Verbundene Zwillinge
Synonym: siamesische Zwillinge (veraltet)
Englisch: conjoined twins, siamese twins
Definition
Verbundene Zwillinge sind eine seltene Form eineiiger Zwillinge. Wenn sich der Embryo erst nach dem 13. Schwangerschaftstag teilt, kommt es zu einer Verwachsung der Embryonen an mindestens einer Körperstelle. Die Anlage gemeinsamer Organe ist möglich.
- ICD-10-Code: 89.4
Geschichte
Bereits Höhlenzeichnungen, antike Skulpturen und Erzählungen berichten von zusammengewachsenen Zwillingspaaren.
Der heute (2024) veraltete Begriff "siamesische Zwillinge" bezieht sich auf ein Zwillingspaar, das im Jahr 1811 im Königreich Siam (heute Thailand) geboren wurde. Die Zwillinge wurden von einem schottischen Kaufmann entdeckt und nach Nordamerika gebracht, wo sie in einem internationalen Zirkus als "Schausteller" arbeiteten. Sie waren vom Typ Xipho-Omphalopagus und teilten sich eine Leber. Sie starben 1874 im Alter von 63 Jahren in North-Carolina.[1]
Einteilung
Verbundene Zwillinge werden nach der Art der Verwachsung klassifiziert:[2]
- Thoraco-Omphalopagus: verbunden an Thorax und Abdomen
- Xipho-Omphalopagus: Verbindung des unteren Brustbeins und der Periumbilikalregion
- Thoracopagus: verbunden am Thorax
- Omphalopagus: verbunden am Abdomen
- Heteropagus: asymmetrisch verwachsene Zwillinge
- Craniopagus: verbunden am Kopf
- Pyopagus: verbunden an Sakrum und Perineum
- Rachipagus: verbunden an der Wirbelsäule
- Ischiopagus: verbunden an Abdomen und Becken
- Cephalopagus: verbunden von Kopf bis Bauchnabel
Es können Mischformen entstehen, die symmetrisch oder asymmetrisch angelegt sind. Die Organe können auf unterschiedliche Weisen miteinander verwachsen oder bei jedem Zwilling einzeln angelegt sein.
Epidemiologie
Die Prävalenz von verbundenen Zwillingen variiert stark zwischen verschiedenen Populationen. Zusätzlich beeinflussen Schwangerschaftsabbrüche die Datenlage. Eine Annäherung ergibt eine Prävalenz von ca. 1:50.000 Schwangerschaften und ca. 1:200.000 Lebendgeburten.[2] Etwa 1 % der monochorialen Schwangerschaften sind betroffen.[3]
Eine künstliche Befruchtung erhöht das Risiko.
Der Anteil der Totgeburten liegt zwischen 40 % und 60 %.[4]
Das weibliche Geschlecht ist 1,5- bis 2,5-mal häufiger betroffen als das männliche.[1]
Pathogenese
Die genaue Pathogenese den verbundenen Zwillingen ist bis heute (2024) nicht vollständig geklärt.[4] In der Literatur werden unterschiedliche Theorien diskutiert.
Nach der führenden Theorie führt eine Spaltung des Embryos nach dem 13. Schwangerschaftstag dazu, dass die Embryonen sich nicht vollständig trennen. Sie teilen sich Plazenta und Fruchthöhle. Normalerweise findet die Teilung des Embryos, die zur Entstehung von Zwillingsschwangerschaften führt, vor dem 13. Schwangerschaftstag statt.
Darüber hinaus wird auch eine sekundäre Fusion der Embryonen diskutiert. Die Zwillinge können gemeinsame Organe entwickeln und sind bei der Geburt an mindestens einer Stelle miteinander verwachsen. Die Lebensfähigkeit der Zwillinge hängt vom Ausmaß der Verwachsungen und den betroffenen Organen ab.
Diagnostik
Eine Verwachsung der Zwillinge kann im ersten Trimester der Schwangerschaft durch einen pränatalen Ultraschall diagnostiziert werden. Dabei zeigt sich z.B.:[5]
- Untrennbare Hautkonturen der Föten
- Zwei Köpfe auf gleicher Höhe, die sich nicht auseinander bewegen
- Abnormale Anzahl an Nabelschnurgefäßen (< 3)
- ungewöhnliche Verlängerung der Wirbelsäule
- Vorhandensein eines einzigen Herzens bei zwei Föten
Zusätzlich sollte eine pränatale MRT-Untersuchung durchgeführt werden, um die genaue Anatomie zu beurteilen. Eine Generierung dreidimensionaler Bilder mittels Sonografie, Magnetresonanztomografie oder Computertomografie erleichtert die Diagnostik und die spätere Therapieplanung.
Komplikationen
Bei einer vaginalen Geburt kann es zu einem Geburtsstillstand, Dystokie oder einer Uterusruptur aufgrund der Verwachsung der Zwillinge kommen. Daher ist eine Geburt per Kaiserschnitt vorzuziehen.[3]
Therapie
Die Lebensqualität der Zwillinge und der Schutz der Mutter während der Schwangerschaft sind entscheidend für eine mögliche Therapie oder die Erwägung eines Schwangerschaftsabbruchs.
Nicht-operativ
Bei verbundenen Zwillingen, die sich ein gemeinsames Herz oder andere lebenswichtige Organe teilen und bei denen eine operative Trennung zum definitiven Tod beider Zwillinge führen würde, ist eine nicht-operative, symptomatische Therapie angezeigt.
Wird in der pränatalen Diagnostik festgestellt, dass die Verwachsungen so ausgeprägt sind, dass ein Überleben der Zwillinge unwahrscheinlich oder eine Lebendgeburt ausgeschlossen ist, sollte ein Schwangerschaftsabbruch in Erwägung gezogen werden. Die Entscheidung liegt bei den Eltern, die über alle Risiken und Möglichkeiten aufgeklärt werden müssen.
Notfalltrennung
Eine Notfalloperation ist indiziert, wenn es zu Komplikationen kommt. Indikationen eines Notfalls sind:[5]
- Ruptur der Verwachsung
- kardiale Instabilität
- Leberruptur mit starkem Blutverlust
- Darmverschlingungen
- Tod eines Zwillings
Elektive Trennungsoperation
Eine elektive Operation ist anzustreben. Entscheidend sind die Art der Verwachsung und das Vorhandensein der lebenswichtigen Organe beider Zwillinge. Die Operation wird an die individuelle Situation angepasst und erfordert eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit aller beteiligten Fachrichtungen sowie eine akribische Planung. Oftmals werden 3D-Modelle der Zwillinge angefertigt, um die Operation vorab zu simulieren. Bei der Operation gibt es zwei separate Anästhesie-Teams, die für jeweils einen Zwilling zuständig sind.[5]
Wenn nur ein Herz oder eine Lebervene ausgebildet ist, sollte ggf. in Erwägung gezogen werden, den Tod eines Zwillings zu akzeptieren, um das Überleben des anderen Zwillings zu sichern.
Die Gesamterfolgsrate aller operativen Eingriffe liegt bei ca. 50,6 %.[5]
Prognose
Das Überleben der Zwillinge hängt von den Komorbiditäten ihrer Verwachsung oder dem Erfolg ihrer Trennung ab. Aufgrund der Seltenheit und der unterschiedlichen Formen der Verwachsungen sind genaue Überlebenswahrscheinlichkeiten nicht verfügbar.
Die besten Chancen auf eine erfolgreiche Trennung haben Zwillinge des Typs Xipho-Omphalopagus, da bei ihnen meist nur die Leber und die Peritonealhöhlen miteinander verbunden sind.
Das bisher älteste nicht getrennte Zwillingspaar wurde 68 Jahre alt.[6]
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 Mutchinick et al. Conjoined twins: A worldwide collaborative epidemiological study of the International Clearinghouse for Birth Defects Surveillance and Research. American Journal of Medical Genetics Part C: Seminars in Medical Genetics. 157(4): 274–287. 2011
- ↑ 2,0 2,1 Afzal et al. Conjoined twins. StatPearls - NCBI Bookshelf, abgerufen am 25.01.2024
- ↑ 3,0 3,1 AWMF LL 015-087 S24 Überwachung und Betreuung von Zwillingsschwangerschaften. von Kaisenberg et al. 2020
- ↑ 4,0 4,1 Boer et al. Two is a Crowd. Clinical Anatomy. 32(5): 722–741. 2019
- ↑ 5,0 5,1 5,2 5,3 Saxena et al. Conjoined Thoracopagus Twins: A Systematic review of the anomalies and outcome of surgical separation. African Journal of Paediatric Surgery. 20(3): 157–165. 2023
- ↑ Epp.. Älteste siamesische Zwillinge der Welt mit 68 Jahren gestorben. stern.de, abgerufen am 25.01.2024 https://www.stern.de/lifestyle/leben/aelteste-siamesische-zwillinge-der-welt-mit-68-jahren-gestorben-9330330.html
Literatur
- Taschenlehrbuch Humangenetik. Murken J, Grimm T, Holinski-Feder E, Zerres K, Hrsg. 9. teilaktualisierte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017
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