Diethylenglycolvergiftung
Synonyme: Diethylenglycolintoxikation
Englisch: diethylene glycol intoxication, diethylene glycol poisoning
Definition
Eine Diethylenglycolvergiftung ist eine akute oder chronische Vergiftung, die durch Aufnahme von Diethylenglycol in toxischer Dosierung entsteht.
Geschichte
Diethylenglycol hat wiederholt Vergiftungsendemien ausgelöst. So kam es bereits in den 1930er Jahren zu einer Massenvergiftung in den USA, weil ein Sulfanilamid-haltiges Medikament mit 72 % Diethylenglycol als Lösungsmittel hergestellt wurde. 105 von 353 vergifteten Kindern starben daraufhin an Nierenversagen.[1] Im August 1969 verstarben 7 Kinder nach der Verabreichung von Sedativa, die statt mit Propylenglycol mit Diethylenglycol hergestellt worden waren.[2] Insgesamt ereigneten sich bis 2009 mindestens 12 derartige Massenvergiftungen durch Diethylenglycol-haltige Arzneimittel.[3] Durch Verunreinigung von Hustensäften mit Ethylenglycol und Diethylenglycol kam es 2022 wieder zu mehr als 300 Todesfällen bei Kindern in Gambia, Indonesien, Usbekistan und anderen Ländern.[4]
Ursachen
Eine Diethylenglycolvergiftung entsteht durch die Aufnahme von Diethylenglycol über den Gastrointestinaltrakt, durch Inhalation oder über die Haut (transkutan), u.a. durch:
- berufliche Exposition
- Verwechslungen oder Verfälschungen bei der Herstellung von Arzneimitteln
- Fehlerhafte Anwendung, Vergiftungsunfälle oder suizidale Handlungen mit Produkten und Arzneimitteln, die Diethylenglycol enthalten, z.B. Goldgeist® forte (enthält bis ca. 40 % Diethylenglycol)
Toxikologie
Betroffene Organsysteme
Von einer Schädigung durch Diethylenglycol können folgende Organsysteme des menschlichen Körpers betroffen sein:
Toxizität
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt, die tägliche Aufnahme von Diethylenglycol auf weniger als 0,5 bis 1,0 mg/kgKG zu begrenzen. Erste morphologische und funktionelle Veränderungen wurden beim Menschen bereits nach Aufnahme von 50 bis 100 mg/kgKG festgestellt.[5] Zu klinischen Vergiftungserscheinungen kommt es nach Ingestion ab 200 mg/kgKG. Als für den Menschen lebensbedrohliche Dosis werden 1.000 mg/kgKG angesehen.
- Maximale Arbeitsplatz-Konzentration: 10 mL/m³ bzw. 44 mg/m³
- LD50 (Ratte oral): 13.000 bis 35.000 mg/kgKG; der Mensch reagiert auf Diethylenglycol 10- bis 20-mal empfindlicher als die Ratte.[5]
Toxikokinetik
Diethylenglycol wird über die Haut, die Atemwege und den Magen-Darm-Trakt resorbiert. Nach der Ingestion erfolgt eine schnelle und nahezu vollständige Aufnahme, rasche Verteilung (Vd: 1 L/kgKG) und Metabolisierung zu 2-Hydroxyethoxyessigsäure und Diglycolsäure. Letztere wird für die nephrotoxische Wirkung verantwortlich gemacht.[6] Bei der Biotransformation von Diethylenglycol entsteht keine Oxalsäure. Diethylenglycol hat eine biologische Halbwertszeit von ca. 4 Stunden und wird überwiegend unverändert renal eliminiert.
Symptome
Bei lokaler Einwirkung am Auge kommt es zu einem Brennen und einer Lakrimation des Auges. Bei Kontakt mit der Haut sind Brennen und Erythembildung typisch. Bei großflächiger Einwirkung und/oder bei geschädigter Haut ist mit einer Resorption über die Haut zu rechnen.
Nach Inhalation zählen Niesen und Husten zu den typischen Reaktionen. Nur beim Einatmen von Diethylenglycol-haltigen Dämpfen oder Aerosolen über längere Zeit ist mit einer resorptiven Wirkungen zu rechnen.
Wird Diethylenglycol oral aufgenommen, können folgende Symptome auftreten (u.U. mit über 12 Stunden Latenz):
- Übelkeit
- Erbrechen
- Bauchschmerzen
- Diarrhö
- Kopfschmerzen
- Schwindel
- Somnolenz
- Parese oder Paralyse des Nervus facialis
- metabolische Azidose
In Extremfällen kann es zum Koma mit Atemdepression und Krampfanfällen kommen. Weiterhin sind Leber- und Pankreasschädigung sowie ein fortschreitendes Nierenversagen möglich.[2][7][8]
Diagnostik
Anamnestisch kann i.d.R. eine akzidentelle oder suizidale Ingestion Diethylenglycol-haltiger Produkte nachgewiesen werden. Bei Kindern sind Vergiftungsunfälle mit Goldgeist® forte durch Ingestion oder unsachgemäße dermale Anwendung typische Auslöser.
Labormedizinisch sollten im Rahmen der Diagnose folgende Analysen erfolgen:
- Blutbild
- Blutgasanalyse
- Bestimmung der osmotischen Lücke und der Anionenlücke
- Elektrolyte
- Blutzucker
- Leberwerte
- Nierenwerte
- Urinstatus
Therapie
Die Therapie richtet sich nach Art der Exposition. Bei Hautkontakt erfolgt eine Dekontamination. Nach Inhalation reicht meist Frischluft, ggf. kann eine Intubation und Beatmung erforderlich sein.
Bei einer Ingestion von mehr als 200 mg/kgKG ist eine stationäre Einweisung erforderlich. Als Maßnahme zur primären Giftentfernung sollte das Absaugen des Mageninhalts über eine nasogastrale Magensonde erwogen werden, sofern dies innerhalb von 60 min möglich ist. Es sollte kein Erbrechen ausgelöst werden, da Aspirationsgefahr besteht. Ebenso sollten keine Aktivkohle, kein Laxans und keine Magenspülung eingesetzt werden.
Bei Nierenversagen und schwerer metabolischer Azidose kann eine Hämodialyse erforderlich sein. Die metabolische Azidose kann zudem symptomatisch mit Natriumhydrogencarbonat behandelt werden.
Als Antidottherapie kommt zum Teil Fomepizol (Off-Label-Use) zum Einsatz, für die Wirksamkeit bei Vergiftungen mit Diethylenglycol gibt es jedoch keine klinische Evidenz.
Prognose
Eine schwere Vergiftung mit Diethylenglycol kann nach einigen Tagen zum Tod führen.
Quellen
- ↑ Geiling und Cannon Pathologic effects of elixir of sulfanilamide (diethylene glycol) poisoning: a clinical and experimental correlations: final report J Am Med Assoc. 1938
- ↑ 2,0 2,1 Bowie und McKenzie Diethylene glycol poisoning in children S Afr Med J. 1972
- ↑ Schier et al. Medication-associated diethylene glycol mass poisoning: a review and discussion on the origin of contamination J Public Health Policy. 2009
- ↑ WHO urges action to protect children from contaminated medicines WHO 2023
- ↑ 5,0 5,1 Bfr - Diethylenglykol (DEG) in Zahnpasta: Verwendung in Kosmetika ist nicht mehr zulässig, abgerufen am 27.01.2023
- ↑ Tobin JD et al. Variable sensitivity to diethylene glycol poisoning is related to differences in the uptake transporter for the toxic metabolite diglycolic acid. Clin Toxicol (Phila). 2023
- ↑ Schep et al. Diethylene glycol poisoning Clin Toxicol (Phila) 2009
- ↑ Gopalakrishnan et al. Diethylene glycol poisoning-induced acute kidney injury Saudi J Kidney Dis Transpl. 2016
Literatur
- Olson KR et al. Poisoning and Drug Overdose. 8th Ed., McGraw-Hill Education, 2022
- Zilker TR. Klinische Toxikologie für die Notfall- und Intensivmedizin. 1. Aufl., UNI-MED-Verl, 2008
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