Isovalerianazidurie
Synonym: Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase-Mangel
Englisch: isovaleric acidemia
Definition
Die Isovalerianazidurie, kurz IVA, ist eine seltene autosomal-rezessive Stoffwechselerkrankung aus der Gruppe der Organoazidurien. Sie wird durch einen Defekt des Enzyms Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase verursacht, das am Abbau der verzweigtkettigen Aminosäure Leucin beteiligt ist. Die Erkrankung führt zur Akkumulation von Isovaleriansäure und deren Metaboliten.
Epidemiologie
Die Isovalerianazidurie ist sehr selten, mit einer geschätzten Prävalenz von etwa 1:94.000 Lebendgeburten in Deutschland bis 1:250.000 Nordamerika. In bestimmten Populationen mit erhöhter Konsanguinität kann die Frequenz höher sein. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen. Durch das Neugeborenenscreening wird die Erkrankung zunehmend früher erkannt.[1][2][3]
Ätiologie
Die Isovalerianazidurie wird durch Mutationen im IVD-Gen (Genlocus 15q14-q15) verursacht, das für die Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase kodiert. Als autosomal-rezessive Erkrankung tritt sie nur bei Homozygotie auf, heterozygote Anlageträger sind klinisch gesund. Mittlerweile (2026) sind mehr als 50 verschiedene Mutationen im IVD-Gen bekannt, die zu unterschiedlichen Schweregraden der Enzymdefizienz führen können.
Pathogenese
Die Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase katalysiert die Umwandlung von Isovaleryl-CoA zu 3-Methylcrotonyl-CoA. Bei der Isovalerianazidurie ist der Leucinabbau in den Mitochondrien gestört. Durch Enzymdefekt akkumuliert Isovaleryl-CoA, das zu Isovaleriansäure hydrolysiert wird. Zusätzlich entstehen alternative Metabolite wie Isovalerylglycin, Isovaleryncarnitin und 3-Hydroxyisovaleriansäure. Die Akkumulation dieser toxischen Substanzen führt zu metabolischer Azidose, Hyperammonämie und neurotoxischen Effekten. Die charakteristische schweißgeruchartige Ausdünstung entsteht durch die flüchtige Isovaleriansäure.
Symptome
Die Symptomatik ist abhängig vom Krankheitsverlauf:
Akute neonatale Form
Manifestation in den ersten Lebenstagen mit Trinkschwäche, Erbrechen, Lethargie, Hypotonie und metabolischer Azidose. Unbehandelt kommt es zur raschen Progredienz mit Koma, Krampfanfällen und letztlich tödlichem Verlauf. Charakteristisch ist ein "Schweißfußgeruch".
Chronisch-intermittierende Form
Manifestation nach dem Neugeborenenalter mit rezidivierenden Krisen, ausgelöst durch Infekte, proteinreiche Ernährung oder Fasten. Zwischen den Krisen können die Patienten asymptomatisch sein oder unspezifische Symptome wie Gedeihstörung, Entwicklungsverzögerung oder Muskelschwäche zeigen.
Latente Form
Einige Patienten bleiben asymptomatisch oder entwickeln nur bei extremer metabolischer Belastung leichte Symptome.
Komplikationen
- Metabolische Entgleisungen mit Azidose und Hyperammonämie
- Neurologische Langzeitschäden bei wiederholten oder prolongierten Krisen
- Entwicklungsverzögerung und intellektuelle Beeinträchtigung
- Pankreatitis (selten)
- Kardiomyopathie (sehr selten)
Diagnostik
Neugeborenenscreening
In vielen Ländern ist die Isovalerianazidurie Teil des erweiterten Neugeborenenscreenings mittels Tandem-Massenspektrometrie. Erhöhte Isovalerylcarnitin-Werte im Trockenblut sind hinweisend.
Bestätigungsdiagnostik
- Urindiagnostik: Detektion der Isovaleriansäure
- Plasma: Erhöhtes Isovalerylcarnitin
- Aminosäurenanalyse (erhöhtes Glycin möglich)
- Enzymaktivitätsmessung: Messung der Isovaleryl-CoA-Dehydrogenase-Aktivität (in Fibroblasten möglich)
- Molekulargenetische Diagnostik: Mutationsnachweis im IVD-Gen zur Diagnosesicherung und genetischen Beratung
Akutdiagnostik bei metabolischer Krise
- Blutgasanalyse: metabolische Azidose mit vergrößerter Anionenlücke
- Hyperammonämie
- charakteristischer Schweißgeruch
Differentialdiagnosen
Andere organische Azidurien und Stoffwechselerkrankungen müssen abgegrenzt werden:
- Andere Leucinabbau-Störungen (z.B. 3-Methylcrotonylglycinurie)
- Propionazidurie und Methylmalonazidurie
- Glutarazidurie Typ II
- Multiple Acyl-CoA-Dehydrogenase-Defizienz (MADD)
Therapie
Akuttherapie bei metabolischer Krise
Bei einer metabolischen Krise ist eine sofortige Hospitalisierung mit intensivmedizinischer Überwachung erforderlich. Die Proteinzufuhr wird für 24 bis 48 Stunden pausiert, während gleichzeitig eine hochkalorische Glukoseinfusion zur Unterdrückung des Katabolismus erfolgt. Eine großzügige Volumentherapie unterstützt die renale Elimination toxischer Metabolite. Therapeutisch wird intravenös L-Carnitin verabreicht, das Isovaleryl-CoA zu Isovalerylcarnitin bindet und dessen renale Ausscheidung erleichtert. Zusätzlich wird Glycin gegeben, das mit Isovaleriansäure zu Isovalerylglycin konjugiert. Eine bestehende metabolische Azidose wird im Einzelfall z.B. mittels Natriumbikarbonat korrigiert. Bei einer schweren oder therapierefraktären Hyperammonämie kann eine Hämodialyse notwendig werden.
Langzeittherapie
Diätetische Maßnahmen umfassen eine leucin-arme, proteinreduzierte Ernährung, gegebenenfalls unter Verwendung spezieller leucinarmer Aminosäurenmischungen, sowie die Vermeidung längerer Nüchternphasen. Bei asymptomatischen Verläufen ist keine standardmäßige diätetische Therapie notwendig.[3]
Zusätzlich erfolgt eine Dauergabe von L-Carnitin zur Entgiftung und von Glycin zur Konjugation überschüssiger Isovaleriansäure. Ein strukturiertes Notfallmanagement ist essenziell: Patienten und Angehörige sollten einen Notfallausweis mit detailliertem Krisenprotokoll erhalten. Bei Infekten, Erbrechen oder Nahrungsverweigerung ist eine sofortige hochkalorische Glukosezufuhr erforderlich. Zudem wird eine frühe ärztliche Vorstellung empfohlen. Längere Fastenperioden sind strikt zu vermeiden, und die kontinuierliche Einnahme von Carnitin und Glycin muss auch während Krankheitsphasen gewährleistet sein.
Humangenetische Beratung
Für betroffene Familien wird eine humangenetische Beratung empfohlen, und auch ein Screening von Geschwistern ist sinnvoll, um eine frühzeitige Diagnosestellung zu ermöglichen. Die Vererbung erfolgt autosomal-rezessiv, sodass bei weiteren Schwangerschaften ein Wiederholungsrisiko von 25 % besteht. Eine pränatale Diagnostik ist möglich und kann entweder mittels Mutationsanalyse oder durch die Bestimmung der Enzymaktivität in Chorionzotten oder Amniozyten durchgeführt werden.
Prognose
Die Prognose der Isovalerianazidurie hat sich durch das Neugeborenenscreening und eine frühzeitige Behandlung deutlich verbessert. Bei Patienten, die früh diagnostiziert werden und eine konsequente Therapie erhalten, ist eine normale oder nahezu normale Entwicklung häufig möglich. Schwere neonatale Verlaufsformen sind jedoch trotz Behandlung mit einem höheren Risiko für neurologische Folgeschäden verbunden. Bei der chronisch-intermittierenden Form ist die Prognose bei guter Compliance meist günstig. Unbehandelt besteht insbesondere im Neugeborenenalter eine hohe Mortalität. Lebensbedrohliche Entgleisungen können auch unter guter Einstellung auftreten, insbesondere bei Infekten oder anderen metabolischen Stressoren.
Quellen
- ↑ Orphanet: Isovalerianazidämie, zuletzt abgerufen am 09.12.2025
- ↑ European registry and network for Intoxication type metabolic diseases (EIMD): Isovaleric acidemia, zuletzt abgerufen am 09.12.2025
- ↑ 3,0 3,1 Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) und Deutsche Gesellschaft für Neugeborenen-Screening (DGNS). S2k-Leitlinie Neugeborenen-Screening auf angeborene Stoffwechselstörungen, Endokrinopathien, schwere kombinierte Immundefekte (SCID), Sichelzellkrankheit, 5q-assoziierte spinale Muskelatrophie (SMA) und Mukoviszidose. Version 5.1 2025. Zuletzt abgerufen am 09.12.2025