Diffuse axonale Verletzung
Synonyme: diffuse axonale Schädigung, diffuser Axonschaden, diffuses axonales Trauma, "Scherverletzung", diffuses axonales Schädelhirntrauma
Englisch: diffuse axonal injury, DAI, traumatic axonal stretch injury, traumatic axonal injury, TAI
Definition
Diffuse axonale Verletzung, kurz DAI, beschreibt ein pathophysiologisches bzw. histologisches Merkmal, das im Rahmen eines Schädelhirntraumas (SHT) auftreten kann.
Epidemiologie
Nach kortikalen Kontusionsblutungen ist die DAI die zweithäufigste Hirnparenchymläsion bei einem Schädel-Hirn-Trauma. Sie tritt bei etwa 50 % der schweren SHT auf und ist eine Hauptursache für eine Bewusstlosigkeit und ein apallisches Syndrom. Bei fast allen tödlich verlaufenden SHT liegt eine DAI vor.
Ätiopathogenese
Ursächlich für eine diffuse axonale Verletzung sind Akzelerations- bzw. Dezelerationsbewegungen mit gleichzeitiger rotatorischer Komponente. Diese Scherverletzungen treten typischerweise bei Autounfällen sowie beim Shaken-Baby-Syndrom auf.
Die Scherverletzungen entstehen insbesondere an Stellen, wo Gewebe unterschiedlicher Konsistenz und Festigkeit aneinander grenzen. Der Kortex bewegt sich mit einer anderen Geschwindigkeit als die darunterliegenden Hirnstrukturen. Dies führt zu einer axonalen Dehnung, insbesondere an der subkortikalen Mark-Rinden-Grenze (v.a. frontotemporal). Ebenfalls häufig sind Corpus callosum (v.a. Splenium), Fornix, Stammganglien und Capsula interna betroffen. Mittelhirn und Pons sind seltener beteiligt.
Pathophysiologie
Bei der DAI kommt es primär zur Dehnung von Axonen. Echte Scherverletzungen mit Unterbrechung von Axonen sind eher selten. Pathophysiologisch führt die Dehnung der Axone während der Verletzung zu einem proteolytischen Abbau des axonalen Zytoskeletts und zu einem Anstieg der intrazellulären Calciumkonzentration. Die Folge ist eine Aktivierung u.a. von Phospholipasen und Calpain, was eine weitere Schädigung des Zytoskeletts sowie der Mitochondrien in Gang setzt.
In der Folge kommt es zu einem Rückzug der geschädigten Axone mit proximaler Axonschwellung ("Retraction Ball", ARB), was mikroskopische Lücken in der weißen Substanz hinterlässt. Bei der diffusen vaskulären Verletzung, der Maximalform der DAI, sind auch makroskopisch kleine runde oder lineare Blutungen erkennbar. 80 % der DAI sind jedoch nicht-hämorrhagisch. Weiterhin entsteht ein zytotoxisches Ödem sowie ausgedehnte Veränderungen der Hirnperfusion. Frühestens nach 6 Wochen degeneriert das distale Axonstück (Waller-Degeneration). Außerdem finden sich Ablagerungen vom Tau-Protein und Amyloid-Precursor-Protein (APP).
Klassifikation
Die DAI wird in drei Schweregrade eingeteilt:
- Grad I: nur mikroskopisch nachweisbare Verletzung
- Grad II: makroskopisch sichtbare Verletzung (v.a. des Corpus callosum)
- Grad III: zusätzlich makroskopisch sichtbare Verletzung im Bereich des rostralen Hirnstamms
...nach Adams und Gennarelli
Die Klassifizierung nach Adams und Gennarelli definiert leichte, mittelschwere und schwere Grade von Schädel-Hirn-Traumata:
- Bei einem leichten Schädel-Hirn-Trauma sind Läsionen an den Grenzflächen zwischen grauer und weißer Substanz im Frontotemporalbereich vorhanden.
- Ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma betrifft die lobäre weiße Substanz und das Corpus callosum.
- Bei schweren Schädel-Hirn-Traumata finden sich Läsionen im dorsolateralen Mittelhirn und in der oberen Pons.
Mehr als die Hälfte aller SHTs mit DAI werden als mittelschwer bis schwer eingestuft.
Klinik
Ein DAI führt häufig zu einem sofortigen Bewusstseinsverlust, der vorübergehend sein kann oder bis zum Koma fortschreitet. Die DAI selbst führt zwar selten zum Tod, kann aber ein apallisches Syndrom bedingen. Liegt ein posttraumatisches Koma von mindestens 6 Stunden nach einem Schädel-Hirn-Trauma vor, ohne Nachweis eines Masseneffekts in der Bildgebung, ist klinisch von einer DAI auszugehen. Die Prognose korreliert mit der Anzahl und dem Schweregrad der Läsionen sowie mit dem Vorhandensein anderer Begleitverletzungen wie kortikalen Kontusionen und Herniationssyndromen.
Diagnostik
Radiologie
Patienten mit DAI weisen häufig eine deutliche Diskrepanz zwischen Symptomatik und den anfänglich oft normalen Bildgebungsbefunden auf.
Computertomographie
In der Computertomographie (CT) zeigen sich anfangs keine oder nur sehr diskrete Auffälligkeiten. Gegebenenfalls findet sich einige kleine, rundliche, hyperdense Einblutungen an den genannten Prädilektionsstellen. In 10 bis 20 % entwickelt sich die Mikroblutung zu einer fokalen raumfordernden Blutung. Häufiger sind nichthämorrhagische, hypodense Läsionen, die ein oft überproportionales Perifokalödem aufweisen. Die CT ist besonders nützlich, um Komorbiditäten zu detektieren. Liegt gleichzeitig keine traumatische Subarachnoidalblutung vor, ist eine schwere DAI unwahrscheinlich. In Abwesenheit einer intraventrikulären Blutung ist eine DAI generell unwahrscheinlich.
Magnetresonanztomografie
Die Magnetresonanztomografie (MRT) hat beim Nachweis einer diffusen axonalen Verletzung eine deutlich höhere Sensitivität als die CT, wobei viele Läsionen ebenfalls nicht detektierbar sind. In der MRT finden sich folgende Befunde:
- T1w: meist normal. Bei > 1 cm großen hämorrhagischen Läsionen hyperintens für 3 bis 14 Tage.
- T2w und FLAIR: Hyperintense Foci, die meist 5 bis 15 mm groß sind und oft eine in Längsrichtung der Nervenfasern gelegene, ovale oder elliptische Form aufweisen. Bei hämorrhagischer Läsion hypointens.
- T2*: Nachweis von < 15 mm großen, eiförmigen und linearen, hypointensen Mikroblutungen, wobei die SWI sensitiver als die GRE ist. Die Suszeptibilitätsartefakte können für Jahre persistieren.
- DWI: ggf. Foki mit eingeschränkter Diffusion
Mit der Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI) können auch kleine DAI nachgewiesen werden. Die funktionelle MRT (fMRT) ermöglicht die Visualisierung der Funktionsbeeinträchtigung der Axone, die verminderte Perfusion und gestörte metabolische Aktivität der betroffenen Gehirnareale. In der MR-Spektroskopie zeigt sich eine Abnahme von N-Acetylaspartat (NAA) bei erhöhtem Cholin-Peak.
Nuklearmedizin
- PET: Hypometabolismus in Gyrus cinguli, Gyrus lingualis und Cuneus.
- SPECT: ggf. fokale Perfusionsstörungen
Differenzialdiagnosen
Im Gegensatz zu den hämorrhagischen Läsionen einer DAI sind kortikale Kontusionsblutungen typischerweise oberflächlich entlang der Gyri zu finden. Multifokale Suszeptibilitätsartefakte in der T2*-Sequenz finden sich bei der diffusen vaskulären Verletzung, bei Lufteinschlüssen im Subarachnoidalraum (Pneumozephalus) sowie bei zerebraler Amyloidangiopathie und chronischer hypertensiver Enzephalopathie. Kavernöse Malformationen Typ 4 nach Zabramski sind ebenfalls als hypointense Punkte in der T2*-Sequenz erkenbar.
Therapie
Es existiert derzeit (2022) keine kausale Therapie. Entscheidend ist das Management des Hirndrucks.
um diese Funktion zu nutzen.