Anatomische Normvarianten des Felsenbeins
Definition
Als anatomische Normvarianten des Felsenbeins bezeichnet man angeborene, in der Bevölkerung unterschiedlich häufig vorkommende Abweichungen im Aufbau von Knochenstrukturen, Gefäßen und Nerven im Bereich der Pars petrosa ossis temporalis. Diese Varianten sind grundsätzlich nicht pathologisch, können aber in der Bildgebung auffallen, operative Zugänge erschweren oder bestimmte Symptome wie pulssynchronen Tinnitus bedingen.
Lokalisationen
Apex
- Aberrante Arteria carotis interna (ACI): Die ACI verläuft normalerweise durch den Canalis caroticus zusammen mit dem Plexus caroticus internus. Bei der seltenen Variante der aberranten ACI ist das zervikale Gefäßsegment kongenital nicht angelegt. Dadurch fehlt die Pars verticalis des Karotiskanals. Die Arterie erreicht das Mittelohr über einen erweiterten Canaliculus tympanicus inferior, durch den die Arteria tympanica inferior (Ast der Arteria pharyngea ascendens aus der Arteria carotis externa) in die Paukenhöhle eintritt und sich mit der Pars horizontalis der ACI verbindet. Radiologisch zeigt sich hierbei häufig ein dehiszenter knöcherner Karotiskanal und eine Lage der Arterie im Mittelohrraum.
- Pneumatisation: Die Felsenbeinspitze besteht in der Regel aus spongiösem Knochen mit Knochenmark. Eine Pneumatisierung, d.h. die Ausdehnung luftgefüllter Zellen in den Apex, findet sich in etwa 9 - 30 % der Fälle. Sie kann sehr variabel sein – von kleinen posterolateralen Zellen bis zur vollständigen Pneumatisierung des Apex. Ein asymmetrisches Auftreten wird in ca. 4 bis 7 % beschrieben. Pneumatisierte Felsenbeinspitzen können eine Ausbreitung entzündlicher oder obstruktiver Prozesse aus dem Mittelohr begünstigen.
- Verfettung: Neben der Pneumatisierung ist auch eine symmetrische oder asymmetrische fettige Knochenmarksveränderung des Apex möglich. Sie tritt häufiger auf und wird meist als radiologischer Zufallsbefund entdeckt. In der nativen CT finden sich niedrige Dichtewerte von etwa −90 bis −120 HU. In der MRT zeigt sich eine Hyperintensität in T1- und T2-gewichteten Sequenzen mit vollständiger Signalunterdrückung in fettunterdrückten Sequenzen (T2-FS, STIR) oder FLAIR-Sequenz.
- Zephalozele: Bei dieser seltenen Normvariante zeigt sich eine zystische Aufweitung mit Herniation des posterolateralen Anteils des Cavum Meckeli in den superomedialen Apex. Die Zephalozele ist mit Liquor gefüllt, von Dura und Arachnoidea ausgekleidet und kann Anteile des Nervus trigeminus enthalten. Sie tritt häufiger einseitig auf. Ein möglicher Zusammenhang mit einer Ausdünnung der Schädelbasis bei chronisch erhöhtem intrakraniellen Druck (z.B. Pseudotumor cerebri) wird diskutiert.
Vorderfläche
- Varianten am Dach des Mittelohrs: Mögliche anatomische Variationen umfassen eine fehlende Pneumatisierung, eine tiefere Lage des Paukenhöhlendachs sowie knöcherne Dehiszenzen. Diese Veränderungen können den Schutz zur mittleren Schädelgrube vermindern und dadurch eine Fortleitung von Infektionen per continuitatem in den intrakraniellen Raum begünstigen. Bei Vorliegen einer knöchernen Dehiszenz mit zusätzlichem Duradefekt kann es zu einer spontanen Otorhinoliquorrhö oder zu einem Liquortympanon kommen.
Hinterfläche
- Porus acusticus internus: In den meisten Fällen zeigt sich eine seitensymmetrische Weite des Porus acusticus internus. Abweichungen können sich in Form einer ampullären Erweiterung mit einem Durchmesser > 8 mm oder alternativ in Form einer deutlichen Stenose darstellen.
- Nervus facialis: verläuft normalerweise in einem bogenförmigen Verlauf. Nach Abgang des Nervus petrosus major zieht er medial der Paukenhöhle, bedeckt von einer dünnen Knochenlamelle. In der koronaren Ansicht befindet er sich im tympanalen Abschnitt oberhalb des ovalen Fensters. Anschließend verläuft er lateral und dorsal in den mastoidalen Abschnitt, nahezu senkrecht, und tritt schließlich durch das Foramen stylomastoideum aus. Anatomische Normvarianten des Nervus facialis ohne begleitende Fehlbildungen des Mittelohrs sind sehr selten. Wenn sie auftreten, handelt es sich meist um eine kaudale Verlagerung im tympanalen Abschnitt. Im Rahmen von Mittelohrfehlbildungen sind jedoch Lagevarianten häufiger beschrieben, u.a. ausgeprägte Verlagerungen im tympanalen Abschnitt in Verbindung mit einer Stenose des ovalen Fensters und des Stapes. Eine Dehiszenz des tympanalen oder mastoidalen Anteils des Nervus facialis wird in etwa 20–27 % der Fälle mit Cholesteatomen nachgewiesen. Bei Vorliegen einer solchen Dehiszenz besteht intraoperativ ein erhöhtes Risiko für Nervenverletzungen. Insgesamt werden folgende morphologische Varianten unterschieden:
- Kanalikulär: inferiore Position mit separatem knöchernen Kanal
- Labyrinthär: Kanalverdopplung mit Erweiterung des knöchernen Facialiskanals
- Tympanal: lateralisiert und dehiszent, mit vorzeitigem Eintritt in den mastoidalen Abschnitt
- Mastoidal: Verdopplung oder Dreiteilung, Lateralisierung und/oder ventrale Verlagerung
- Bulbus superior venae jugularis: Normalerweise überschreitet der Bulbus superior venae jugularis nicht die untere Begrenzung des hinteren Bogengangs im Innenohr oder des Hypotympanons nach kranial. Anatomische Normvarianten finden sich in etwa 6-24 % der Fälle und treten häufig asymmetrisch auf. Beim Bulbushochstand reicht dieser bis an den Meatus acusticus internus heran. Möglich ist eine Assoziation mit einer Dehiszenz des hinteren Bogengangs oder des Meatus acusticus internus. Bei der Lateralisierung ist der Bulbus nach lateral in das Mittelohr verlagert, häufig in Verbindung mit einem Megabulbus. Selten findet sich dabei eine pathologische Erweiterung der Fossa jugularis oder eine Beteiligung des Fazialiskanals im mastoidalen Abschnitt. Als Divertikel wird eine Aussackung der Bulbuswand in einem umschriebenen Abschnitt bezeichnet. Diese Variante kann asymptomatisch sein, aber auch pulsatile Beschwerden verursachen oder operative Zugangswege erschweren.
Processus mastoideus
- Pneumatisierung der Mastoidzellen: Die Pneumatisierung beginnt etwa in der 33. Schwangerschaftswoche und setzt sich bis ins Kindesalter (8.–9. Lebensjahr) fort. Das Antrum mastoideum als größte luftgefüllte Höhle erreicht um die 35. Schwangerschaftswoche seine endgültige Größe. Generell ist eine unterschiedlich ausgeprägte Pneumatisierung möglich – von deutlich reduziert bis hin zum vollständigen Fehlen, sowohl uni- als auch bilateral.
- Sinus sigmoideus: Varianten des Sinus sigmoideus sind insbesondere bei Operationen an den Mastoidzellen sowie bei der Abklärung von pulsatilem Tinnitus relevant. Es werden drei Hauptvarianten unterschieden:
- Lateralisierung: mit ausgedünnter äußerer knöcherner Bedeckung
- Ventrale Abweichung: Verlagerung in Richtung Mittelohr
- Divertikelbildung: umschriebene Aussackung der Sinuswand
- Vena emissaria mastoidea: Sie verläuft in einem spezifischen Knochenkanal (Emissarium mastoideum) unmittelbar hinter dem Processus mastoideus. Die Vene stellt eine Verbindung zwischen dem Sinus sigmoideus/transversus und den extrakraniellen Venen her. Sie kann seitenverschieden und variabel weit, teilweise auch mehrfach angelegt sein und stellt eine mögliche Eintrittspforte für Keimverschleppung von extrakraniell nach intrakraniell, ein erhöhtes Blutungsrisiko bei Operationen im Mittelohr oder bei retrosigmoidalem Zugangsweg und eine mögliche radiologische Fehlinterpretation als Fraktur dar.
- Persistierender Sinus petrosquamosus: Seltene embryonale Gefäßverbindung (Prävalenz ca. 1 %) zwischen intra- und extrakraniellen Venensystemen. Hat einen Ursprung am Sinus transversus am Übergang zum Sinus sigmoideus, verläuft über die laterale obere Fläche des Os temporale nach ventral und mündet in die Vena retromandibularis oder den Plexus pterygoideus.
- Persistierende Vena capitis lateralis: Embryonale venöse Verbindung, die durch die Pars petrosa zieht und zum Sinus petrosus superior bzw. Sinus sigmoideus drainiert. Aufgrund des Verletzungsrisikos ist sie wichtig bei Operationen am Kleinhirnbrückenwinkel mit retrosigmoidalem Zugang.
- Prominentes Körner-Septum (Lamina petrosquamosa): Knöcherne Lamelle innerhalb der Mastoidzellen, die diese in Kompartimente unterteilt. Hat seinen Ursprung an der Gelenkfläche an der Mastoidspitze und verläuft lateral und inferior des Canalis facialis oberhalb des Mittelohrs.
Mittelohr
- Tiefer Sinus tympani: Der Sinus tympani ist eine hintere Ausstülpung des Retrotympanons, gelegen medial der Eminentia pyramidalis, des Musculus stapedius und des Nervus facialis sowie lateral des hinteren Bogengangs und des Vestibulums. Ab einer Ausdehnung von mindestens 6 mm spricht man von einem tiefen Sinus tympani. Nach der Marchioni-Klassifikation wird die Tiefe anhand der Beziehung zum Nervus facialis in die Typen A bis C unterteilt. Ein tiefer Sinus tympani stellt aufgrund der eingeschränkten chirurgischen Zugänglichkeit ein relevantes Risiko für residuelle Cholesteatome dar.
- Arteria stapedia persistens: Die Arteria stapedia entsteht embryonal aus einem Ast der zweiten Kiemenbogenarterie und bildet sich normalerweise ab dem vierten Schwangerschaftsmonat zurück. Als seltene, meist einseitige Variante kann sie persistieren. Sie entspringt aus der Arteria carotis interna, verläuft durch den unteren Paukenhöhlenabschnitt entlang des Promontoriums und zieht in den tympanalen Abschnitt des Canalis facialis. In diesem Fall entstammt die Arteria meningea media aus der persistierenden Arteria stapedia, sodass das Foramen spinosum in der Schädelbasis fehlt. Radiologisch findet sich eine Aufweitung des tympanalen Fazialiskanals. Klinisch kann diese Variante durch pulssynchronen Tinnitus auffallen und ist bei Eingriffen am Mittelohr von Bedeutung.
Innenohr
- Stenose des runden Fensters: Stenosen des runden Fensters selbst oder Einengungen seiner Nische durch angrenzende Strukturen (z.B. durch Bulbushochstand) können den operativen Zugang oder das Einbringen eines Implantats deutlich erschweren. Zusätzlich ist zu beachten, dass die Morphologie der Nische sehr variabel sein kann. Sie kann flach, eng oder durch knöcherne Leisten überdacht sein, was den Zugang weiter erschwert. Radiologisch kann es außerdem schwierig sein, diese Normvarianten von pathologischen Veränderungen wie Verkalkungen oder knöchernen Dysplasien im Rahmen einer Otosklerose am runden Fenster zu unterscheiden.
- Aufgeweiteter Aquaeductus cochleae: Der Aquaeductus cochleae ist ein schmaler Knochenkanal im Canaliculus cochleae. Er verläuft von der basalen Windung der Cochlea bis zur Unterseite der Felsenbeinpyramide des Os temporale und verbindet so den Perilymphraum mit dem Subarachnoidalraum. Von einer Erweiterung spricht man ab einem Durchmesser von 2 mm am Operculum beziehungsweise ab 1 mm in der geometrischen Mitte zwischen Crus communis und Isthmus. Eine Erweiterung des Aquaeductus cochleae tritt nicht selten zusammen mit einem vergrößerten Vestibularaquädukt auf und kann mit einer schallinduzierten oder progredienten Innenohrschwerhörigkeit assoziiert sein (EVAS). Darüber hinaus gilt der erweiterte Aquaeductus cochleae als möglicher Eintrittspfad für Infektionen und ist deshalb auch im Zusammenhang mit einem erhöhten Meningitisrisiko von Bedeutung.
- Infracochleärer Canaliculus (infracochleärer Tunnel): Es handelt sich um einen luftgefüllten Kanal unterhalb des Promontoriums der Cochlea, der eine Verbindung zum Apex herstellt. Diese Normvariante ist vor allem bei der Anlage eines Cochlea-Implantats relevant, da er mit der Nische des runden Fensters verwechselt werden kann und dadurch eine Fehlplatzierung des Elektrodenträgers möglich ist.
- Prominenter Canaliculus subarcuatus: Der Canaliculus subarcuatus ist ein bis zu 2 mm messender, meist seitensymmetrischer Knochenkanal, der zwischen den beiden Schenkeln des superioren Bogengangs verläuft. In ihm verläuft in der Fetalzeit und im frühen Kindesalter die Arteria subarcuata, ein Ast der Arteria cerebelli inferior anterior (AICA). Postnatal kommt es in der Regel zur Obliteration dieses Kanals sowie zur Rückbildung der Arterie. Persistiert der Canaliculus, kann er sich vor allem bei Kindern erweitert und damit bildgebend prominent darstellen. In solchen Fällen ist eine Abgrenzung zu osteolytischen Läsionen wichtig.
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Fachgebiete:
Anatomie, Radiologie
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