Juvenile Myasthenia gravis
Synonym: Myasthenie mit Beginn im Kindes- oder Jugendalter
Definition
Die juvenile Myasthenia gravis, kurz JMG, ist eine Unterform der Myasthenia gravis mit Beginn im Jugendalter. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, die vor dem 18. Lebensjahr zu einer Muskelschwäche führt. Ursächlich sind Autoantikörper, welche die neuromuskuläre Übertragung an der motorischen Endplatte stören.
Einteilung
Man unterscheidet eine präpubertäre Form (vor dem 12. Lebensjahr) von einer pubertären Form.
Epidemiologie
Die Prävalenz der juvenilen Myasthenia gravis wird auf etwa 4 bis 14 von 1 Million geschätzt. Etwa 10 % aller Myasthenie-Fälle beginnen im Kindes- und Jugendalter. Ein Beginn im 1. Lebensjahr ist sehr selten.
Vor der Pubertät betrifft die Krankheit Mädchen und Jungen vermutlich in gleichem Maße, danach ist das weibliche Geschlecht wie auch bei den Erwachsenen 2- bis 4-mal häufiger betroffen.
Die okuläre Form der jMG tritt bei Patienten im präpubertären Alter im Vergleich zum pubertären oder Erwachsenenalter deutlich häufiger auf.
In asiatischen Ländern beginnt die jMG in ca. 33 % der Fälle bereits im Kindesalter, mit einem Erkrankungsgipfel um das 2. bis 3. Lebensjahr. Es wird davor ausgegangen, dass dies durch bestimmte HLA-Haplotypen begründet ist. Zudem ist dort die rein okuläre Manifestation mit 50 bis 75 % der Fälle deutlich häufiger.
Pathogenese
Die Myasthenia gravis ist eine Autoimmunerkrankung, bei der sowohl Autoantikörper als auch T-Zellen eine pathogenetische Rolle spielen.
Die Autoantikörper sind bei der jMG v.a. gegen nikotinerge Acetylcholinrezeptoren gerichtet. Seltener finden sich Antikörper gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase oder gegen das Transmembranprotein LRP4. Vereinzelt liegen ein Thymom und Antikörper gegen Titin vor. Die Antikörper stören die neuromuskuläre Übertragung im Bereich der neuromuskulären Endplatte.
Im Thymus kann bei der juvenilen Form häufig eine lymphofollikuläre Hyperplasie beobachtet werden. Im Gegensatz zur adulten Form sind Thymome bei Kindern selten.
Die jMG ist mit HLA-Haplotypen der Klasse I und II assoziiert. In etwa 10 % der Fälle liegt gleichzeitig eine andere Autoimmunerkrankung, wie z.B. eine juvenile Dermatomyositis oder ein Diabetes mellitus Typ 1, vor.
Symptome
Der Symptombeginn kann plötzlich oder schleichend sein. Häufig geht der Symptomatik ein fieberhafter Infekt voran.
Hauptsymptom der juvenilen Myasthenia gravis ist, wie bei der adulten Form, eine belastungsabhängige Muskelschwäche, die typischerweise im Tagesverlauf zunimmt. Die Symptome können nach körperlicher sowie emotionaler Belastung stärker werden.
Zu Beginn ist die Symptomatik häufig auf die Augenmuskulatur beschränkt (50 bis 85 %), insbesondere bei Kleinkindern. Teilweise bleiben die Symptome rein okulär, in der Mehrheit der Fälle treten im Verlauf auch bulbäre und/oder generalisierte Symptome auf, die sich ohne adäquate Therapie zunehmend verschlechtern. Generalisierte Symptome finden sich häufiger bei Patienten im postpubertären Alter. Potenziell können alle quergestreiften Muskeln betroffen sein.
Mögliche Symptome sind:
- okuläre Symptome
- Ptosis
- Ophthalmoplegie
- Doppelbilder
- kombinierte Augenmuskelparesen
- bulbäre Symptome
- Dysarthrie
- Dysphagie
- Speichelfluss
- faziale Schwäche
- generalisierte Symptome
- Belastungsintoleranz
- proximal betonte Schwäche
In schweren, potenziell lebensbedrohlichen Fällen kann auch die Atemmuskulatur betroffen sein, sodass eine Unterstützung der Atmung nötig werden kann.
Unter verschiedenen Bedingungen können sich die Symptome verschlimmern. Dazu gehören:
- Infekte
- Komorbiditäten, z.B. Schilddrüsenerkrankungen
- Hitze
- körperliche Belastung
- psychische Belastung
- hormonelle Schwankungen, z.B. Schwangerschaft, Menstruation
- Medikamente
- Narkosen
Diagnostik
Im Mittelpunkt steht die klinische Untersuchung. Bei Kleinkindern ist diese nicht immer standardisierbar durchzuführen, sondern beruht häufig auf der Beobachtung der spontanen Motorik. Kleinkinder fallen z.B. dadurch auf, dass sie ein Auge zukneifen, um Doppelbilder zu vermeiden.
Bei älteren Kindern und Jugendlichen können klinische Scores, wie z.B. der Quantitative Myasthenia Gravis Score (QMG-Score), angewendet werden.
Weitere klassische klinische Tests sind:
- Simpson-Test: bei Blick nach oben kommt es zu einer Zunahme der Ptosis
- Eistest: Besserung der Ptosis nach Kälteapplikation auf dem betroffenen Auge
Bestimmung der Serumantikörper
Bei generalisierter Symptomatik lassen sich vor der Pubertät in 50 % der Fälle und nach der Pubertät in 70 % der Fälle Antikörper gegen Acetylcholin-Rezeptoren (AChR) nachweisen. Bei Kleinkindern und bei rein okulären Formen werden seltener AChR-Antikörper nachgewiesen. In diesen Fällen ist die klinische Symptomatik entscheidend. Darüber hinaus finden sich in seltenen Fällen Antikörper gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase (MuSK-Ak) und sehr selten gegen Titin, in Kombination mit einem Thymom.
Neurophysiologische Diagnostik
Ziel der neurophysiologischen Diagnostik ist der Nachweis eines pathologischen Dekrements bei repetitiver Stimulation. Die Stimulation erfolgt niederfrequent mit einer Frequenz von 3 Hz. Dabei wird z.B. der Nervus accessorius stimuliert. Von einem pathologischen Dekrement spricht man, wenn die Amplitude nach 5 Reizantworten um mehr als 10 % kleiner ist als zu Beginn.
Bei rein okulärer Myasthenie kann das Ergebnis falsch-negativ sein.
Bildgebung
Mittels MRT des Thorax kann ein Thymom ausgeschlossen werden.
Weitere Diagnostik
Unter anderem sollte eine Lungenfunktionsuntersuchung durchgeführt werden, um die Beteiligung der Atemmuskulatur bestimmen zu können. Diese wird auch im Verlauf kontrolliert.
Differenzialdiagnosen
Therapie
Die Therapie der juvenilen Myasthenia gravis gleicht grundsätzlich der Therapie im Erwachsenenalter. Je nach Alter sind nicht alle Medikamente zugelassen und es müssen die höheren Remissionsraten von Kindern und Jugendlichen bedacht werden.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie basiert auf verschiedenen Säulen:
- Acetylcholinesterase-Hemmer: wird mehrfach täglich angewendet, teils sind auch nächtliche Gaben notwendig. Möglich sind cholinerge Nebenwirkungen, insbesondere bei Überdosierung (z.B. Übelkeit, Durchfall, Schwitzen).
- Glukokortikoide: sind bei generalisierter Symptomatik zu Beginn 1. Wahl. In den ersten Tagen nach Therapiebeginn ist eine vorübergehende Verschlechterung möglich, daher ist es sinnvoll, die Aufdosierung teils im stationären Umfeld durchzuführen. Die Therapiedauer sollte so kurz wie möglich gehalten werden.
- Zur Dauertherapie werden verschiedene Immunsuppressiva eingesetzt (z.T. Off-Label-Use)
- 1. Wahl: Azathioprin
- 2. Wahl: Mycophenolat-Mofetil, Tacrolimus
- Therapieintensivierung: z.B. Rituximab, Eculizumab
- Myasthene Krise: intravenöse Immunglobuline, Plasmapherese
Thymektomie
Eine Thymektomie kann bei der generalisierten AChR-Ak-positiven juvenilen MG bei einem Alter ab 13 Jahren erwogen werden. Bei jüngeren Kindern ist die Thymektomie nur dann eine Option, wenn die medikamentöse Therapie nicht ausreichend wirksam ist.
Prognose
Bei adäquater Diagnose und Therapie ist die Prognose der Kinder und Jugendlichen gut. Die Remissionsrate ist höher als im Erwachsenenalter. Teils sind auch Spontanremissionen möglich.
Quellen
- Finnis, Maria F.; Jayawant, Sandeep (2011): Juvenile myasthenia gravis. A paediatric perspective. In: Autoimmune diseases 2011, S. 404101. DOI: 10.4061/2011/404101.
- Schara, Ulrike; Abicht, Angela (2018): Krankheiten der neuromuskulären Übertragung bei Kindern und Jugendlichen. In: Springer Medizin Verlag GmbH & Springer Verlag GmbH, Teile von SpringerNature, 20.12.2018.
- Wiendl H., Meisel A. et al. (2022): Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome, S2k-Leitlinie. Hg. v. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie.
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