Hyperchylomikronämie
Synonyme: Hyperlipoproteinämie Typ 1, familiäre Chylomikronämie, familiäres Chylomikronämie-Syndrom, Lipoproteinlipasemangel, LPL-Defizienz, ApoC2-Defizienz
Englisch: hyperchylomicronemia
Definition
Die Hyperchylomikronämie ist eine seltene angeborene Fettstoffwechselstörung.
Epidemiologie
Die Prävalenz wird auf ca. 1 zu 1.000.000 geschätzt.
Ätiologie
Die Hyperchylomikronämie basiert auf einem autosomal-rezessiv vererbten Defekt der Lipoproteinlipase (LPL-Defizienz) oder des Apolipoproteins C2 (ApoC2-Defizienz).
Pathophysiologie
Triglyzeride aus der Nahrung werden nach Spaltung und Resorption in Enterozyten wieder zu Triglyzeriden synthetisiert und mit Cholesterin, Phospholipiden und Apolipoproteinen zu Chylomikronen umgebaut. Diese werden über die Lymphe dem Blutstrom zugeführt. Im Gefäßendothel werden Chylomikronen (und VLDL) durch die Lipoproteinlipase abgebaut. Dabei werden Fettsäuren frei. Weiterhin kommt es auch zum Apo-Proteinaustausch mit anderen Lipoproteinen (z.B. HDL). Die noch triglyzeridreichen Restchylomikronen (Remnants) werden in der Leber katabolisiert.
Durch die Störung der Lipoproteinlipase des Gefäßendothels oder seines Koenzyms ApoC2 entstehen Konzentrationen des Serumtriglyzerids von z.T. über 1000 mg/dl.
Bei Patienten mit heterozygotem Defekt des LPL-Gens sind die Plasmatriglyzeridspiegel leicht bis moderat erhöht, bei Individuen mit heterozygoter ApoC2-Mutation liegt keine Hypertriglyzeridämie vor.
Klinik
Bei der LPL-Defizienz kommt es meist bereits im frühen Kindesalter zu ersten Symptomen. Eine Erstmanifestation im Erwachsenenalter ist selten. Typische Zeichen sind:
- eruptive Xanthome: kleine gelblich weiße, schmerzlose, ggf. juckende Papeln, häufig in Clustern auf dem Rücken, dem Gesäß und an Streckseite der Extremitäten
- Lipaemia retinalis: Blutgefäße der Retina erscheinen bei der Augenhintergrunduntersuchung schillernd
- Wachstumsstörungen
- wiederholte Episoden schwerer abdominaler Schmerzen durch akute Pankreatitiden
- Hepatosplenomegalie durch Aufnahme von zirkulierenden Chylomikronen über retikuloendotheliale Zellen in der Leber und Milz
- Steatosis hepatis
- Hyperviskositätssyndrom mit Dyspnoe und neuropsychiatrischen Auffälligkeiten
- vermutlich kein erhöhtes Atheroskleroserisiko
Das klinische Bild bei der Apo-C2-Defizienz ist schwächer ausgeprägt mit späterer Manifestation und seltenerem Auftreten von Xanthomen. Jedoch kommt es typischerweise zu rezidivierenden Pankreatitiden.
Diagnostik
- deutliche Erhöhungen der Chylomikronen und VLDL im milchig trüben Nüchternplasma
- Kühlschranktest: Lässt man das Plasma bei 4 °C für einige Stunden stehen, setzen sich die Chylomikronen an der Oberfläche ab und bilden einen cremigen Überstand ("Sahnehäubchen")
- Nüchtertriglyzeridspiegel fast immer über 1.000 mg/dl (11,3 mmol/l)
- Nüchterncholesterinspiegel in deutlich geringerem Ausmaß erhöht
- Elektrophorese nach Fredrickson: Hyperlipidämie Typ I
Nach intravenöser Heparininjektion, welche die Bindung der Lipoproteinlipase vom Endothel löst, wird eine Blutprobe entnommen und die enzymatische Aktivität bestimmt. Dabei zeigt sich eine deutlich herabgesetzte LPL-Aktivität. Bei Patienten mit ApoC2-Mangel kann durch Zugabe von normalem Präheparinplasma (als ApoC2-Quelle) die LPL-Aktivität normalisiert werden.
Die Diagnosesicherung erfolgt durch eine molekulargenetische Untersuchung mit Nachweis des Gendefekts.
Differenzialdiagnosen
Weitere primäre Hyperlipoproteinämien, die mit einer Hypertriglyzeridämie und ähnlichen Symptomen einhergehen sind:
- Apo-A5-Mangel: Das Apolipoprotein A5 erleichert die Assoziation von VLDL und Chylomikronen mit der Lipoproteinlipase und fördert deren Hydrolyse. Bei Loss-of-Function-Mutationen in beiden Allelen entsteht eine Chylomikronämie. Die Prävalenz beträgt unter 1/1.000.000
- GPIHBP1-Mangel: Homozygote Mutationen im GDIHBP1-Gen, die zur gestörten Synthese oder Faltung von GPIHBP1 führen, verursachen durch einen gestörten Transport von LPL zum Gefäßendothel eine schwere Hypertriglyzeridämie. Die genaue Häufigkeit dieser Chylomikronämie ist nicht bekannt, vermutlich unter 1/1.000.000.
Störungen des Lipidstoffwechsels, die als Phänotyp 1 nach Fredrickson klassifiziert werden, können auch sekundär auftreten. Sie werden beispielsweise als Folge einer Dysglobulinämie oder eines Lupus erythematodes beschrieben.
Als familiäre Hypertriglyzeridämie wird eine vermutlich polygen vererbte Erkrankung mit deutlich erhöhten Nüchternwerten der Triglyzeride bezeichnet, bei der keine eindeutige sekundäre Ursache gefunden werden kann.
Therapie
Die wichtigste therapeutische Maßnahme ist die diätetische Restriktion des Nahrungsfetts auf bis zu 15 g/d. Parallel müssen die fettlöslichen Vitamine substituiert werden. Mittelkettige Triglyzeride, die direkt in den Portalkreislauf aufgenommen werden, können verabreicht werden.
Bei einigen Patienten hat sich die zusätzliche Gabe von Fischöl als effektiv erwiesen. Bei Apo-C2-Mangel kann die Infusion von Fresh Frozen Plasma (enthält Apo-C2) helfen. In der Schwangerschaft, wenn die VLDL-Produktion erhöht ist, ergeben sich besondere therapeutische Herausforderungen.
Mit Alipogen-Tiparvovec existierte eine zugelassene virale Gentherapie für Erwachsene mit Hyperchylomikronämie, jedoch wurde die Vermarktung aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt. In klinischen Studien werden derzeit (2019) Volanesorsen und Pradigastat untersucht.
Literatur
- Chourdakis M et al. APS: S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Hyperlipidämien bei Kindern und Jugendlichen, 2015, abgerufen am 14.10.2019
- Böhles H, Stoffwechselerkrankungen im Kindes- und Jugendalter. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2016
- Arastéh K et al., Hrsg. Duale Reihe Innere Medizin. 4., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2018
- Suttorp N et al., Harrisons - Innere Medizin, Hrsg. 19. Auflage. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag; 2016.