Neugeborenenscreening
Synonyme: Früherkennung angeborener Stoffwechselerkrankungen, Neoscreening
Englisch: newborn screening (NBS)
Definition
Das Neugeborenenscreening ist eine Reihenuntersuchung von Neugeborenen, um angeborene Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien frühzeitig zu erkennen. Sie ist Teil der Postnataldiagnostik.
Hintergrund
Anhand des Screenings können Erkrankungen, die noch nicht klinisch sichtbar sind, frühzeitig diagnostiziert und ggf. effektiv behandelt werden. Seit 2005 ist das erweiterte Neugeborenenscreening eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und wird deutschlandweit durchgeführt. Innerhalb der Bundesländer kann der Ablauf und die Durchführung jedoch variieren.
Im Mai 2025 wurde durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eine Erweiterung des Neugeborenenscreenings um Vitamin-B12-Mangel sowie um die seltenen angeborenen Stoffwechselerkrankungen Homocystinurie, Propionazidämie und Methylmalonazidurie mit Umsetzung ab Mai 2026 beschlossen.[1]
Ziele
Getestet werden nur ausgewählte Erkrankungen, die sich mit hoher Sicherheit diagnostizieren lassen und für die eine Therapiemöglichkeit besteht. Nicht in allen Fällen können Krankheitsfolgen vollständig verhindert werden, jedoch ermöglicht eine rechtzeitige und angemessene Therapie den Patienten in den meisten Fällen eine weitgehend normale Entwicklung. Unbehandelt sind viele der angeborenen Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien mit einer hohen Morbidität und Mortalität verbunden. Dies zu verhindern, ist das Ziel des Neugeborenenscreenings.
Da das Neugeborenenscreening eine freiwillige medizinische Maßnahme ist, ist das Einverständnis der Eltern notwendig. Sie müssen über die Ziele, Inhalte und mögliche Folgen des Screenings angemessen informiert werden. Auch muss das Vorkommen falsch-positiver Ergebnisse mit den Eltern besprochen werden, um eine unnötige Verunsicherung und Belastung zu verringern.
Durchführung
Am 3. Lebenstag wird dem Neugeborenen Blut abgenommen, meist per Fersenstich. Das Blut wird auf vorgefertigte Filterpapierkarten in die dafür vorgesehenen Felder aufgetropft, eine Stunde lang getrocknet und noch am selben Tag an ein Screening-Labor verschickt. Eine genaue Dokumentation ist von großer Bedeutung. Wichtig ist die Beschriftung der Karten mit den Patientendaten und die vollständige und gleichmäßige Durchtränkung der Felder auf der Filterpapierkarte.
Sichere Ergebnisse sind erst ab einem Lebensalter von 36 Stunden möglich. Nach Entnahme liegen die Ergebnisse in der Regel innerhalb von 24 Stunden vor.
Das Screeningergebnis ist weitgehend unabhängig von der Ernährung oder der Einnahme von Medikamenten (z.B. Antibiotika), jedoch sollte die Probenentnahme vor einer Transfusion oder einer Behandlung mit Glukokortikoiden oder Dopamin erfolgen.
Zudem ist bei frühzeitiger Entlassung des Neugeborenen oder Verlegung in eine andere Institution unbedingt vorher das Neugeborenenscreening durchzuführen, um eine vollständige und flächendeckende Erfassung aller Neugeborenen in Deutschland sicherzustellen und ein rechtzeitiges Eingreifen bei ggf. vorhandenen Erkrankungen zu gewährleisten.
In folgenden Fällen ist eine Wiederholung des Screenings erforderlich:
- bei Entlassung vor der 36. Lebensstunde
- bei Frühgeborenen < 32. Schwangerschaftswoche
- nicht durchgeführtes Neugeborenenscreening
- Zweifel an der Durchführung des Neugeborenenscreenings
Die bei einem auffälligen Befund indizierte Zweituntersuchung sollte vom selben Screeninglabor durchgeführt werden, um riskante Informationslücken zu vermeiden.
Methoden
Die Untersuchung der Aminosäuren und Acylcarnitine erfolgt durch Tandem-Massenspektrometrie. Daneben kommen verschiedene Techniken zum Einsatz, beispielsweise enzymatische oder immunologische Testverfahren.
Zielerkrankungen
Deutschland
Zu den Erkrankungen, die das Spektrum des Neugeborenenscreenings in Deutschland umfasst, zählen:
Österreich
Zu den Erkrankungen, die das Spektrum des Neugeborenenscreenings in Österreich umfasst, zählen:[2][3][4]
| Erkrankung | Häufigkeit | Laborparameter |
|---|---|---|
| Adrenogenitales Syndrom (AGS) | 1/13.500 | 17-OH-Progesteron |
| Ahornsirupkrankheit | 1/150.000 | Leucin, Isoleucin, Valin |
| Biotinidasemangel | 1/60.000 | Biotinidase-Aktivität |
Carnitinstoffwechseldefekte:
|
1/1.500.000 - 1/900.000 | Palmitoyl-Carnitin, freies Carnitin, langkettige Acylcarnitine |
| Galaktosämie | 1/40.000 | Galaktose, GALT-Aktivität |
| Glutarazidurie Typ I | 1/80.000 | Glutarylcarnitin |
| Glutarazidurie Typ II (Acyl-CoA-Dehydrogenase (MAD)-Mangel (MADM)) | 1/250.000 | C4-C18-Acylcarnitin, Dicarboxylsäuren (Glutarsäure, Ethylmalonsäure), Glycinkonjugate[5] |
| angeborene Hypothyreose | 1/3.500 | TSH |
| Isovalerianazidämie | 1/60.000 | Isovalerycarnitin |
| LCHAD-Mangel (Long-Chain-Hydroxy-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel) | 1/80.000 | Hydroxyhexadecanoyl-Carnitin, Hydroxyoleyl-Carnitin |
| VLCAD-Mangel (Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel) | 1/80.000 | Tetradecanoyl- und Tetradecadienoyl-Carnitin |
| MCAD-Mangel (Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel) | 1/10.000 | Octanoylcarnitin |
| Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämie (HPA) | 1/10.000 | Phenylalanin, Phenylalanin/Tyrosin-Quotient |
| Tyrosinämie Typ I | 1/135.000 | Succinylaceton |
| Zystische Fibrose (Mukoviszidose) | 1/3.300 | Immunreaktives Trypsinogen |
| Vitamin-B12-Mangel | 1/5.300 | Vitamin B12 (Cobalamin) |
| Homocystinurie/Hypermethionämie | 1/300.000 | Homocystein |
| Propionazidämie | 1/100.000 | Propionyl-CoA und dessen Metabolite |
| Methylmalonazidurie | 1/55.000 | Methylmalonsäure |
| Argininbernsteinsäure-Krankheit (Arginin-Succinat-Lyase-Mangel) | 1/215.000 | Ammonium, Citrullin, Argininosuccinat |
| Citrullinämie | 1/40.000 | Citrullin, Ammoniak |
| MTP-Mangel | 1/200.000 | Hydroxyacyl-Carnitin, C6-C14-(Hydroxy)-Dicarboxylsäure[6] |
| Spinale Muskelatrophie (SMA)* | 1/10.000 | SMN1-Genanalyse |
| Schwerer kombinierter Immundefekt (SCID)* | 1/60.000 |
* seit Juni 2021 im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts
Konsequenz
Das Ergebnis des Neugeborenenscreenings ist keine definitive Diagnose. Es kann lediglich den Verdacht auf das Vorliegen einer Erkrankung lenken. Daher folgen in der Regel weitere Untersuchungen, um das Ergebnis durch verfeinerte Methoden zu bestätigen.
Weitere Screenings
Das Neugeborenenscreening auf angeborene Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien ist nicht das einzige Screening, das an Neugeborenen durchgeführt wird. Weitere Reihenuntersuchungen sind:
- Screening auf angeborene Hörstörungen
- Ultraschall-Untersuchung zum Ausschluss einer Hüftgelenksdysplasie
- Vorsorgeuntersuchungen ("U-Untersuchungen")
Leitlinie
Quellen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 Pharmezeutische Zeitung (PZ): G-BA weitet Neugeborenen-Screening aus, abgerufen am 28.05.2025
- ↑ Feichter M., Leitner, A. (2024). Neugeborenenscreening. in: netDoktor.at, abgerufen am 28.05.2025
- ↑ kinderaerzte-im-netz.at (2021): Österreichisches Neugeborenenscreening (ÖNGS) um spinale Muskelatrophie und schwere Immundefekte erweitert – ein kleiner Piks für die rechtzeitige Erkennung von 31 Krankheiten, abgerufen am 28.05.2025
- ↑ Kapelari, K. (2016). Das Neugeborenenscreening in Österreich [Vorlesungsfolien]. Medizinische Universität Innsbruck, abgerufen am 28.05.2025
- ↑ orpha.net: Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel, multipler, abgerufen am 28.05.2025
- ↑ orpha.net: Defekt des mitochondrialen trifunktionalen Proteins, abgerufen am 28.05.2025
Literatur
- Laborlexikon.de, abgerufen am 07.04.2021
- Stöcker W: Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik. Springer, Berlin, Heidelberg. 2019
- S2k-Leitlinie Neugeborenen-Screening auf angeborene Stoffwechselstörungen, Endokrinopathien, schwere kombinierte Immundefekte (SCID) und Mukoviszidose, Stand 2020, abgerufen am 11.10.2021