Ziele der primären Versorgung des Polytraumas durch das Rettungsdienstpersonal und den Notarzt sind die Sicherung der Vitalfunktionen, die Herstellung der Transportfähigkeit sowie eine ausreichende Analgesie des Patienten. Aufgrund der komplexen Verletzungsmuster mit Einbeziehung verschiedener Organsysteme gibt es keine allgemeingültige Therapie, die immer anwendbar ist.
Hilfe zur Orientierung und Behandlung bietet das xABCDE-Schema. Es stellt durch seine Priorisierung ein Konzept zur möglichst schnellen Unterbrechung bzw. Minimierung der Ischämie dar. Ein elementares Grundprinzip bei der Therapie ist dabei: "Treat first, what kills first".
Falls ein Buchstabe eine Pathologie aufweist, spricht man z.B. von einem "B-Problem" oder einem "C-Problem". Das Personal versucht dann unter Anwendung von geschulten Techniken dieses Problem zu beheben, bevor es zum nächsten Punkt übergeht. Das Ziel ist eine Stabilisierung des Zustandes und der zügige Transport in eine Klinik, nicht die endgültige Therapie.
xABCDE-Schema
x - Exsanguination
Bereits beim Herantreten an den Verunfallten kann man ggf. kritische äußere Blutungen (Exsanguination - engl. für Ausbluten) erkennen. Als Erstmaßnahme müssen diese Blutungen ohne weiteren Zeitverlust gestoppt werden ("Stop the Bleed"). Bei aktiven Blutungen der Extremitäten wird folgendes Stufenschema empfohlen:
- manuelle Kompression
- Kompressionsverband, falls möglich mit Hämostyptikum
- Tourniquet
Neben offensichtlichen Blutungen sollte insbesondere das Becken prähospital klinisch untersucht werden. Patienten mit klinischen Anhaltspunkten für eine Beckenringverletzung oder instabiler Beckenringverletzung und hämodynamischer Instabilität sollten einen Beckengurt erhalten.
A - Airway
Nach dem xABCDE-Schema steht die Sicherung der Atemwege (sofern keine unstillbare Blutung vorliegt) an erster Stelle. Diese soll den ungehinderten Transport von Sauerstoff über die (oberen) Atemwege gewährleisten. Bei entsprechender Indikation stellt die endotracheale Intubation den Goldstandard der Atemwegssicherung dar. Präklinisch spielen dabei jedoch auch die Erfahrung des Arztes, die Umstände (z.B. Einklemmung), Transportzeit und Transportmittel eine Rolle. Neben der endotrachealen Intubation können zudem supraglottische Atemwegshilfen (Larynxmaske, Larynxtubus) zum Einsatz kommen. Bei Spontanatmung ist eine hochdosierte Sauerstoffgabe indiziert. Außerdem soll bei diesem Schritt eine Halswirbelsäulenstabilisierung stattfinden, es sei denn es ist eine Sofortrettung (z.B. Feuer/Explosionsgefahr) notwendig.
Bei Apnoe oder Schnappatmung (Atemfrequenz < 6/min) erfolgt prähospital eine Notfallnarkose als RSI, eine endotracheale Intubation und eine Beatmung. Weitere Indikationen sind:
- Hypoxie (SpO2 < 90 %) trotz Sauerstoffgabe und nach Ausschluss eines Spannungspneumothorax
- schweres Schädel-Hirn-Trauma (GCS < 9)
- schweres Thoraxtrauma mit respiratorischer Insuffizienz (Atemfrequenz > 29/min)
B - Breathing
Breathing steht im weitesten Sinne für die Atemarbeit, die für einen Gasaustausch erforderlich ist. Klassisches B-Problem ist ein Thoraxtrauma, das zu einem Pneumothorax führt. Kommt es zu einem Spannungspneumothorax, liegt ein potenziell lebensbedrohlicher Zustand vor, der umgehend eine Nadeldekompression oder eine Minithorakotomie erfordert.
Bei der Beatmung wird für gewöhnlich eine Normoventilation anhand der Kapnometrie angestrebt. Folgendes Phänomen kann sich jedoch trotz gesicherter Oxygenierung negativ auswirken: Bei der Spontanatmung nimmt der intrathorakale Druck während der Inspiration ab, wodurch Luft in die Lunge gelangt. Der venöse Rückstrom zum Herzen steigt an. Bei der Beatmung hingegen wird der intrathorakale Druck während der Inspiration erhöht (z.B. durch IPPV, PEEP). Das vermindert den venösen Rückstrom und wirkt sich somit negativ auf den Kreislauf des Patienten aus.
C - Circulation
Hypovolämie mit zugehöriger Schocksymptomatik ist ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil des Polytraumas und muss sofort behandelt werden. Zur Volumentherapie werden balancierte, isotone kristalloide Vollelektrolytlösungen eingesetzt, die idealerweise vorgewärmt sind. Die aktive Kontrolle von Blutungsquellen muss vor dem Verabreichen von Infusionen erfolgen. Zu beachten ist, dass das Verletzungsmuster die Vorgehensweise der Volumensubstitution bestimmt.
Steht beispielsweise im Rahmen eines Polytraumas ein Schädel-Hirn-Trauma im Vordergrund, wird eine Normotonie angestrebt, während bei schwerem Trauma (besonders beim penetrierenden Trauma) das Tolerieren hypotensiver Kreislaufparameter oder eine permissive Hypotonie vorteilhaft sein kann. Bei einem Verbrennungstrauma kann man sich anhand der Parkland-Formel orientieren.
Mögliche Folgen übermäßiger Infusionstherapie können sein:
- Förderung der Blutung aus den verletzten Gefäßen
- Behinderung der Hämostase und Gerinnung
- Begünstigung einer Hypothermie
- Verdünnung des Blutes inklusive zellulärer Bestandteile und Gerinnungsfaktoren
Als Grundregel der Infusionstherapie muss das Vermeiden weiteren Blutverlustes (auch durch Zeitmanagement) vor dem "Auffüllen" des Gefäßsystems stehen.
Zum Ausschluss von Blutungen werden große Körperhöhlen (Thorax, Bauch) und große Röhrenknochen auf Hinweise für Verletzungen untersucht. Beim Becken soll gemäß KISS-Schema entschieden werden.
In Folge der Schocksymptomatik entsteht auch das sogenannte Kapillarlecksyndrom ("capillary leak syndrome"), bei dem sich ein (zunächst noch reversibles) interstitielles Lungenödem bildet. Bei weiter bestehendem Schock kommt es dann nach einer Verdickung der Alveolarwand zu einem erhöhten Rechts-Links-Shunt, woraus eine Hypoxie und Hyperkapnie durch mangelnden Gasaustausch resultiert. Daher droht bei einem polytraumatisierten Patienten immer eine respiratorische Insuffizienz (ARDS).
Bei Polytraumapatienten mit manifestem oder drohendem hämorrhagischen Schock sollte zügig die Gabe von 1 g Tranexamsäure als Bolus über 10 Minuten erfolgen. Bei nicht beherrschbarer Blutung kann anschließend noch Fibrinogen verabreicht werden.
D - Disability
Bei diesem Schritt findet die Einschätzung des neurologischen Status statt. Diese ist beispielsweise bei einem Schädel-Hirn-Trauma relevant. Dabei erfolgt die Quantifizierung des Bewusstseins mittels Glasgow-Koma-Skala (GCS) und einer Pupillenkontrolle. Auch eine Erhebung des Blutzuckers kann (spätestens an dieser Stelle) hilfreich sein. Eine vollständige neurologische Untersuchung ist zu diesem Zusammenhang nicht zielführend, da sie präklinisch zu wenig Information liefert und mit einem hohen Zeitverlust einhergehen kann.
Bei vermutetem erhöhtem Hirndruck kommen Hyperventilation, hypertone Kochsalzlösungen oder Mannitol in Frage. Glukokortikoide sind nicht indiziert.
E - Exposure
Wenn bisher keine gravierenden Befunde aufgefallen sind, können an dieser Stelle weitere Untersuchungen und ggf. Therapien (z.B. Wärmeerhalt, Analgesie) durchgeführt werden.
Bei Vorliegen von Extremitätenverletzungen erfolgt eine Ruhigstellung und Versorgung stark blutender Verletzungen vor dem Transport. Grobe Dislokationen sollen - sofern möglich - prähospital annähernd reponiert werden. Bei offenen Frakturen werden grobe Verschmutzungen entfernt und sie anschließend steril verbunden. Ein Amputat sollte grob gereinigt und in sterile, feuchte Kompressen gewickelt sowie indirekt gekühlt transportiert werden.
Analgesie
Schwerverletzte Patienten sollen eine intravenöse Analgesie erhalten. Alternativ kommt eine intraossäre oder ggf. intranasale Gabe in Frage. Ansprechbare Patienten sollten gefragt werden, ob sie ein Schmerzmittel wünschen. Hilfreich ist hierbei die numerische Rating-Skala, wobei der Zielwert ≤ 4 beträgt. Ergänzend dienen Vitalwerte wie die Atemfrequenz als indirekter Hinweis auf bestehende Schmerzen. Zum Einsatz kommen zum Beispiel Fentanyl, Ketamin und Morphin.
Schockraumphase
Nach suffizienter und zügiger Erstversorgung muss der Transport in eine Klinik der Maximalversorgung mit Traumazentrum erfolgen, da das genaue Ausmaß des Polytraumas am Einsatzort häufig nicht eingeschätzt werden kann.
Da Polytraumata trotz suffizienter Maßnahmen oft ein SIRS und ein Multiorganversagen nach sich ziehen, liegt der Fokus der innerklinischen Versorgung nicht nur auf der Sanierung der eigentlichen Verletzungen, sondern auch auf der Überwachung der Organfunktionen. Ein hämodynamisches Monitoring und eine zielgerichtete Therapie auf einer entsprechenden Intensivstation sind dabei entscheidend. Dennoch entwickeln sich oft ein beatmungspflichtiges ARDS oder eine dialysepflichtige Niereninsuffizienz. Bei Patienten ohne vorbestehende Organerkrankung kann sich dieses Defizit vollständig zurückbilden.
Schockraum
Im Schockraum der Klinik erfolgt die weitere Diagnostik und Versorgung. Der Schockraum ist ein 25 bis 50 m² großer Raum, der sich im gleichen Gebäude wie die Krankenanfahrt, radiologische Abteilung und OP-Abteilung befindet. In diesem Raum erfolgt die initiale klinische Versorgung.
Schockraumteam
Zur Polytraumaversorgung werden feste Teams, sogennante Schockraumteams, eingesetzt, die nach vorstrukturierten Plänen arbeiten und/oder ein spezielles Training absolviert haben. Das Team besteht aus mindestens 2 qualifizierten Pflegekräften und mindestens 2 Ärzten mit notfallmedizinischer und notfallchirurgischer Kompetenz. Im Idealfall steht ein erweitertes Schockraumteam mit Ärzten weiterer Fachrichtungen (Radiologie, Orthopädie, Innere Medizin, Neurologie, Neurochirurgie) zur Verfügung.
Das Schockraumteam sollte in folgenden Situationen aktiviert werden:[1]
- A/B-Problem: Atemstörungen (SpO2 < 90 %) bzw. erforderliche Atemwegssicherung; Atemfrequenz < 10 oder > 29
- C-Problem: systolischer Blutdruck < 90 mmHg; Herzfrequenz >120/min; Schockindex > 0,9; positiver eFAST
- D-Problem: GCS ≤ 12
- E-Problem: Hypothermie < 35,0 °C
- instabiler Thorax
- mechanisch instabile Beckenverletzung
- Vorliegen von penetrierenden Verletzungen der Rumpf-Hals-Region
- Amputationsverletzung proximal der Hände/Füße
- Sensomotorisches Defizit nach Wirbelsäulenverletzung
- prähospitale Intervention (erforderliche Atemwegssicherung, Thoraxentlastung, Katecholamingabe, Perikardiozentese, Tourniquet-Anlage)
- Frakturen von 2 oder mehr proximalen großen Röhrenknochen
- Verbrennungen > 20 % und Grad ≥ 2b
- (Ab)Sturz aus über 3 Metern Höhe
- Verkehrsunfall mit Ejektion aus dem Fahrzeug oder Fraktur langer Röhrenknochen
- bei geriatrischen Patienten nach relevantem Trauma und einem der folgenden Parametern: systolischer Blutdruck < 100mmHg, bekanntes oder vermutetes Schädel-Hirn-Trauma und GCS ≤ 14, zwei oder mehr verletzte Körperregionen, Fraktur eines oder mehrerer langer Röhrenknochen nach Verkehrsunfall
Reanimation
Beim traumatisch-bedingten Herzkreislaufstillstand hat die sofortige Behandlung reversibler Ursachen besondere Priorität. Empfohlen wird ein sequentielles Vorgehen:
- Blutstillung (bei massiven externen Blutungen)
- Atemwegssicherung
- bilaterale Pleuraraumdekompression mittels chirurgischer Minithorakotomie
- nicht-invasive externe Beckenstabilisierung
- Gabe von Blutprodukten
- Notfallthorakotomie: bei penetrierenden thorakalen oder thorakoabdominalen Verletzungen, bei prähospitaler Reanimation < 10 Minuten oder Herzkreislaufstillstand im Schockraum zur Beseitigung einer Perikardtamponade und proximalem Aortenclamping
- REBOA: im Rahmen der traumatisch bedingten Reanimation zur temporären proximalen Blutungskontrolle
- ECLS: im Einzelfall bei polytraumatisierten Patienten mit therapierefraktärem Kreislaufstillstand
Gerinnungsmanagement, Volumentherapie
Bei einem Polytrauma muss die Trauma-induzierte Koagulopathie als eigenständiges Krankheitsbild beachtet werden. Zur Basisdiagnostik bei blutenden Schwerverletzten erfolgen wiederholte Messungen von BGA, Quick bzw. Prothrombinzeit, aPTT, Fibrinogen und Thrombozytenzahl sowie eine Blutgruppenbestimmung. Frühzeitig soll eine Thrombelastometrie eingesetzt werden.
In diesem Kontext hat sich der Begriff Damage Control Resuscitation durchgesetzt: Gemeint sind Maßnahmen, die darauf abzielen, den Blutverlust zu minimieren und eine Koagulopathie zu verhindern. Es beinhaltet:
- permissive Hypotonie
- Verhinderung von Hypothermie, Azidose und Hypokalzämie
- Gabe von gerinnungsaktiven Präparaten, z.B. Prothrombinkomplexkonzentrat (PPSB)
Bildgebung
Nach stumpfem und/oder penetrierendem Thorax - und/oder Abdominaltrauma wird initial eine eFAST im Schockraum durchgeführt. Häufig ist anschließend eine Ganzkörper-Computertomographie ("Polytrauma-Spirale") von Kopf bis einschließlich Becken indiziert, sofern keine interventions-/operations- und/oder reanimationspflichtige Situation vorliegt und der systolische Blutdruck nicht unter 60 mmHg ist. Die CT sollte durchgeführt werden bei:
- Störung der Vitalparameter (Kreislauf, Atmung, Bewusstsein, Neurologie)
- pathologischem Untersuchungsbefund und/oder Bildgebungsbefund von Thorax und/oder Abdomen und/oder Becken und/oder Wirbelsäule
- Fraktur von mindestens 2 langen Röhrenknochen
- Unfallmechanismus (Sturz > 4 m; Einklemmung Thorax/Abdomen)
In bestimmten Situationen kommt eine Magnetresonanztomografie (MRT) als weiterführende Primärdiagnostik in Frage, z.B. bei diskoligamentären Wirbelsäulenverletzungen und akuter Querschnittssymptomatik.
Endovaskuläre Therapie
Blutungen und Gefäßläsionen im Rahmen eines Polytraumas können an einer stationären Angiographieeinheit behandelt werden, sofern der Patient unter permissiver Hypotonie hämodynamisch stabilisiert ist. Mögliche Verfahren sind:
- endovaskuläre Ballonokklusion der Aorta (REBOA): Bei Patienten im schweren hämorrhagischen Schock aufgrund nicht-komprimierbarer Körperstammblutungen unterhalb des Zwerchfells.
- TEVAR/EVAR: bei stumpfer thorakaler oder abdomineller Aortenverletzung. Sofern möglich, frühelektiv erst nach den ersten 24 Stunden.
- endovaskuläre Therapie bei arteriellen Gefäßverletzungen (z.B. Intimadissektion, Gefäßzerreißung, AV-Fistel oder Pseudoaneurysmabildung) außerhalb der Aorta
- endovaskuläre Embolisation bei Blutungen parenchymatöser abdomineller Organe. Eine frühzeitige Embolisation kann die Mortalität senken.
Erste operative Phase
Damage Control
Bei polytraumatisierten Patienten wird nach dem sogenannten Prinzip der Damage-Control-Surgery gehandelt: Zunächst werden nur kreislaufstabilisierende operative Maßnahmen ergriffen. Die definitive chirurgische Versorgung durch ausgedehnte Eingriffe erfolgt erst nach der intensivmedizinischen Behandlung und Stabilisierung der Hämodynamik, um eine zusätzliche Belastung des Patienten zu vermeiden.
Thoraxtrauma
Bei einem Thoraxrauma wird je nach Lokalisation eine anterolaterale Thorakotomie oder eine Sternotomie, bei unklarer Verletzungslokalisation eine Clamshell-Thorakotomie gewählt. Beim kardiorespiratorisch stabilen Patienten kann die VATS durchgeführt werden. Bei penetrierenden Thoraxverletzungen sollten einliegende Fremdkörper unter kontrollierten Bedingungen im OP nach Thoraxeröffnung entfernt werden. Bei penetrierender Thoraxverletzung und hämodynamischer Instabilität ist eine sofortige explorative Thorakotomie indiziert.
Zwerchfell
Traumatische Zwerchfellrupturen sollten zügig operativ verschlossen werden.
Abdominelles Trauma
Bei abdominellen Traumen wird die mediane Laparotomie als Zugangsweg bevorzugt. Bei komplexen intraabdominellen Schäden erfolgt im Sinne des Damage-Control-Prinzips zunächst eine Blutstillung, ein Packing und/oder ein temporärer Bauchdeckenverschluss bzw. Laparostoma.
Beim hämodynamisch stabilen Patienten mit isolierter stumpfer Leber- oder Milzverletzung sollte ein nichtoperatives Management angestrebt werden. Bei operationspflichtigen Milzverletzungen der Schweregrade 1 bis 3 nach AAST ist eine milzerhaltende Operation, bei Schweregraden 4 bis 5 ist eine Splenektomie die Methode der Wahl. Bei interventionspflichtigen Milzverletzungen sollte beim kreislaufstabilisierbaren Patienten statt einer operativen Blutstillung eine selektive Angioembolisation erfolgen. Bei einem hämodynamisch stabilisierbaren Patienten mit Leberverletzung und arterieller Blutung kommt eine selektive Angioembolisation oder eine Laparotomie in Frage.
Bei penetrierenden Kolonverletzungen wird eine Übernähung oder Resektion empfohlen.
Schwerste Nierenverletzungen (Grad 5 nach AAST-Klassifikation) sollten operativ exploriert werden. Bei Nierenverletzungen < Grad 5 bei stabilem Patienten wird zunächst ein primär konservatives Vorgehen empfohlen. Sofern andere Verletzungen eine Laparotomie ohnehin erforderlich machen, können mittelschwere Nierenverletzungen (Grad 3 bis 4) operativ exploriert werden. Eine arterielle Nierengefäßverletzung kann durch eine endovaskuläre Therapie versorgt werden. Je nach Art und Schwere der Verletzung und Begleitverletzungen sollte eine Nierenverletzung organerhaltend versorgt werden. Eine Nephrektomie sollte nur beim Schweregrad 5 durchgeführt werden.
Intraperitoneale Harnblasenrupturen sollten chirurgisch exploriert werden. Extraperitoneale Harnblasenrupturen ohne Beteiligung des Blasenhalses werden konservativ durch Harnableitung therapiert.
Komplette Rupturen der Urethra werden in der ersten operativen Phase mittels einer suprapubischen Harnableitung therapiert, die ggf. durch eine Harnröhrenschienung ergänzt werden kann. Sofern z.B. durch eine Beckenfraktur oder eine andere intraabdominelle Verletzung eine Operation ohnehin notwendig ist, sollten Urethrarupturen mitversorgt werden.
Schädel-Hirn-Trauma
Intrakranielle Verletzungen mit raumfordernder Wirkung werden mittels notfallmäßiger Operation versorgt. Bewusstlose Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma benötigen eine Messung des intrakraniellen Drucks. Bei erhöhtem Hirndruck kann eine operative Dekompression durch Kraniektomie und Duraerweiterungsplastik erfolgen.
Wirbelsäule
Bei einer operativ therapierbaren Wirbelsäulenverletzung mit neurologischen Ausfällen sollte eine frühzeitige Operation erfolgen. Instabile Wirbelsäulenverletzungen ohne neurologische Ausfälle sollten ebenfalls operativ versorgt werden. Stabilisierungen der HWS können je nach Verletzung von ventral und/oder dorsal oder in Ausnahmefällen mittels Halofixateur durchgeführt werden. Bei Verletzungen der thorakalen und lumbalen Wirbelsäule ist der dorsale Fixateur interne die Methode der Wahl.
Unterkiefer, Mittelgesicht
Bei Unterkiefer- und Mittelgesichtsverletzungen ist eine primäre Sicherung der Atemwege und eine Blutungsstillung im Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich notwendig. Weichteilverletzungen sollten in der ersten operativen Phase versorgt werden. Je nach Situation kann die Versorgung von Mittelgesichts- und Unterkieferfrakturen in der ersten OP-Phase oder sekundär erfolgen.
Hals
Sofern nicht zuvor intubiert oder tracheotomiert, sollten vor Einleitung einer Intubationsnarkose alle die Atemwege betreffenden Befunde evaluiert werden und Intubationshilfsmittel und ein Koniotomieset zur unmittelbaren Verfügung gehalten werden. Penetrierende Verletzungen des Ösophagus sollten innerhalb von 24 Stunden einer primär rekonstruktiven Therapie zugeführt werden.
Obere Extremität
Die operative Versorgung von Frakturen langer Röhrenknochen der oberen Extremitäten sollte frühzeitig erfolgen. Die Entscheidung zur Amputation oder zum Extremitätenerhalt bei schwersten Verletzungen erfolgt individuell. Gefäßverletzungen sollten frühestmöglich operiert werden. Verletzungen mit Nervenbeteiligung werden in Abhängigkeit von der Art des Nervenschadens zusammen mit der Stabilisierung versorgt.
Geschlossene Frakturen und Luxationen der Hand sollten in der ersten operativen Phase vorzugsweise konservativ behandelt werden, wobei Luxationen reponiert und retiniert werden. Bei offenen Frakturen und Luxationen sollten ein primäres Débridement und eine Stabilisierung durch Drähte oder Fixateur externe erfolgen.
Untere Extremität
Bei isolierten und multiplen Frakturen der unteren Extremität sollte beim stabilen Patienten eine primär-definitive Osteosynthese angestrebt werden, bei instabilen Patienten erfolgt eine primär temporäre Versorgung.
Zur definitiven Versorgung einer Femurschaftfraktur wird eine Verriegelungsmarknagelung empfohlen. Luxationen der unteren Extremität sollen frühestmöglich reponiert und retiniert werden. Gefäßverletzungen werden frühestmöglich operativ oder endovaskulär behandelt. Extremitätenerhalt oder Amputation wird individuell entschieden.
Verbrennungen
Verbrennungsverletzungen beim Schwerverletzten sollten nicht gekühlt werden. Bei Verbrennungen im Stammbereich, welche die Atemmechanik beeinträchtigen, soll unverzüglich eine Escharotomie durchgeführt werden. Eine zeitnahe Escharotomie ist indiziert bei Verbrennungen der Extremitäten, welche die Perfusion beeinträchtigen.
Pädiatrische Besonderheiten
Bei ungefähr 4 % aller Polytraumen sind Kinder betroffen. Die meisten Unfälle im Kindesalter ereignen sich im häuslichen Umfeld und der Freizeit. Dabei zeigen sich altersabhängig unterschiedliche Verletzungsmuster. Das Schädel-Hirn-Trauma stellt die häufigste Verletzung dar, gefolgt vom hämorrhagischen Schock mit oder ohne Koagulopathie. Die Akutversorgung folgt wie bei Erwachsenen den ABCDE-Algorithmen unter Berücksichtigung kinderspezifischer Besonderheiten.
Die CT-Bildgebung erfolgt als Teamentscheidung und mit altersadaptierten Untersuchungsprotokollen mit geringerer Strahlung.
Kriterien zur Durchführung einer CT bei kindlichem Abdominaltrauma sind nach PECARN:
- Hinweis auf Bauchwandtrauma bzw. "Seat Belt Sign"
- GCS ≤ 13
- abdominelle Symptomatik mit erhöhter Empfindlichkeit, Resistenz, Druckschmerz und Abwehrspannung (freie Flüssigkeit im FAST)
- Bauchschmerzen
- Erbrechen
- Hinweis auf Brust-/Thoraxwandtrauma
- abgeschwächtes Atemgeräusch bzw. veränderte Atemfrequenz
Bei einem SHT existieren folgende Indikationen zur Durchführung einer CT:
- GCS ≤ 13 oder GCS ≤ 14 bei Kindern < 1 Jahr
- Bewusstlosigkeit > 5 min oder > 5 Sekunden bei Kindern < 2 Jahren
- Amnesie > 5 min
- erhöhte Schläfrigkeit bzw. Wesensveränderung
- Hinweis auf offene/imprimierte Schädelfraktur oder Schädelbasisfraktur
- fokale neurologische Zeichen
- Hämatom (okzipital, parietal, temporal), Exkoriation oder Lazeration > 5 cm bei Kindern < 1 Jahr
- mindestens dreimaliges Erbrechen
- Krampfanfall ohne bekannte Epilepsie
- starke Kopfschmerzen
- Hochrasanztrauma > 40 km/h
- Sturz > 3 m Höhe
- High-Speed-Trauma durch Projektile oder andere Objekte
- Verdacht auf Kindesmisshandlung
Quellen
um diese Funktion zu nutzen.