Kieferorthopädie
Englisch: orthodontics
Definition
Die Kieferorthopädie, kurz KFO, ist ein Teilgebiet der Zahnmedizin. Sie beschäftigt sich mit der Prophylaxe, Diagnostik und Therapie von Fehlstellungen der Kiefer und der Zähne (Zahnfehlstellungen). Ziel ist die Wiederherstellung oder Erhaltung einer funktionell günstigen, ästhetisch ansprechenden und parodontal verträglichen Verzahnung (Okklusion) unter Berücksichtigung von Wachstum, Funktion und psychosozialen Aspekten.
Aufgaben
Zu den Kernaufgaben der Kieferorthopädie gehören die frühzeitige Erkennung und Behandlung von Fehlentwicklungen in der Wachstumsphase der Kiefer. Sie umschließt die Behandlung von Kieferfehlstellungen, einschließlich
- sagittaler (Overjet, Angle-Klassen II/III),
- transversaler (z.B. Kreuzbiss, Scherenbiss) und
- vertikaler Abweichungen wie Tief- oder offenem Biss.
Darüber hinaus umfasst sie die Korrektur von Zahnfehlstellungen wie Engständen, Rotationen, Lücken sowie Protrusionen und Retrusionen.
Zudem dient die kieferorthopädische Therapie der funktionellen Optimierung, indem sie Kau-, Schluck- und Sprechfunktionen verbessert sowie die Kiefergelenksfunktion und muskuläre Balance harmonisiert. Zusätzlich trägt sie zur Verbesserung der Ästhetik und psychosozialen Funktion bei, indem Gesichts- und Lächelästhetik, Selbstwertgefühl und Lebensqualität positiv beeinflusst werden.
Ätiologie
Die Entstehung von Fehlstellungen ist multifaktoriell bedingt:
- Genetische Faktoren: Vererbung von Kiefergröße, Zahngröße, Gesichtsform und Skelettmustern (z.B. skelettale Angle-Klasse II oder III)
- Umwelteinflüsse und Angewohnheiten: Längeres Daumenlutschen, Schnullergebrauch, Lippensaugen, Zungenpressen, persistierende Mundatmung
- Funktionelle Faktoren: Muskelungleichgewichte, atypische Schluckmuster, myofunktionelle Störungen
- Lokale Faktoren: Früher Milchzahnverlust, Retention oder Verlagerung bleibender Zähne, Über- oder Unterzahl von Zähnen, Platzmangel oder -überschuss
- Allgemeinerkrankungen und Syndromassoziationen: z.B. kraniofaziale Fehlbildungen, Spaltbildungen, Skelettdysplasien
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt strukturiert und umfasst:
- Anamnese: Allgemein- und Zahn-/Kieferanamnese, funktionelle Beschwerden (Kauen, Atmung, Kiefergelenk), Habits, familiäre Häufung
- Klinische Untersuchung
- Extraoral: Gesichtsform, Profil, Symmetrie, Weichteilverhältnisse, Kiefergelenksfunktion.
- Intraoral: Zahnstellung, Okklusion (sagittal, transversal, vertikal), Platzverhältnisse, Mittellinien, Parodontalstatus
- Bildgebung: Panoramaschichtaufnahme (OPG), Fernröntgenseitenbild (FRS) mit kephalometrischer Analyse; ggf. zusätzliche Aufnahmen (Einzelzahnaufnahmen, CBCT)
- Modelle/Scans: Gipsmodelle oder digitale 3D-Scans zur Analyse von Zahnbogenform, Platzverhältnissen und Interkuspidation
- Funktionsdiagnostik: Manuelle und ggf. instrumentelle Funktionsanalyse von Kiefergelenk, Muskulatur und Okklusion
- Bewertungsindizes: Verwendung von IOTN, PAR-Index u.Ä. zur standardisierten Einschätzung von Schweregrad und Behandlungsbedürftigkeit
Im Zuge der Digitalisierung gewinnen telemedizinische und KI-gestützte Verfahren an Bedeutung, bei denen anhand standardisierter Foto- oder Scanaufnahmen eine erste Einschätzung von Zahn- und Kieferfehlstellungen sowie eine Vorselektion der Behandlungsbedürftigkeit vorgenommen werden kann.
Therapie
Die kieferorthopädische Therapie zielt auf eine harmonisierte Okklusion, stabile Funktion und ästhetisch ausgewogene Gesichtsproportion. Sie umfasst herausnehmbare Apparaturen zur Wachstumsbeeinflussung, festsitzende Multibrackets zur präzisen dreidimensionalen Zahnbewegung sowie Aligner als transparente Schienen für sequenzielle Korrekturen.
Interzeptive Maßnahmen dienen der frühen Behandlung ausgeprägter Fehlstellungen im Kindesalter (z.B. Kreuzbiss, traumagefährdeter Overjet, starke Engstände). Bei Erwachsenen mit skelettalen Dysgnathien werden kieferorthopädische und -chirurgische Verfahren kombiniert, einschließlich präoperativer Ausformung und postoperativer Feinjustierung der Okklusion. In der adulten Kieferorthopädie steht die parodontal schonende Zahnbewegung im Fokus, häufig in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Prothetik, Parodontologie und Implantologie, um funktionelle Stabilität und langfristige Retention sicherzustellen.
Kontraindikationen
Relative oder absolute Kontraindikationen kieferorthopädischer Eingriffe können sein:
- Unbehandelte schwere Parodontalerkrankungen
- Mangelnde orale Hygiene und Compliance
- Schwere Allgemeinerkrankungen oder medikamentöse Therapien, die Knochenstoffwechsel und Wundheilung beeinträchtigen (z.B. Bisphosphonate)
- Limitierendes Wachstumsmuster bzw. abgeschlossenes Wachstum bei ausgeprägten skelettalen Fehlstellungen (Indikation zur chirurgischen Korrektur statt alleiniger KFO)
Nebenwirkungen
Mögliche unerwünschte Effekte kieferorthopädischer Eingriffe sind:
- Zahnsensibilitäten, Schmerzen, Druckgefühl
- Wurzelresorptionen unterschiedlicher Ausprägung
- Gingivale Rezessionen bei ungünstiger Zahnbewegung oder dünnem Biotyp
- Demineralisationen und Karies bei unzureichender Mundhygiene unter festsitzender Therapie
- Kiefergelenksbeschwerden oder muskuläre Dysbalancen bei nicht optimal eingestellter Okklusion
- Rezidive nach Therapieende bei unzureichender Stabilisierung (Retention)