Brechwurzel
Synonyme: Carapichea ipecacuanha, Hipecacuanha brasiliensis, Hipecacuanha dysenteria, Ipecacuanha fusca, Psychotria ipecacuanha, Kopfbeere, Ruhrwurzel, Speiwurzel
Pharmazeutische Droge: Ipecacuanhae pulvis (normatus), Ipecacuanha radix, Cephaelis ipecacuanha hom.
Handelsnamen: Brecherregender Sirup (NRF 19.1)
Englisch: ipecac
Definition
Die Brechwurzel ist eine alkaloidhaltige Pflanze, aus der Brecherregender Sirup (NRF 19.1) hergestellt wird. Dieser wurde in der Vergangenheit zur primären Giftentfernung eingesetzt, ist heute aber bis auf wenige Ausnahmen obsolet.
Botanik
Die Brechwurzel gehört zur Familie der Rötegewächse (Rubiaceae). Es handelt sich um eine ausdauernde, immergrüne, krautige Pflanze. Sie wird bis zu 40 cm hoch und besitzt ein 2 bis 4 mm dickes Rhizom, das Speicherwurzeln ausbildet. Wildwachsend kommt die Brechwurzel in lichten Wäldern des tropischen Brasiliens vor. Sie wird in Indien, Hinterindien und auf dem Malaiischen Archipel kultiviert.[1]
Wirkstoffe
Rhizom und Wurzel der Brechwurzel enthalten 1,8 bis 4,0 % Isochinolinalkaloide vom Emetintyp, die auch als Ipecacuanhaalkaloide bezeichnet werden. Bis zu 98 % des Alkaloidgemisches bestehen aus Cephaelin und Emetin (Methylcephaelin). Als Nebenalkaloide sind Psychotrin, O-Methylpsychotrin, Emetamin, Protoemetin, sowie die iridoiden Isochinolinglucoside Ipecosid, Neoipecosid und 7-Methylneoipecosid enthalten. In den Stängeln ist die Alkaloidkonzentration niedriger; die Samen sind alkaloidfrei. Daneben sind in der Droge ca. 30 bis 40 % Stärke und 3 bis 4 % saure Saponine (Ipecacuanhasäure) enthalten.[1]
Arzneidrogen
Die Droge Ipecacuanhawurzel (Ipecacuanhae radix) wird aus den zerkleinerten und getrockneten unterirdischen Organen der 3- bis 4-jährigen Pflanzen hergestellt und enthält mindestens 2,0 % Gesamtalkaloide. Ipecacuanhapulver (Ipecacuanhae pulvis normatus) ist pulverisierte Ipecacuanhawurzel. Der Alkaloidgehalt wird auf 1,9 bis 2,1 % Gesamtalkaloide eingestellt. Die homöopathischen Urtinkturen von Cephaelis ipecacuanha hom. HAB 1 und Cephaelis ipecacuanha hom. PF X werden auf 0,14 bis 0,18 % bzw. 0,07 bis 0,15% Gesamtalkaloide eingestellt.[1] Der Gesamtalkaloidgehalt wird anhand der Emetin-Konzentration ermittelt.
Wirkmechanismus
Cephaelin und Emetin lösen Erbrechen sowohl durch periphere als auch durch zentrale Mechanismen aus. Emetin stimuliert sensorische Rezeptoren des Nervus vagus in der Magenschleimhaut, sodass das Brechzentrum im Gehirn aktiviert wird. Emetin und Cephaelin stimulieren aber auch direkt Chemorezeptoren der Triggerzone in der Area postrema des Gehirns.[2]
Pharmakokinetik
Emetin wird nach oraler Aufnahme zu ca. 20 % resorbiert. Erbrechen tritt in der Regel 15 bis 30 Minuten nach der Einnahme auf. Die meisten Patienten erbrechen zwei- bis dreimal innerhalb von 30 Minuten. Emetin wird in der Leber geringfügig metabolisiert und mit einer Halbwertzeit von ein bis zwei Tagen nur langsam renal eliminiert. Deshalb besteht bei wiederholter Einnahme von mehr als 1 mg/kgKG proTag Kumulationsgefahr.[3][4]
Indikationen
Klinische Studien haben den Nutzen von Brecherregendem Sirup (NRF 19.1) als alleinige Maßnahme zur primären Giftentfernung nicht bestätigt, selbst wenn er weniger als 60 Minuten nach der Einnahme des Giftes verabreicht wurde. Die Anwendung sollte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn ein bewusstseinsklarer und kooperativer Patient eine potenziell vital bedrohliche Dosis eines Giftes eingenommen hat. Die Anwendung hat durch den Arzt oder unter direkter ärztlicher Aufsicht zu erfolgen. Von medizinischen Laien soll Erbrechen nur im Notfall nach Rücksprache mit dem Arzt oder mit einem Giftinformationszentrum ausgelöst werden.[2][3]
siehe auch Induziertes Erbrechen
Die Anwendung von Zubereitungen der Brechwurzel ist weder vom Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel (HMPC der EMA) noch von der ESCOP bewertet worden und ist heute (2023) aufgrund des schlechten Nutzen-Risiko-Verhältnisses obsolet.
In der Homöopathie wird die Brechwurzel in Kombination mit anderen Drogen als Expektorans und bei Magen-Darm-Beschwerden eingesetzt. Hierfür gibt es jedoch keine klinische Evidenz. Anwendungsformen, bei denen der Patient selbst dosiert, sind nicht empfohlen.
Darreichungsform
Das Europäische Arzneibuch enthält folgende Ipecacuanha-Zubereitungen:
- Eingestellter Ipecacuanhafluidextrakt
- Eingestellte Ipecacuanhatinktur
Als Lösungsmittel sind für den Fluidextrakt Ethanol 80%ig, für die Tinktur Ethanol 70%ig vorgegeben.[1] Ein Milliliter Brecherregender Sirup (NRF 19.1) enthält 70 mg eingestelltsn Ipecacuanhafluidextrakt (entsprechend mindestens 1,26 mg bis höchstens 1,54 mg Gesamtalkaloide, berechnet als Emetin).[3]
Dosierung
Brecherregender Sirup (NRF 19.1) wird wie folgt dosiert:[3]
- Kinder vom 6. bis 12. Lebensmonat: 5 ml
- Kinder im Alter von 1 bis 2 Jahren: 10 ml
- Kinder im Alter von 2 bis 3 Jahren: 20 ml
- Kinder älter als 3 Jahre, Jugendliche, Erwachsene: 30 ml
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Reichliche Flüssigkeitszufuhr (150–250 ml, in Form von Wasser, Säften oder Tee) nach Verabreichung des Brecherregenden Sirups (NRF 19.1) wird empfohlen, damit im Schwall erbrochen werden kann. Tritt nach 20 bis 30 Minuten kein Erbrechen ein, kann die gleiche Dosis noch einmal gegeben werden. Danach darf keine weitere Verabreichung erfolgen.[3]
Nebenwirkungen
Bei der Anwendung von Brecherregendem Sirup (NRF 19.1) können folgende unerwünschte Wirkungen auftreten:[2][3]
- rezidivierendes oder unstillbares Erbrechen über mehr als eine halbe bis eine Stunde
- Aspiration von Erbrochenem
- Ösophagitis, Perforation des Ösophagus mit Pneumomediastinum und Pneumoperitoneum
- Mallory-Weiss-Syndrom
- Magenruptur
- Diarrhö mit Dehydratation, Elektrolytstörung
- Vigilanzstörung
Kontraindikationen
Die Anwendung von Brecherregendem Sirup (NRF 19.1) ist kontraindiziert,[2][3]
- wenn die Schutzreflexe der Atemwege des Patienten beeinträchtigt sind (einschließlich Koma und Krämpfen),
- wenn der Patient eine Substanz eingenommen hat, die die Schutzreflexe der Atemwege beeinträchtigen könnte,
- wenn voraussichtlich innerhalb von 60 Minuten erweiterte lebenserhaltende Maßnahmen erforderlich sind,
- wenn es sich um die Ingestion von Kohlenwasserstoffen (Aspirationsgefahr) oder ätzenden Substanzen (Säure oder Lauge) handelt,
- bei Kindern vor dem 6. Lebensmonat,
- bei geschwächten, älteren Patienten oder bei Patienten, deren Gesundheitszustand durch das Erbrechen weiter beeinträchtigt werden kann.
Missbrauch
Es sind Fälle von Missbrauch bei Anorexia nervosa und Bulimie beschrieben worden, die zu einer chronischen Vergiftung geführt haben.[4]
Toxikologie
Bereits bei zweimaliger Verabreichung, vor allem aber bei chronischer Einnahme kann es zu kardiotoxischen Wirkungen kommen. Es kann zu einer potentiell tödlichen Kardiomyopathie mit Herzrhythmusstörungen (Kammerflimmern, Herzstillstand) kommen. Zusätzlich sind neuromuskuläre Störungen im Sinne eine peripheren Neuropathie mit Muskelschwäche und Rigor beschrieben worden.[4]
siehe auch Emetin
Geschichte
Die Droge kam im 17. Jahrhundert nach Europa. Der deutsche Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und der französische Arzt Claude-Adrien Helvétius (1715–1771) trugen zu ihrer Verbreitung bei. Die Bezeichnung „Ruhrwurzel“ bezieht sich auf damalige die Behandlung der Dysenterie (Ruhr) mit dieser Droge.
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 HagerROM 2022. Enzyklopädie der Arzneistoffe und Drogen. Stuttgart : Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2022, abgerufen am 19.05.2023
- ↑ 2,0 2,1 2,2 2,3 Krenzelok EP et al. Position statement: ipecac syrup. AACT; EAPCCT. J Toxicol Clin Toxicol. 1997
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 Neues Rezeptur-Formularium (DAC/NRF), Tabellen für die Rezeptur 2022, Stand 2022/2, abgerufen am 19.05.2023
- ↑ 4,0 4,1 4,2 Ellenhorn MJ, Barceloux DG. Medical toxicology : diagnosis and treatment of human poisoning. New York : Elsevier 1988
Literatur
- Teuscher E, Lindequist U. Biogene Gifte. 3. Aufl., Stuttgart : Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2010
Weblinks
- Pharmacopoea Europaea, abgerufen am 19.05.2023
- PharmaWiki - Ipecacuanha, abgerufen am 19.05.2023
- PTA-Forum Arzneipflanzen - Brechwurz, mit Abbildung, abgerufen am 19.05.2023