FlexiPub: Neurologische Diagnostik peripherer Neuropathien: Von der Stimmgabel zur elektrischen Vibrationstestung
Einleitung
Periphere Neuropathien (PN) umfassen eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, die das periphere Nervensystem betreffen und zu signifikanten sensorischen, motorischen und autonomen Funktionsstörungen führen können. Mit einer steigenden Prävalenz, insbesondere im Kontext von Systemerkrankungen wie Diabetes mellitus, stellen sie eine wachsende Herausforderung für die klinische Medizin dar. Die frühzeitige und akkurate Diagnose ist wichtig, um eine rechtzeitige Therapie einzuleiten, die Progression der Erkrankung zu verlangsamen und irreversible Nervenschäden sowie schwerwiegende Komplikationen wie das diabetische Fußsyndrom zu verhindern.
Ein zentraler Aspekt der neurologischen Untersuchung bei Verdacht auf eine periphere Neuropathie ist die Überprüfung der sensorischen Modalitäten. Unter diesen nimmt die Vibrationsempfindung eine besondere Stellung ein, da sie häufig als eine der ersten Funktionen, insbesondere bei Polyneuropathien, beeinträchtigt ist. Die Untersuchung des Vibrationsempfindens zielt auf die Funktion der myelinisierten Aβ-Nervenfasern und der mit ihnen assoziierten Mechanorezeptoren. Ein gestörtes Vibrationsempfinden kann ein frühes Anzeichen für eine periphere Neuropathie sein.[1] Die Messung der Wahrnehmungsschwelle für Vibrationen (Vibration Perception Threshold, VPT) ist daher ein etablierter und wesentlicher Bestandteil der diagnostischen Abklärung.
Historisch und bis heute ist die 128-Hz-Stimmgabel das archetypische Instrument zur qualitativen Beurteilung des Vibrationsempfindens. Sie ist kostengünstig, ubiquitär verfügbar und schnell einsetzbar, was sie zu einem unverzichtbaren Werkzeug für das klinische Screening macht. Ihre diagnostische Aussagekraft ist jedoch durch inhärente Limitationen wie mangelnde Quantifizierbarkeit, hohe Untersucherabhängigkeit und eine begrenzte Sensitivität für milde oder beginnende Neuropathien eingeschränkt.
Um diese Schwächen zu überwinden, wurden quantitative sensorische Testverfahren (Quantitative Sensory Testing, QST) entwickelt, allen voran die Pallometrie mittels Geräten wie dem Neurothesiometer oder Biothesiometer. Diese ermöglichen eine quantitative Bestimmung der VPT und bieten somit eine objektivere und reproduzierbarere Methode zur Diagnostik und Verlaufsbeobachtung.[2] Trotz dieses Fortschritts bestehen auch hier Herausforderungen, darunter die Kosten der Geräte, der Zeitaufwand der Untersuchung und eine noch immer nicht vollständig eliminierte Anwenderabhängigkeit.
Angesichts der technologischen Fortschritte im Bereich der Mikroelektronik rücken nun neue Ansätze in den Fokus der Forschung und Entwicklung. Elektrische Vibrationsmethoden, die auf präzise steuerbaren Motoren oder piezoelektrischen Aktuatoren basieren, versprechen, die Lücke zwischen der einfachen Stimmgabel und den etablierten Pallometern zu schließen. Diese Technologien bieten das Potenzial für eine standardisierte, reproduzierbare und sogar multifrequente Testung der Vibrationswahrnehmung, was eine differenziertere Beurteilung ermöglichen könnte.
Dieses Paper verfolgt das Ziel, einen prägnanten Überblick über die Diagnostik peripherer Neuropathien mittels Vibrationsquellen zu geben. Ausgehend von den neurophysiologischen Grundlagen der Vibrationswahrnehmung werden die klassischen und quantitativen Methoden kritisch beleuchtet, ihre jeweiligen Stärken und Schwächen analysiert und miteinander verglichen. Den Schwerpunkt bildet abschließend die Diskussion des Potenzials moderner elektrischer Vibrationsmethoden als alternative oder ergänzende diagnostische Werkzeuge, welche die neurologische Praxis in Zukunft prägen könnten.
Grundlagen der Vibrationswahrnehmung
Um die diagnostischen Verfahren zur Prüfung des Vibrationsempfindens zu verstehen, ist eine genaue Kenntnis der zugrundeliegenden neurophysiologischen Prozesse erforderlich. Die Fähigkeit, mechanische Schwingungen über die Haut wahrzunehmen, ist ein komplexer Vorgang, der das Zusammenspiel spezialisierter sensorischer Rezeptoren, peripherer Nervenfasern und zentralnervöser Verarbeitungszentren involviert.
Mechanorezeptoren
Die menschliche Haut ist mit einer Vielzahl von Mechanorezeptoren ausgestattet, die auf unterschiedliche mechanische Reize wie Druck, Dehnung, Berührung und Vibration spezialisiert sind. Für die Wahrnehmung von Vibrationen sind vor allem zwei Typen schnell adaptierender (Rapidly Adapting, RA) Rezeptoren von Bedeutung: die Meissner- und Vater-Pacini-Körperchen.[3]
Meissner-Körperchen befinden sich in den dermalen Papillen der unbehaarten Haut, insbesondere in den Fingerkuppen und Lippen. Sie sind empfindlich für leichte Berührungen und niederfrequente Vibrationen, typischerweise im Bereich von 10 bis 50 Hz.[4][5] Ihre oberflächliche Lage ermöglicht eine relativ präzise räumliche Auflösung von Reizen.
Vater-Pacini-Körperchen sind die primären Rezeptoren für die Wahrnehmung höherfrequenter Vibrationen und gelten als die empfindlichsten Mechanorezeptoren des Menschen.[4] Sie sind in den tieferen Schichten der Dermis und der Subkutis lokalisiert, finden sich aber auch in Gelenkkapseln und entlang des Periosts.[6] Ihre charakteristische zwiebelschalenartige Lamellenstruktur um ein zentrales Nervenende fungiert als mechanischer Filter, der sie besonders empfänglich für Schwingungen im Frequenzbereich von etwa 20 bis 200 Hz macht.[7] Einige Autoren siedeln den Bereich maximaler Empfindlichkeit auch höher an, zwischen 200 und 300 Hz.[8] Die klinisch weit verbreitete Testung mit einer 128-Hz-Stimmgabel zielt spezifisch auf die Funktion dieser Rezeptoren ab.
Die Dichte und Verteilung der verschiedenen Rezeptoren variiert je nach Körperregion, was die unterschiedliche taktile Sensitivität verschiedener Hautareale erklärt.
Neuronale Leitung und zentrale Verarbeitung
Die von den Meissner- und Vater-Pacini-Körperchen registrierten mechanischen Reize werden in elektrische Signale (Aktionspotenziale) umgewandelt. Diese Signale werden über myelinisierte und somit schnell leitende Aβ-Nervenfasern weitergeleitet. Die Myelinscheide ermöglicht eine saltatorische Erregungsleitung, die eine hohe Übertragungsgeschwindigkeit gewährleistet und für die präzise zeitliche Kodierung von Vibrationsreizen essenziell ist.
Die Axone dieser Fasern ziehen, ohne Umschaltung im Rückenmark, im Hinterstrangsystem (Fasciculus gracilis und Fasciculus cuneatus) aufwärts zur Medulla oblongata. Dort erfolgt die erste synaptische Umschaltung in den Hinterstrangkernen (Nucleus gracilis und Nucleus cuneatus). Die sekundären Neurone kreuzen anschließend auf die Gegenseite und formen den Lemniscus medialis, der zum Thalamus (spezifisch zum Nucleus ventralis posterolateralis, VPL) aufsteigt. Nach einer weiteren Umschaltung im Thalamus werden die Informationen schließlich zum primären somatosensorischen Kortex im Gyrus postcentralis des Parietallappens projiziert, wo die bewusste Wahrnehmung und Interpretation des Vibrationsreizes stattfindet.
Pathophysiologie bei peripheren Neuropathien
Periphere Neuropathien, insbesondere die häufigen distal-symmetrischen sensomotorischen Polyneuropathien, schädigen die peripheren Nerven. Abhängig von der Ätiologie und dem Typ der Neuropathie können die Pathomechanismen eine axonale Degeneration, eine demyelinisierende Schädigung oder eine Kombination aus beidem umfassen.
Die großkalibrigen, myelinisierten Aβ-Fasern, die für die Vibrationswahrnehmung verantwortlich sind, sind aufgrund ihrer Größe und ihres hohen metabolischen Bedarfs besonders anfällig für toxische, metabolische (z. B. bei Diabetes mellitus) oder ischämische Schädigungen. Bei einer demyelinisierenden Neuropathie wird die Myelinscheide abgebaut, was die Leitungsgeschwindigkeit drastisch verlangsamt oder den Impulsfluss blockiert. Bei einer axonalen Neuropathie degeneriert das Axon selbst, was zu einem kompletten Funktionsverlust führt.
Beide Prozesse führen zu einer Beeinträchtigung der Signalübertragung von den Mechanorezeptoren zum Zentralnervensystem. Klinisch manifestiert sich dies in einer Erhöhung der Vibrationswahrnehmungsschwelle (VPT).[9] Der Patient benötigt eine stärkere Vibration, d.h. eine höhere Amplitude, um den Reiz noch wahrnehmen zu können. Da dieser Prozess oft schleichend beginnt und distal an den längsten Nervenfasern (an den Füßen) einsetzt, ist die Prüfung der Vibrationswahrnehmung ein empfindlicher Indikator für das Vorliegen und die Progression einer Large-Fiber-Neuropathie.
Neurodegenerative Prozesse können darüber hinaus auch die Funktion der Rezeptoren selbst beeinträchtigen.[10]
Methoden der Vibrationsdiagnostik
Die klinische Beurteilung der Vibrationswahrnehmung stützt sich auf eine Reihe von Methoden, die von einfachen qualitativen Screening-Tests bis hin zu hochentwickelten quantitativen Messverfahren reichen. Jede Methode besitzt spezifische Vor- und Nachteile, die ihre jeweilige Rolle in der klinischen Praxis definieren.
Die Stimmgabel: Ein qualitatives Screening-Instrument
Die Untersuchung mit der Stimmgabel ist eine der ältesten und am weitesten verbreiteten neurologischen Untersuchungstechniken. Traditionell wird hierfür eine 128-Hz-Stimmgabel verwendet, deren Frequenz im typischen Wahrnehmungsbereich der Vater-Pacini-Körperchen liegt.
Durchführung
Der Untersucher schlägt die Stimmgabel an (z.B. am Handballen), um sie in Schwingung zu versetzen, und setzt sie anschließend mit dem Fuß auf einen knöchernen Vorsprung des Patienten, typischerweise auf den Malleolus medialis am Sprunggelenk oder den Processus styloideus radii am Handgelenk. Der Patient wird gebeten, anzugeben, wann er die Vibration nicht mehr spürt. Der Untersucher kann das Ergebnis vergleichen, indem er die noch schwingende Gabel auf seine eigene entsprechende Körperstelle setzt (sofern er selbst über ein intaktes Vibrationsempfinden verfügt). Eine deutliche Verkürzung der Wahrnehmungsdauer beim Patienten im Vergleich zum Untersucher oder ein komplettes Fehlen der Wahrnehmung deuten auf eine Störung hin.
Stärken
Die Stimmgabelprüfung besticht durch ihre Einfachheit, schnelle Durchführbarkeit und die geringen Kosten. Sie ist ein exzellentes Instrument für das Bedside-Screening und in nahezu jeder klinischen Umgebung verfügbar. Für die initiale klinische Einschätzung liefert sie oft ausreichende Informationen, um den Verdacht auf eine relevante periphere Neuropathie zu erhärten und weitere diagnostische Schritte zu veranlassen.
Schwächen
Die wesentliche Schwäche der traditionellen Stimmgabelprüfung liegt in ihrem qualitativen bzw. bestenfalls semiquantitativen Charakter. Die Ergebnisse sind in hohem Maße von der Technik und Erfahrung des Untersuchers abhängig. Die initiale Amplitude der Schwingung variiert je nachdem, wie kräftig die Gabel angeschlagen wird, und der Anpressdruck kann das Ergebnis beeinflussen. Dies führt zu einer erheblichen Inter- und Intraobserver-Variabilität und schränkt die Reproduzierbarkeit der Messung ein.[11][12] Die Methode ist zudem relativ unempfindlich für subtile oder frühe Veränderungen der Vibrationswahrnehmung, was die Diagnose beginnender Neuropathien erschwert. Die Verlaufsbeobachtung einer bekannten Neuropathie ist mit der Stimmgabel kaum objektiv möglich. Obwohl sie weit verbreitet ist, birgt sie die Gefahr von falsch-negativen Befunden bei milden Neuropathieformen.[13]
Eine Weiterentwicklung stellt die Rydel-Seiffer-Stimmgabel dar, eine graduierte Stimmgabel (oft 64 Hz), die eine semiquantitative Ablesung auf einer Skala von 0 bis 8 ermöglicht. Sie verbessert zwar die Quantifizierbarkeit im Vergleich zur herkömmlichen Stimmgabel, unterliegt aber ebenfalls den o.a. Limitationen. Gegenüber konventionellen Stimmgabeln zeigt sie weder eine bessere Sensitivität noch Spezifität.[14]
Pallometrie: Quantitative Vibrationsschwellenmessung (VPT)
Um die Limitierungen der Stimmgabel zu überwinden, wurden quantitative sensorische Testverfahren (QST) für die Vibrationsempfindung entwickelt. Die Messung der Vibrationswahrnehmungsschwelle (VPT) mittels elektronischer Vibrationsgeräte, auch Pallometrie genannt, ist heute der Goldstandard für die quantitative Beurteilung des Vibrationsempfindens.
Durchführung und Geräte
Die am häufigsten verwendeten Geräte sind das Biothesiometer und das Neurothesiometer. Diese Geräte erzeugen eine Vibration definierter Frequenz (meist um 100-120 Hz) mit einer kontrolliert und stufenlos steigerbaren Amplitude. Der Vibrator wird auf die zu testende Stelle aufgesetzt, und die Amplitude wird langsam erhöht, bis der Patient angibt, die Vibration gerade eben zu spüren (Wahrnehmungsschwelle). Der entsprechende Wert wird in Volt oder Mikrometer vom Gerät abgelesen. Dieses Verfahren wird mehrfach wiederholt, um einen Mittelwert zu bilden und die Zuverlässigkeit zu erhöhen. Die gemessenen Werte werden anschließend mit alters- und geschlechtsspezifischen Normwerten verglichen.
Stärken
Der entscheidende Vorteil der Pallometrie ist die Gewinnung quantitativer, metrischer Daten.[12] Dies ermöglicht eine objektive Diagnosestellung und ist insbesondere bei der Detektion früher oder milder Neuropathien der qualitativen Stimmgabelprüfung überlegen. Die quantitative Messung erlaubt eine Verlaufsbeobachtung des Krankheitsgeschehens und ggf. die Evaluation des Ansprechens auf eine Therapie. Die Methode hat eine höhere Sensitivität und Spezifität als die Stimmgabel und gilt als zuverlässiges Werkzeug zur Identifizierung von Risikopatienten, beispielsweise für das diabetische Fußsyndrom.
Schwächen
Trotz der klaren Vorteile ist auch die Pallometrie nicht frei von Nachteilen. Die Geräte sind in der Anschaffung deutlich teurer als eine Stimmgabel, und die Untersuchung ist zeitaufwendiger.[15] Obwohl die Reizapplikation standardisiert ist, bleibt eine Abhängigkeit von der Kooperation und der subjektiven Angabe des Patienten bestehen. Faktoren wie die Aufmerksamkeit des Patienten, die Umgebungstemperatur und vor allem der Anpressdruck des Vibrators können das Messergebnis signifikant beeinflussen, wenn sie nicht kontrolliert werden. Zudem gibt es hinsichtlich ihrer technischen Spezifikationen Unterschiede zwischen den kommerziell erhältlichen Geräten, was die Vergleichbarkeit von Studienergebnissen erschweren kann.
Alternative Ansätze: Elektrische Vibrationsmethoden
Die Limitationen der etablierten Methoden treiben die Forschung und Entwicklung neuer Technologien voran. Moderne elektrische Vibrationsmethoden, die auf präzise steuerbaren Motoren und Aktuatoren basieren, stellen einen vielversprechenden Ansatz dar, um die Diagnostik der Vibrationswahrnehmung weiter zu verbessern und zu standardisieren.
Rationale für neue Technologien
Das ideale diagnostische Werkzeug für die Vibrationsprüfung sollte die Einfachheit und Zugänglichkeit der Stimmgabel mit der Präzision und Quantifizierbarkeit der Pallometrie verbinden und deren jeweilige Schwächen minimieren. Neue Technologien zielen z.B. darauf ab:
- Die Untersucherabhängigkeit durch eine automatisierte und standardisierte Reizapplikation zu eliminieren.
- Durch exakte Kontrolle der Vibrationsparameter (Frequenz und Amplitude) die Reproduzierbarkeit zu maximieren.
- Die Messung verschiedener Frequenzen zu ermöglichen und so unterschiedliche Mechanorezeptor-Populationen gezielt anzusprechen. Auf diese Weise wäre eine differenziertere Diagnostik möglich.
- Die Zugänglichkeit der Methode durch die Entwicklung kostengünstigerer, portabler und benutzerfreundlicherer Geräte zu verbessern.
Elektrische Vibrationsquellen: Motoren und Aktuatoren
Im Gegensatz zu traditionellen Pallometern, die oft auf elektromagnetischen Vibratoren basieren, nutzen moderne Ansätze die Fortschritte in der Mikroaktorik. Hierzu gehören:
- ERM-Motoren ("eccentric rotating mass"): Kleine Elektromotoren, die eine exzentrisch angebrachte Masse rotieren lassen und so eine Vibration erzeugen. Sie sind kostengünstig und weit verbreitet, z. B. in Mobiltelefonen.
- Lineare Resonanzaktuatoren ("linear resonant actuators"): Diese Aktuatoren nutzen eine Magnetmasse, die durch ein magnetisches Wechselfeld in eine lineare Schwingung versetzt wird. Sie erlauben eine präzisere Kontrolle von Frequenz und Amplitude als ERM-Motoren.
- Piezoelektrische Aktuatoren: Diese nutzen den piezoelektrischen Effekt, bei dem sich bestimmte Kristalle unter Anlegung einer elektrischen Spannung verformen. Sie können extrem schnelle und präzise Schwingungen über einen breiten Frequenzbereich erzeugen.
Diese Technologien können in kompakte, handgehaltene Geräte integriert werden. Einige Forschungsprojekte untersuchen bereits die Nutzung der bereits in Smartphones verbauten Vibrationsmotoren für ein schnelles Screening der Hautsensitivität.[16][17]
Vorteile elektrischer Vibrationsmethoden
Die Nutzung moderner elektrischer Aktuatoren bietet eine Reihe potenzieller Vorteile, die die neurologische Diagnostik vereinfachen könnten:
- Präzise und reproduzierbare Reizgenerierung: Die Vibrationsfrequenz und -amplitude können exakt digital gesteuert und bei jeder Messung identisch reproduziert werden. Dies eliminiert die Hauptfehlerquelle der Stimmgabel und verbessert die Standardisierung gegenüber traditionellen Pallometern.
- Portabilität: Die Miniaturisierung der Technologie ermöglicht die Entwicklung kleiner, tragbarer und potenziell kostengünstiger Geräte.
- Multifrequenz-Vibrometrie: Im Gegensatz zu den meisten Geräten, die auf eine Frequenz beschränkt sind, können moderne Aktuatoren ein Spektrum an Frequenzen erzeugen. Eine Testung bei verschiedenen Frequenzen (z.B. 30 Hz zur Prüfung der Meissner-Körperchen und 200 Hz zur Prüfung der Pacini-Körperchen) könnte ein "sensorisches Profil" des Patienten erstellen und so eine differenziertere Diagnose ermöglichen.
- Integration von Sensoren: Zukünftige Geräte könnten Sensoren zur Messung des Anpressdrucks integrieren, um diesen Störfaktor zu kontrollieren oder die Messergebnisse entsprechend zu korrigieren. Dies wäre eine entscheidende Weiterentwicklung, da der Kontaktdruck die Wahrnehmungsschwelle nachweislich beeinflusst.
- Konnektivität: Die Anbindung an Smartphones oder Tablets via Bluetooth erlaubt eine einfache Datenspeicherung, -analyse und -übertragung, was den Einsatz in der Telemedizin und für Screening-Programme erleichtert.
- Automatisierung des Messprotokolls: Die Messung kann softwaregesteuert und automatisiert ablaufen, inklusive der Anwendung von Algorithmen zur Schwellenbestimmung. Dies reduziert den Einfluss des Untersuchers auf ein Minimum.
Herausforderungen und Implementierung
Trotz des großen Potenzials müssen für eine erfolgreiche Etablierung elektrischer Vibrationsmethoden im klinischen Alltag noch einige Hürden genommen werden. Die Entwicklung eines neuen diagnostischen Geräts erfordert eine sorgfältige Validierung in klinischen Studien. Hierbei müssen die Sensitivität, Spezifität und diagnostische Genauigkeit im Vergleich zu etablierten Diagnosemethoden nachgewiesen werden.
Schließlich spielt auch die Kosten-Nutzen-Analyse eine wichtige Rolle für die Akzeptanz und Verbreitung in den Gesundheitssystemen. Die Entwicklung muss auf die Schaffung robuster, zuverlässiger und gleichzeitig erschwinglicher Geräte abzielen, die einen klaren Mehrwert gegenüber den bestehenden Methoden bieten.
Diskussion
Die Diagnostik peripherer Neuropathien anhand der Vibrationswahrnehmung hat eine bemerkenswerte Evolution durchlaufen – von einem einfachen, mechanischen Werkzeug hin zu hochentwickelten, quantitativen Messsystemen. Diese Entwicklung spiegelt den stetigen Fortschritt in der Medizintechnik und das Bestreben nach immer präziseren, objektiveren und patientenfreundlicheren diagnostischen Verfahren wider.
Die Stimmgabel, insbesondere in ihrer 128-Hz-Ausführung, bleibt trotz ihrer bekannten Schwächen ein wichtiges Instrument in der klinischen Neurologie. Ihre unschlagbaren Vorteile in Bezug auf Kosten, Verfügbarkeit und Schnelligkeit sichern ihr einen festen Platz als Screening-Instrument für den ersten klinischen Eindruck. Es ist jedoch wichtig, dass sich die Anwender der Limitationen bewusst sind: Ein unauffälliger Stimmgabeltest schließt eine beginnende oder milde Neuropathie nicht aus, für eine Verlaufsbeurteilung ist die Methode ungeeignet.
Die Einführung der Pallometrie mittels Biothesiometer oder Neurothesiometer ermöglichte den Wechsel von der qualitativen zur quantitativen Beurteilung. Die Möglichkeit, die Vibrationswahrnehmungsschwelle als numerischen Wert zu erfassen, hat die diagnostische Genauigkeit, insbesondere bei der Früherkennung, verbessert und ermöglicht eine objektive Überwachung des Krankheitsverlaufs. Nachteile sind jedoch die hohen Anschaffungskosten und damit die mangelnde Marktdurchdringung der Geräte.
Hier setzen die neuen elektrischen Vibrationsmethoden an, welche die nächste Stufe der Pallometrie erklimmen wollen. Durch die präzise digitale Steuerung der Vibrationsparameter können sie ein Maß an Standardisierung und Reproduzierbarkeit erreichen, das mit traditionellen Methoden nicht, oder nur mit erhöhtem Aufwand, zu erreichen ist. Ob sich diese Geräte im klinischen Alltag durchsetzen, ist jedoch davon abhängig, ob sie eine tatsächliche Verbesserung im Hinblick auf die Genauigkeit und Anwenderfreundlichkeit darstellen.
Quellen
- ↑ Zippenfennig, C.; Wynands, B.; Milani, T.L. Vibration Perception Thresholds of Skin Mechanoreceptors Are Influenced by Different Contact Forces. J. Clin. Med. 2021, 10, 3083.
- ↑ S. Pleven: A comparison of screening tools for the accurate diagnosis of peripheral neuropathy in type 2 diabetes, Dissertation (2023), abgerufen am 29.8.2025
- ↑ Kandel et al.: Principles of Neural Science. 6th Edition, McGraw-Hill, 2021.
- ↑ 4,0 4,1 Abraira VE, Ginty DD. The sensory neurons of touch. Neuron. 2013 Aug 21;79(4):618-39. doi: 10.1016/j.neuron.2013.07.051. PMID: 23972592; PMCID: PMC3811145.
- ↑ Schmidt, R.F. & Thews, G. (Hrsg.): Physiologie des Menschen. Springer, 31. Auflage, 2010.
- ↑ Rowe MJ, Tracey DJ, Mahns DA, Sahai V, Ivanusic JJ. Mechanosensory perception: are there contributions from bone-associated receptors? Clin Exp Pharmacol Physiol. 2005 Jan-Feb;32(1-2):100-8. doi: 10.1111/j.1440-1681.2005.04136.x. PMID: 15730443.
- ↑ Casale R, Hansson P. The analgesic effect of localized vibration: a systematic review. Part 1: the neurophysiological basis. Eur J Phys Rehabil Med. 2022 Apr;58(2):306-315. doi: 10.23736/S1973-9087.22.07415-9. Epub 2022 Feb 1. PMID: 35102735; PMCID: PMC9980599
- ↑ Madhan Kumar, V., Natarajan, S., Manivannan, M. (2022). Vibration Perception Threshold Tuning Curve Towards Early Diagnosis of Diabetic Peripheral Neuropathy. In: Tadepalli, T., Narayanamurthy, V. (eds) Recent Advances in Applied Mechanics. Lecture Notes in Mechanical Engineering. Springer, Singapore.
- ↑ Dave, V., & Patel, Y. (2025). Detection of diabetic peripheral neuropathy from index finger using vibration mechanism. Journal of Medical Engineering & Technology, 49(5), 171–178.
- ↑ García-Mesa, Y.; Feito, J.; González-Gay, M.; Martínez, I.; García-Piqueras, J.; Martín-Cruces, J.; Viña, E.; Cobo, T.; García-Suárez, O. Involvement of Cutaneous Sensory Corpuscles in Non-Painful and Painful Diabetic Neuropathy. J. Clin. Med. 2021, 10, 4609.
- ↑ Lanting SM, Spink MJ, Tehan PE, Vickers S, Casey SL, Chuter VH. Non-invasive assessment of vibration perception and protective sensation in people with diabetes mellitus: inter- and intra-rater reliability. J Foot Ankle Res. 2020 Jan 16;13:3. doi: 10.1186/s13047-020-0371-9. PMID: 31988664; PMCID: PMC6966840.
- ↑ 12,0 12,1 John AA, Rossettie S, Rafael J, Cox CT, Ducic I, Mackay BJ. Clinical Assessment of Pain and Sensory Function in Peripheral Nerve Injury and Recovery: A Systematic Review of Literature. Arch Plast Surg. 2022 May 27;49(3):427-439. doi: 10.1055/s-0042-1748658. PMID: 35832158; PMCID: PMC9142258.
- ↑ Azzopardi K, Gatt A, Chockalingam N, Formosa C. Hidden dangers revealed by misdiagnosed diabetic neuropathy: A comparison of simple clinical tests for the screening of vibration perception threshold at primary care level. Prim Care Diabetes. 2018 Apr;12(2):111-115. doi: 10.1016/j.pcd.2017.09.004. Epub 2017 Oct 10. PMID: 29029862.
- ↑ Lai S, Ahmed U, Bollineni A, Lewis R, Ramchandren S. Diagnostic accuracy of qualitative versus quantitative tuning forks: outcome measure for neuropathy. J Clin Neuromuscul Dis. 2014 Mar;15(3):96-101. doi: 10.1097/CND.0000000000000019. PMID: 24534830; PMCID: PMC4957578.
- ↑ O' Conaire E, Rushton A, Wright C. The assessment of vibration sense in the musculoskeletal examination: Moving towards a valid and reliable quantitative approach to vibration testing in clinical practice. Man Ther. 2011 Jun;16(3):296-300. doi: 10.1016/j.math.2011.01.008. Epub 2011 Feb 19. PMID: 21339080.
- ↑ O. Lindsay. [https://ucalgary.scholaris.ca/items/f269fad9-d352-4f35-94af-0362236ed2f6 A Novel Vibration-Emitting Smartphone Application to Clinically Assess Cutaneous Sensitivity. (2022), abgerufen am 29.8.2025
- ↑ O. Lindsay, H. Hammad et al.. Age related changes in skin sensitivity assessed with smartphone vibration testing. Scientific Reports. 2024.