Isovalerianazidurie
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Definition
Die Isovalerianazidurie ist eine seltene autosomal-rezessive Stoffwechselerkrankung aus der Gruppe der organischen Azidurien. Sie wird durch einen Defekt des Enzyms Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase verursacht, das am Abbau der verzweigtkettigen Aminosäure Leucin beteiligt ist. Die Erkrankung führt zur Akkumulation von Isovaleriansäure und deren Metaboliten.
Epidemiologie
Die Isovalerianazidurie ist sehr selten mit einer geschätzten Inzidenz von etwa 1:100.000 bis 1:400.000 Lebendgeburten in Europa und Nordamerika. In bestimmten Populationen mit erhöhter Konsanguinität kann die Frequenz höher sein. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Durch das Neugeborenenscreening wird die Erkrankung zunehmend früher erkannt.
Ätiologie
Die Isovalerianazidurie wird durch Mutationen im IVD-Gen (Genlocus 15q14-q15) verursacht, das für die Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase kodiert. Als autosomal-rezessive Erkrankung tritt sie nur bei Homozygotie auf,heterozygote Anlageträger sind klinisch gesund. Mehr als 50 verschiedene Mutationen im IVD-Gen sind bekannt, die zu unterschiedlichen Schweregraden der Enzymdefizienz führen können.
Pathophysiologie
Bei der Isovalerianazidurie ist der Leucinabbau in den Mitochondrien gestört. Die Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase katalysiert normalerweise die Umwandlung von Isovaleryl-CoA zu 3-Methylcrotonyl-CoA. Bei Enzymdefekt akkumuliert Isovaleryl-CoA, das zu Isovaleriansäure hydrolysiert wird. Zusätzlich entstehen alternative Metabolite wie Isovalerylglycin und 3-Hydroxyisovaleriansäure. Die Akkumulation dieser toxischen Substanzen führt zu metabolischer Azidose, Hyperammonämie und neurotoxischen Effekten. Die charakteristische Schweißgeruch-artige Ausdünstung entsteht durch die flüchtige Isovaleriansäure.
Verlaufsformen
Akute neonatale Form: Manifestation in den ersten Lebenstagen mit Trinkschwäche, Erbrechen, Lethargie, Hypotonie und metabolischer Azidose. Unbehandelt rasche Progredienz zu Koma, Krampfanfällen und Tod. Charakteristischer "Schweißfußgeruch".
Chronisch-intermittierende Form: Manifestation nach dem Neugeborenenalter mit rezidivierenden Krisen, ausgelöst durch Infekte, proteinreiche Ernährung oder Fasten. Zwischen den Krisen können die Patienten asymptomatisch sein oder unspezifische Symptome wie Gedeihstörung, Entwicklungsverzögerung oder Muskelschwäche zeigen.
Latente Form: Einige Patienten bleiben asymptomatisch oder entwickeln nur bei extremer metabolischer Belastung leichte Symptome.
Diagnostik
Neugeborenenscreening
In vielen Ländern ist die Isovalerianazidurie Teil des erweiterten Neugeborenenscreenings mittels Tandem-Massenspektrometrie. Erhöhte Acylcarnitin-Werte im Trockenblut sind hinweisend.
Bestätigungsdiagnostik
- Urindiagnostik: Detektion der Isovaleriansäure
- Plasma: Erhöhtes Isovalerylcarnitin
- Aminosäurenanalyse (erhöhtes Glycin möglich)
- Enzymaktivitätsmessung: Messung der Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase-Aktivität (in Fibroblasten möglich)
- Molekulargenetische Diagnostik: Mutationsnachweis im IVD-Gen zur Diagnosesicherung und genetischen Beratung
Akutdiagnostik bei metabolischer Krise
- Blutgasanalyse: Metabolische Azidose mit vergrößerter Anionenlücke
- Ammoniak: Hyperammonämie
- Geruch: Charakteristischer Schweißgeruch
Therapie
Akuttherapie bei metabolischer Krise
- Sofortige Hospitalisierung mit intensivmedizinischer Überwachung
- Stopp der Proteinzufuhr (für 24-48 Stunden)
- Hochkalorische Glukoseinfusion zur Unterdrückung des Katabolismus
- Aggressive Hydrierung zur Förderung der renalen Ausscheidung toxischer Metabolite
- L-Carnitin intravenös (Bindung von Isovaleryl-CoA zu Isovalerylcarnitin zur renalen Elimination)
- Glycin (konjugiert mit Isovaleriansäure zu Isovalerylglycin)
- Korrektur der metabolischen Azidose mit Natriumbikarbonat
- Behandlung der Hyperammonämie (Hämodialyse bei therapierefraktärer Hyperammonämie)
Langzeittherapie
Diätetische Maßnahmen: Leucin-arme, proteinreduzierte Diät, ggf. Verwendung spezieller leucinarmer Aminosäurenmischungen, Vermeidung längerer Nüchternphasen
Medikamentöse Dauertherapie:
- L-Carnitin (Dauergabe zur Entgiftung)
- Glycin (Dauergabe zur Konjugation)
Notfallmanagement
Patienten und Angehörige sollten einen Notfallausweis erhalten mit detailliertem Notfallprotokoll:
- Bei Infekten, Erbrechen oder Nahrungsverweigerung: Sofortige hochkalorische Glukosezufuhr
- Frühe ärztliche Vorstellung bei Krankheit
- Vermeidung längerer Fastenperioden
- Strikte Einnahme von Carnitin und Glycin auch bei Krankheit
Komplikationen
- Metabolische Entgleisungen mit Azidose und Hyperammonämie
- Neurologische Langzeitschäden bei wiederholten oder prolongierten Krisen
- Entwicklungsverzögerung und intellektuelle Beeinträchtigung
- Pankreatitis (selten)
- Kardiomyopathie (sehr selten)
Prognose
Die Prognose hat sich durch Neugeborenenscreening und frühzeitige Behandlung deutlich verbessert:
- Bei früher Diagnose und konsequenter Therapie: Viele Patienten entwickeln sich normal oder nahezu normal
- Neonatale schwere Verläufe: Höheres Risiko für neurologische Folgeschäden, auch bei Behandlung
- Chronisch-intermittierende Form: Bei guter Compliance meist günstige Prognose
- Unbehandelt: Hohe Mortalität (bis 50% in der Neugeborenenperiode)
- Langzeitprognose: Abhängig von Häufigkeit und Schwere metabolischer Krisen sowie Therapietreue
Lebensbedrohliche Krisen können auch bei guter Einstellung auftreten, insbesondere bei Infekten oder anderen Stressoren.
Genetische Beratung
- Autosomal-rezessiver Erbgang: 25% Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften
- Pränataldiagnostik möglich durch Mutationsanalyse oder Enzymaktivitätsmessung in Chorionzotten oder Amniozyten
- Genetische Beratung für betroffene Familien empfohlen, Screening von Geschwistern sinnvoll
Differentialdiagnosen
Andere organische Azidurien und Stoffwechselerkrankungen müssen abgegrenzt werden:
- Andere Leucinabbau-Störungen (z.B. 3-Methylcrotonylglycinurie)
- Propionazidurie und Methylmalonazidurie
- Glutarazidurie Typ II
- Multiple Acyl-CoA-Dehydrogenase-Defizienz (MADD)