Kniegelenksluxation
Englisch: tibiofemoral dislocation, knee dislocation
Definition
Unter der Kniegelenksluxation versteht man eine Verrenkung des Kniegelenks, genauer gesagt des Femorotibialgelenks.
Epidemiologie
Es handelt sich um eine seltene Verletzung. Männer sind in der Regel häufiger betroffen.
Ätiopathogenese
Eine Kniegelenksluxation tritt meist im Rahmen eines Hochrasanztraumas auf, z.B. bei einem Autounfall oder einem Sturz aus großer Höhe. Seltener kann es auch bei niedriger Krafteinwirkung zu einer Luxation kommen, z. B. im Rahmen einer Sportverletzung, bei einem Schlag auf das Knie oder durch den Tritt in eine Grube mit anschließendem Umknicken.
Eine Sonderform ist die sogenannte "Ultra-Low-Velocity-Kniegelenksluxation" (ULVKD), die durch alltagliche Aktivitäten wie z.B. das Stolpern am Bordstein oder Stürze beim Gehen verursacht wird. Sie tritt häufiger bei Personen mit Übergewicht auf.
Begleitverletzungen
Je nach Unfallmechanismus kann es zu einer Vielzahl an Begleitverletzungen kommen:
- Frakturen: eher selten. Teilweise tibiale Avulsionsfraktur des vorderen Kreuzbands.
- offene Verletzung: 20 bis 30 % der Fälle
- Bandverletzungen:
- vorderes Kreuzband (VKB): fast 100 %
- hinteres Kreuzband (HKB): 85 %
- mediales Kollateralband (MCL): 35 %
- laterales Kollateralband (LCL): 71 %
- Popliteussehne: 47 %
- neurovaskuläre Verletzungen: insbesondere bei ULVKD.
- Nervus fibularis communis: 15 bis 40 %
- Arteria poplitea: 30 %. Höhere Inzidenz bei gleichzeitiger Fibularisverletzung
Einteilung
...nach Luxationsrichtung
Nach Richtung der Verlagerung der Tibia in Relation zum Femur unterscheidet man:
- vordere Kniegelenksluxation (31 %): Tibia ist in Relation zum Femur nach anterior verlagert. Sie entsteht durch eine forcierte Hyperextension (> 30°). Sie ist am häufigsten mit einer Verletzung der Arteria poplitea assoziiert.
- hintere Kniegelenksluxation (25 %): durch direkte Krafteinwirkung auf die Tibia. Kann mit einer Verletzung der Arteria poplitea assoziiert sein. Häufig begleitende Verletzung der Streckmuskeln.
- laterale Kniegelenksluxation (13 %)
- mediale Kniegelenksluxation (3 %)
- rotatorische bzw. posterolaterale Kniegelenksluxation (4 %): medialer Femurkondylus wird durch einen Defekt in die mediale Gelenkkapsel gedrückt.
...nach modifizierter Schenck-Klassifikation
Die modifizierte Schenck-Klassifikation unterscheidet je nach begleitender Bandverletzung zwischen folgenden Formen:
- Typ I: Ruptur von VKB oder HKV + MCL oder LCL
- Typ II: Ruptur von VKB und HKB
- Typ III-M: Ruptur von VKB, HKB und MCL
- Typ III-L: Ruptur von VKB, HKB und LCL
- Typ IV: Ruptur von VKB, HKB, MCL, LCL
- Typ V: Luxation + periartikuläre Fraktur
Klinik
Die betroffenen Patienten klagen über starke Schmerzen und können das Bein nicht mehr belasten. Eine Fehlstellung des Gelenks sowie Schwellungen und eventuell auch ein Hämatom sind sichtbar.
Wenn bereits eine Spontanreposition am Unfallort erfolgt ist, besteht die Gefahr, dass eine Luxation übersehen wird, weil die Fehlstellung nicht mehr vorhanden ist.
Diagnostik
Anamnese, Unfallmechanismus und Klinik können auf die Diagnose hinweisen. Die Überprüfung von Durchblutung (Puls der Arteria tibialis posterior und Arteria dorsalis pedis), Motorik und Sensibilität ist obligat. Anschließend werden bildgebende Verfahren eingesetzt.
Konventionelles Röntgen
Anhand von Röntgenbildern des Kniegelenks sowie der angrenzenden Knochen in zwei Ebenen ist die Verlagerung der Tibia in Relation zum Femur in der Regel erkennbar. Rotatorische Luxationen zeigen jedoch teilweise nur subtile Veränderungen:
- laterale Verlagerung der Tibia um < 1/4 der Weite der Femurkondyle
- Projektion der medialen Femurkondyle medial der Tibia (in a.p.-Projektion)
- Erweiterung des medialen Gelenkspalts
- Rotation der Tibia in Relation zum Femur (in lateraler Projektion)
Ein Gelenkerguss ist nur manchmal erkennbar, da die Flüssigkeit über die Ruptur der Gelenkkapsel entweicht.
Weiterhin können assoziierte Avulsionsfrakturen auffallen:
- VKB: meist Area intercondylaris anterior
- HKB: Area intercondylaris posterior
- MCL: mediale Femurkondyle
- LCL: meist Fibulakopf, seltener laterale Femurkondyle
Weitere Begleitverletzungen sind ebenfalls im Röntgenbild erkennbar:
Computertomographie
Die Computertomographie (CT) ist hilfreich zur Erkennung von subtilen Frakturen, insbesondere nach Reposition.
Magnetresonanztomographie
Die Magnetresonanztomographie (MRT) wird insbesondere zur Diagnostik von assoziierten Weichteilverletzungen eingesetzt. Der Innenmeniskus ist in 53 %, der Außenmeniskus in 70 % der Fälle verletzt. Bandverletzungen kommen ebenfalls häufig vor:
- VKB: interstitielle Verletzung oder Avulsion (meist tibial)
- HKV: meist interstitiell
- MCL: meist interstitiell
- LCL-Komplex und posterolaterale Ecke
Je nach Richtung der Luxation und begleitenden Bandverletzungen finden sich Frakturen und Knochenprellungen. Verletzungen der posterioren Gelenkkapsel sind häufig, insbesondere bei hinterer Luxation.
Angiographie
Besteht nach Reposition weiterhin der Verdacht auf eine Verletzung der Arteria poplitea, erfolgt meist eine konventionelle Angiographie. Alternativ kann auch eine CT- oder MR-Angiographie erwogen werden, die jedoch bei kleinen Verletzungen weniger sensitiv ist.
Differenzialdiagnosen
- Floating Knee: eine distale Femurfraktur in Kombination mit einer proximalen Tibiafraktur führt zu einer vollständigen Ablösung des Kniegelenks.
- Multiligamentäre Knieverletzung: sind meist die Folge einer vorherigen Kniegelenksluxation.
Therapie
Bei einer Kniegelenksluxation erfolgt in der Regel eine geschlossene Reposition durch Längsextension des Beines. Bei eingeklemmten Strukturen oder rotatorischen Luxation ist in der Regel eine offene Reposition notwendig. Läsionen von Gefäßen und Nerven bedürfen der sofortigen operativen Versorgung. Begleitende Frakturen werden osteosynthetisch versorgt. Nach der Operation erfolgt eine Ruhigstellung des Beines in 10°-Beugestellung (meistens durch einen Fixateur externe) über drei bis sechs Wochen.
Begleitende ligamentäre Verletzungen werden in der Regel sekundär nach ungefähr drei Wochen versorgt.
Nach der operativen Behandlung erfolgt im Laufe der Zeit eine passive Mobilisation durch eine Motorschiene, die durch aktive physiotherapeutische Übungen ergänzt wird. Während der Immobilisation ist eine Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin obligat.
Komplikationen
Bei einer Kniegelenksluxation besteht die Gefahr der Entwicklung eines Kompartmentsyndroms. Ungefähr 50 % der Nervenverletzungen sind permanent. Weiterhin besteht das Risiko einer verzögerten Thrombose der Arteria oder Vena poplitea.
Auch bei frühzeitiger Therapie kann eine Instabilität im Bereich des Kniegelenks verbleiben. In vielen Fällen entwickeln die Patienten im Lauf der Zeit eine frühzeitige Gonarthrose.
Peer-Review durch Bijan Fink |
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