Rheumatisches Fieber
Synonyme: Streptokokkenrheumatismus, akutes rheumatisches Fieber, ARF
Englisch: rheumatic fever
Definition
Das rheumatische Fieber, kurz RF, ist eine reaktive Erkrankung 1 bis 3 Wochen nach einer Infektion mit Streptokokken der Gruppe A (Lancefield-Klassifikation). Es führt zu einer abakteriellen Entzündung verschiedener Organsysteme.
Epidemiologie
Das rheumatische Fieber tritt bei unbehandelten Streptokokken-Infektion in etwa 3 % der Fälle auf. Erfolgt eine konsequente Antibiotikatherapie, ist das Auftreten sehr selten. Ereignet sich nach einem durchlebten RF eine Streptokokken-Reinfektion, kommt es in 50 % zu einem Rezidiv. Das typische Erkrankungsalter liegt zwischen dem 3. und 16. Lebensjahr. Erstmanifestationen sind bei Erwachsenen sehr selten.
Die Inzidenz in Industrienationen nimmt progredient ab, insbesondere aufgrund verbesserter hygienischer Bedingungen und Einführung von Antibiotika. Populationen mit niedrigem Risiko weisen eine jährliche Inzidenz von unter 2 pro 100.000 Kindern im Alter zwischen 5 und 14 Jahren auf bzw. eine Gesamtprävalenz von rheumatischen Herzerkrankungen in der Bevölkerung von unter 1 zu 1.000.[1]
In Deutschland kommen lediglich sporadische Fälle vor. In Entwicklungsländern bleibt das RF die häufigste Herzerkrankung bei Kindern. Schätzungen gehen von weltweit 15 bis 19 Millionen Menschen mit rheumatischer Herzerkrankung aus, von denen jährlich ungefähr 250.000 sterben. 95 % der Fälle von RF treten in Entwicklungsländern auf, insbesondere in der Subsahara sowie in Süd- und Zentralasien.
Risikofaktoren
Zu den bekannten Risikofaktoren zählen:
- Beengte Lebensumstände
- Armut
- Leben auf dem Land oder in einem städtischen Slum
- Schlechter Zugang zu medizinischer Versorgung
- Unzureichende Koordination im Gesundheitssystem
- Hereditäre Suszeptibilität: Vermutlich HLA-DR7, HLA-DR4 und weitere Polymorphismen
- Weibliches Geschlecht
Pathogenese
Nach einer akuten Tonsillitis oder Pharyngitis durch Streptococcus pyogenes können Bestandteile der Streptokokkenmembran – insbesondere das typenspezifische M-Protein – als Antigen wirken und die Produktion von Antikörpern stimulieren (Molekulare Mimikry): Kreuzreaktive Antikörper binden an Endothelzellen der Herzklappe und aktivieren das Adhäsionsmolekül VCAM-1. Dadurch werden aktivierte Lymphozyten rekrutiert und Endothelzellen lysiert. Dies führt zur Freisetzung von Laminin, Kreatin und Tropomyosin, die wiederum kreuzreagierende T-Zellen aktivieren, die in das Herz einwandern und den Schaden vergrößern.
Eine andere Hypothese postuliert, dass der anfängliche Schaden durch Invasion des Epithels durch Streptokokken entsteht. Dabei bindet das M-Protein an Kollagen Typ IV, sodass es ohne molekulare Mimikry immunogen wird.
Folgen der autoimmunen Reaktion sind:
- Kreuzreagierende antisarkolemmale Antikörper im Serum
- Antikörper, die am Myokard und Endokard gebunden sind
- Immunkomplexe, die zur Kapillarschädigung (Immunkomplexreaktion Typ III), zur Bildung von Aschoff-Knoten im Myokard und zur Endocarditis verrucosa führen
- zum Teil kreuzreagierende Antikörper gegen Nucleus caudatus und Nucleus subthalamicus (Chorea minor (Sydenham))
Als eigenständige Folgeerkrankung nach einem Streptokokkeninfekt wird die postinfektiöse Glomerulonephritis abgegrenzt. Die kann nicht nur nach einer Tonsillopharyngitis sondern auch nach einer Hautinfektion durch Streptokokken der Lancefield-Gruppe A auftreten. Hierbei kommt es zur Ablagerung von Immunkomplexen an der Basalmembran des Glomerulums.
Symptomatik
Das rheumatische Fieber ist wie die Syphilis ein medizinisches "Chamäleon". Es kann unter anderem Gelenke, Herz, Gehirn und die Haut betreffen. Tendenziell entwickeln Erwachsene eine Arthritis, Kinder und Jugendliche hingegen eine Karditis.
Das Latenzintervall bis zum Auftreten des RF beträgt 10 bis 20 Tage. Typische Allgemeinerscheinungen sind Fieber, Kopfschmerzen und Schwitzen.
Gelenke
Die Arthritis im Rahmen des rheumatischen Fiebers betrifft vor allem große Gelenke. Häufig sind das Sprunggelenk und das Kniegelenk betroffen. Die Arthritis tritt dabei zunächst asymmetrisch auf (ca. 10 Tage nach Infektion), springt aber später innerhalb von Stunden von Gelenk zu Gelenk (wandernde Polyarthritis) und verursacht starke Schmerzen. Im Verlauf kann es zu einer Ausbreitung von zentral nach peripher mit Beteiligung der Finger- und Zehengelenke kommen.
Herz
Bis zu 60 % der Patienten entwickeln eine rheumatische Herzerkrankung im Sinne einer Pankarditis. Je nach Überwiegen der Entzündung an Endokard, Myokard oder Perikard stehen klinisch verschiedene Symptome im Vordergrund. Histologisch fallen Histiozyten mit eulenartigen Nukleoli (Anitschkow-Zellen) und Aschoff-Knoten auf.
Typisch bei einer Beteiligung des Endokards ist die verruköse Endokarditis mit Antigen-Antikörper-Komplexen an den Rändern der Segel- und Taschenklappen. Die Mitralklappe ist in 70 % der Fälle betroffen, in 25 % der Fälle zusammen mit der Aortenklappe. Selten kommt es zur isolierten Aortenklappenbeteiligung. Schäden der Pulmonal- oder Trikuspidalklappe entstehen in der Regel sekundär.
Eine Myokarditis macht relativ selten Symptome, zum Teil fallen Palpitationen auf. Eine rheumatische Perikarditis kann sich durch Präkordialschmerzen manifestieren.
Insgesamt sind Patienten mit rheumatischer Karditis oft jahrelang asymptomatisch, bevor sie aufgrund der Endokarditis eine Herzinsuffizienz entwickeln.
Gehirn
Eine Beteiligung des Gehirns äußert sich als Chorea minor (Sydenham), die gelegentlich auch nach längerer Latenzzeit von mehreren Monaten auftreten kann. Sie betrifft meist junge Frauen. Typisch sind unkontrollierte Bewegungen (Hyperkinesien) der Hände, des Schlundes und der Gesichtsmuskulatur bei gleichzeitiger Muskelhypotonie und Hyporeflexie. Die Chorea minor kann generalisiert oder auf eine Körperhälfte beschränkt (Hemichorea) auftreten.
Haut
Die Haut kann in mannigfaltiger Weise am Entzündungsgeschehen beteiligt sein. Das klassische Erythem des RF ist das Erythema marginatum anulare rheumaticum. Es beginnt als blassroter, randbetonter Erythemring, der sehr flüchtig ist. Normalerweise tritt es am Rumpf auf, gelegentlich an den Extremitäten, fast nie im Gesicht.
Die schmerzlosen subkutanen Knötchen (Rheumaknoten) sind bis zwei Zentimeter groß - die darüberliegende Haut ist verschieblich. Sie finden sich insbesondere über knöchernen Vorsprüngen der Hände, Füße und des Ellenbogens. Sie treten in der Regel 2 bis 3 Wochen nach Krankheitsbeginn auf und sind oft mit einer Karditis assoziiert.
Weiterhin kann ein Erythema nodosum am Unterschenkel auftreten.
Diagnostik
Anamnestisch ist genau nach einer durchgemachten Streptokokkeninfektion zu fragen: Hierbei ist neben einer Tonsillits und Pharyngitis auch an ihre Komplikationen zu denken (Scharlach, Sinusitis, Otitis media, Pneumonie, Peritonsillarabszess). Meist verläuft die vorausgegangene Infektion jedoch subklinisch.
Die körperliche Untersuchung schließt eine ausführliche neurologische Untersuchung und eine Erfassung von Gelenk- und Hautbeschwerden mit ein. Bei der kardialen Auskultation ist auf ein systolischen oder diastolisches Herzgeräusch sowie auf ein Perikardreiben zu achten. Die kardiale Manifestation kann sich weiterhin im EKG durch unspezifische Veränderungen (Extrasystolen, verlängertes PQ-Intervall, Erregungsrückbildungsstörungen) zeigen. In der Echokardiographie lassen sich zum Teil Klappenveränderungen, ein Perikarderguss oder eine myogene Dilatation nachweisen.
Labor
Eine normale BSG schließt ein rheumatisches Fieber und eine Endokarditis weitgehend aus. Auch das CRP ist meist erhöht. Ein Streptokokkeninfekt der Gruppe A kann auf verschiedenen Wegen nachgewiesen werden:
- Rachenabstrich mit anschließender Kultur (Goldstandard)
- Rachenabstrich mit Streptokokken-Antigen-Schnelltest - Spezifität von über 90 %, Sensitivität von 85 %
- Bestimmung von Antistreptolysin O (ASO, ASL): Aufgrund der hohen Durchseuchung der Bevölkerung gilt erst ein Titer über 300 IE und/oder Veränderungen im Verlauf als akuter Infekt; beim RF fällt der Titer nach Abklingen des akuten Infekts nicht ab
- Bestimmung von Anti-Desoxyribonuklease B (ADB): Steigt vorzugsweise an bei Streptokokkeninfektionen der Haut und hat entsprechend beim RF keine große Bedeutung
Jones-Kriterien
Die Jones-Kriterien sollen zur Diagnosestellung beitragen. Sie sind in verschiedenen Modifikationen verbreitet. In Populationen mit niedrigem Risiko ist ein RF wahrscheinlich, wenn zwei Hauptkriterien oder 1 Haupt- und 2 Nebenkriterien erfüllt sind.[2] Voraussetzung ist der Nachweis eines vorangegangenen Streptokokkeninfektes mittels positiver Rachenkultur, positivem Antigenschnelltest oder Nachweis von Streptokokken-Antikörpern. Die Kriterien lassen sich mit dem Akronym SPECK merken.
- Hauptkriterien:
- Subkutane Knötchen
- Polyarthritis
- Erythema marginatum
- Chorea minor
- Karditis (klinisch oder subklinisch per Echokardiographie)
- Nebenkriterien:
- Fieber über 38,5 °C
- Polyarthralgie
- Verlängertes PR-Intervall im EKG
- BSG über 60 mm in einer Stunde und/oder CRP über 3,0 mg/dl
Tritt nur eine Gelenkbeteiligung auf und sind die Jones-Kriterien somit nicht erfüllt, bezeichnet man das als Poststreptokokkenarthritis.[3] Letztere tritt in den meisten Fällen erst später nach der Infektion auf und ist durch höhere Entzündungsparameter sowie ein verlängertes Ansprechen auf NSAR gekennzeichnet.[4]
Therapie
Die Behandlung folgt drei Grundprinzipien:
- Elimination lebender Streptokokken (Einschnitt in die Pathogenese)
- Entzündungshemmung und Analgesie (Schadensbegrenzung)
- Verhütung von Rezidiven
Weiterhin wird bei Auftreten von Symptomen einer Herzinsuffizienz diese standardmäßig therapiert (ACE-Hemmer, Betablocker, Diuretika etc.). Traditionelle Empfehlungen über eine längerfristige Bettruhe sind heute obsolet. Bei schwerer Chorea minor kann Carbamazepin oder Valproat eingesetzt werden, eventuell sind Glukokortikoide ebenfalls wirksam.
Therapie des Streptokokkeninfektes
Die Gabe von Penicillin G i.v. oder Penicillin V p.o dient der Elimination der Streptokokken. Penicillin V wird in Dosen von 100.000 IE/kgKG pro Tag (Kinder) oder 3 bis 4 Mio. IE pro Tag (Erwachsene) für 10 Tage gegeben.
Bei Penicillinallergie werden Makrolide eingesetzt, wobei Resistenzen von bis zu 15 % bedacht werden müssen. Bei Sepsis, toxischem Schock-Syndrom (TSS) oder nekrotisierender Fasziitis kommt Penicillin in Kombination mit Clindamycin zum Einsatz.
Im freien Intervall unter Penicillinschutz kann eine Tonsillektomie erwogen werden. Auch eine Verbesserung des Zahnstatus dient der Fokussanierung.
Entzündungshemmung
Die Gabe von 2 g/d ASS (bei Erwachsenen) oder vergleichbaren NSAR dient der Entzündungshemmung. Falls die Polyarthritis nicht innerhalb von 1 bis 2 Tagen anspricht, ist sie wahrscheinlich nicht mit einem akuten RF assoziiert.
Bei einer Herzbeteiligung werden oft Glukokortikoide zur Immunsuppression verwendet, wobei die Studienlage aktuell (2019) noch unklar ist. Initial wird meist 80 mg/d Prednisolon pro Tag verabreicht, stufenweise wird die Dosis reduziert. In der Regel beträgt die Therapiedauer 4 bis 6 Wochen.
Rezidivprophylaxe
Eine Rezidivprophylaxe wird in der Regel über mindestens 5 Jahre und maximal bis zum 21. Lebensjahr mit Penicillin durchgeführt. Bei durchgemachter RF mit bleibendem Herzklappenschaden wird die Prophylaxe für mindestens 10 Jahre und in der Regel bis zum 40. Lebensjahr durchgeführt. Danach erfolgt nur noch eine gezielte Penicillinprophylaxe bei diagnostischen oder operativen Eingriffen (Endokarditisprophylaxe).
Meist wird Penicillin G in einer Dosierung von 1,2 Mio. IE i.m. alle 4 Wochen oder Penicillin V in einer Dosierung von 1 Mio. IE pro Tag p.o. empfohlen.[5]
Hinweis: Diese Dosierungsangaben können Fehler enthalten. Ausschlaggebend ist die Dosierungsempfehlung in der Herstellerinformation.
Differentialdiagnose
Die wesentlichen Differentialdiagnosen des rheumatischen Fiebers sind die Lyme-Arthritis und die Rheumatoide Arthritis.
Prognose
Ein unbehandeltes RF dauert in der Regel 12 Wochen. Unter Therapie können die Patienten nach 1 bis 2 Wochen aus der stationären Therapie entlassen werden. Bis sich die Entzündungsparameter normalisieren (meist 4 bis 6 Wochen), müssen diese alle 1 bis 2 Wochen bestimmt werden. Nach einem Monat sollte eine Echokardiographie wiederholt werden.
Die Prognose des rheumatischen Fiebers richtet sich primär nach der Endokarditis und ihren Folgen für die Herzklappen, da alle anderen Symptome sehr überwiegend folgenlos abheilen. Daher ist eine frühzeitig einsetzende Penicillintherapie entscheidend. Die Letalität liegt bei 2 - 5 %.
Primärprävention
Die Hauptstütze der Primärprävention ist die rechtzeitige antibiotische Therapie bei Streptokokken-Infekt. Die Gabe von Penicillin innerhalb der ersten 9 Tage nach Beginn einer Tonsillopharyngitis kann fast alle Fälle von akutem rheumatischem Fieber verhindern. Für Ländern mit geringem Risiko eines RF eignet sich zum Beispiel der McIsaac-Score oder Centor-Score zur Risikostratifizierung und Abschätzung, ob eine antibiotische Therapie notwendig ist.
Literatur
- RKI Streptococcus pyogenes-Infektionen, abgerufen am 23.07.2019
- Beaton A, Carapetis J. The 2015 revision of the Jones criteria for the diagnosis of acute rheumatic fever: implications for practice in low-income and middle-income countries, Heart Asia. 2015; 7(2): 7–11, abgerufen am 23.07.2019
- Suttorp N. et al., Harrisons Innere Medizin, Hrsg. 19. Auflage. Berlin: ABW Wissenschaftsverlag; 2016
- Herold, G.: Innere Medizin 2019. Köln: Gerd Herold, 2018
Quellen
- ↑ Swiss Medical Forum - Akutes rheumatisches Fieber, abgerufen am 08.09.2022
- ↑ Gewitz MH et al. Revision of the Jones Criteria for the diagnosis of acute rheumatic fever in the era of Doppler echocardiography: a scientific statement from the American Heart Association, Circulation. 2015 May 19; 131(20):1806-18, abgerufen am 23.07.2019
- ↑ Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Kardiologie Leitlinie Pädiatrische Kardiologie: Rheumatisches Fieber – Poststreptokokkenarthritis Leitlinie; 2012.
- ↑ Barash J et al.Differentiation of post streptococcal reactive arthritis from acute rheumatic fever. J Pediatr. 2008 Nov;153(5):696-9.
- ↑ Gerber MA et al. Prevention of rheumatic fever and diagnosis and treatment of acute Streptococcal pharyngitis: a scientific statement from the American Heart Association Rheumatic Fever, Endocarditis, and Kawasaki Disease Committee of the Council on Cardiovascular Disease in the Young, the Interdisciplinary Council on Functional Genomics and Translational Biology, and the Interdisciplinary Council on Quality of Care and Outcomes Research: endorsed by the American Academy of Pediatrics, Circulation. 2009 Mar 24;119(11):1541-51, abgerufen am 23.07.2019
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