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Guillain-Barré-Syndrom

nach den französischen Neurologen Jean-Alexandre Barré (1880-1967) und Georges Charles Guillain (1876-1961)
Synonyme: Akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie, akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie, AIDP, idiopathische Polyradikuloneuritis, Landry-Guillain-Barré-Strohl-Syndrom
Englisch: Guillain-Barré syndrome

1. Definition

Das Guillain-Barré-Syndrom, kurz GBS, ist eine idiopathische Polyneuritis der spinalen Nervenwurzeln und peripheren Nerven.

2. Epidemiologie

Die Inzidenz des Guillain-Barré-Syndroms beträgt 1-2 pro 100.000 Einwohner. Die Erkrankung tritt gehäuft zwischen dem 2. und 3. und zwischen dem 5. und 6. Lebensjahrzehnt auf. Prinzipiell ist eine Erkrankung jedoch in jedem Lebensalter möglich. Männer sind häufiger betroffen als Frauen (Verhältnis von 3:2).[1]

3. Ätiologie

Die genaue Ätiologie des Guillain-Barré-Syndroms ist derzeit (2024) noch unklar. Experimentelle Befunde und epidemiologische Untersuchungen deuten auf eine gegen Nervenbestandteile gerichtete Immunreaktion (Autoimmunerkrankung) hin. Im Körper werden dabei IgG- oder IgM-Autoantikörper gegen Ganglioside oder Myelin bzw. gegen die Zellmembranen der Axone des PNS gebildet. Auslösende Faktoren sind oft bestimmte Infektionen, meist innerhalb der letzten 2 Wochen vor Erkrankungsbeginn. Assoziierte Infektionserreger sind:

Weitere mögliche Ursachen sind:

Darüber hinaus können auch chirurgische (v.a. orthopädische, gastrointestinale und kardiologische) Eingriffe Auslöser eines GBS sein. Dies wird auf eine allgemeine Aktivierung des Immunsystems zurückgeführt. Auffällig ist, dass vor allem Patienten, die bereits an einer Tumor- oder Autoimmunerkrankunge leiden, häufiger an einem postoperativen GBS erkranken.[2]

4. Neuropathologie

Pathologische Untersuchungen an Nerven betroffener Patienten zeigen interstitielle Infiltrate durch Lymphozyten und eine segmental ausgebildete Demyelinisierung der Axone. Im Verlauf kommt es zu einer sekundären axonalen Degeneration bis hin zur neurogenen Myopathie.

5. Symptomatik

5.1. Beginn

Das Guillain-Barré-Syndrom beginnt typischerweise mit:

In einigen Fällen zeigt sich ein atypischer Beginn mit:

5.2. Verlauf

Der Verlauf der Erkrankung ist variabel. Das klassische GBS verläuft akut und wird deshalb auch als akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP) bezeichnet. Von ihr abgegrenzt wurde als chronische Variante die chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP). Sie gilt inzwischen jedoch als eigene Krankheitsentität.

Ungefähr ein Drittel der Patienten erreichen innerhalb der 1. Woche ein Maximum an Symptomen, 1/3 nach zwei Wochen und 1/3 innerhalb von Wochen. Die Paresen treten typischerweise zeitlich nach den anfänglichen Sensibilitätsstörungen auf, sind aber das Leitsymptom. Die schlaffen Paresen setzen meist innerhalb von Tagen ein und sind symmetrisch und anfangs beinbetont ausgebildet. Sie beginnen typischerweise an den Beinen und steigen von distal nach proximal auf. Im Verlauf kann es zu einer Tetraparese kommen. Auch eine Beteiligung der Atemmuskulatur ist möglich. Bei einer rasch aufsteigenden Parese aller Extremitäten, der Rumpf-. und Atemmuskulatur spricht man auch von einer Landry-Paralyse. Die Muskeleigenreflexe sind abgeschwächt oder aufgehoben.

Begleitend finden sich vergleichsweise milde, symmetrische Hypästhesien an Händen und Füßen, die ebenfalls von distal nach proximal aufsteigen können. Auch Dysästhesien, Parästhesien oder Hypalgesien sind möglich. Bei ausgeprägter radikulitischer Beteiligung können ganze Dermatome betroffen sein.

Weitere Symptome sind:

Größere Beeinträchtigungen der Sensibilität können im Rahmen eines Guillain-Barré-Syndroms auftreten, sind jedoch eher untypisch.

6. Verlaufsformen

Neben dem klassischen Guillain-Barré-Syndrom existiert eine Vielzahl klinischer Varianten, deren Systematik in der Literatur uneinheitlich ist.

7. Diagnostik

Die Verdachtsdiagnose ergibt sich aus dem klinischen Bild der aufsteigenden symmetrischen Paresen mit Areflexie, milden Beeinträchtigungen der Sensibilität und Hirnnervenausfällen. Nach Möglichkeit sollte in der Anamnese nach einer vorausgehenden Infektionskrankheit gesucht werden. Ergänzend werden Liquoruntersuchungen und neurophysiologische Untersuchungen eingesetzt.

7.1. Labordiagnostik

Die Blutuntersuchung kann bei einem Guillain-Barré-Syndrom unauffällig sein. Sie dient eher der Abgrenzung von Differenzialdiagnosen. Autoantikörper können die klinische Verdachtsdiagnose untermauern. Hinweisend sind Antikörper gegen Ganglioside wie Anti-GM1-Antikörper, Anti-GD1-Antikörper, Anti-GT1a-Antikörper und Anti-GQ1b-Antikörper; letzteres insbesondere beim Miller-Fisher-Syndrom. Antikörper gegen Erreger, die bekanntermaßen mit einem erhöhten Risiko eines GBS assoziiert sind, können ebenfalls die Verdachtsdiagnose untermauern.

Die Liquoruntersuchung nach Lumbalpunktion zeigt eine starke Erhöhung des Gesamt-Proteins (70 - 150 mg/dl) bei weitgehend normaler Zellzahl (< 10 - 50/µl) an. Diese sogenannte zytoalbuminäre Dissoziation ist für das GBS sehr typisch und oft wegweisend. In der 1. Erkrankungswoche ist bei 50 % der Patienten die Gesamt-Proteinkonzentration im Liquor noch normwertig. Daher sollte bei unklaren Befunden und anhaltendem klinischen Verdacht eine weitere Lumbalpunktion im Verlauf erfolgen.

7.2. Neurophysiologische Diagnostik

Die Elektroneurografie (ENG) dient der Diagnosebestätigung und zur genaueren Einordnung der Verlaufsform. Unauffällige ENG-Befunde sind initial häufig und schließen ein GBS nicht aus. Das Elektroneurogramm zeigt folgende Befunde:

  • Demyelinisierung: Verlängerung der distalen motorischen Latenzen und der F-Wellen-Latenz, Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) und Leitungsblöcke.
  • Sural Nerve Sparing Pattern: Im Gegensatz zu anderen Neuropathien sind beim GBS die sensiblen Nervenaktionspotenziale (SNAP) der Armnerven pathologisch, während das SNAP des Nervus suralis noch normal ist.
  • Axonale Schädigung (bei anhaltender Demyelinisierung, AMAN oder AMSAN): Deutliche Amplitudenminderung, ggf. Reduktion der NLG um max. 30 % der Altersnormwerte, Ausfall der F-Wellen

Die Elektromyografie (EMG) wird zur Einordnung der Verlaufsform und Einschätzung der Prognose verwendet. Unauffällige EMG-Befunde schließen ein GBS nicht aus und sind anfangs zu erwarten. Im Verlauf zeigt sich eine pathologische Spontanaktivität (Fibrillationen) aufgrund der axonalen Schädigung.

7.3. Diagnostische Kriterien

Die Diagnose eines Guillain-Barré-Syndrom ergibt sich nicht aus einem Einzelbefund, sondern aus der typischen Befundkonstellation bei gleichzeitigem Ausschluss möglicher Differentialdiagnosen.[3]

7.3.1. Notwendige Kriterien

  • fortschreitende Schwäche mehr als einer Extremität über maximal 4 Wochen
  • Verlust mindestens der distalen Muskeleigenreflexe
  • Ausschluss einer alternativen Ursache mit angemessenen Mitteln

7.3.2. Unterstützende Kriterien

  • relative Symmetrie der Paresen
  • nur milde sensorische Symptome (kein klar abgrenzbares sensibles spinales Niveau)
  • Beteiligung der Hirnnerven
  • Erholung nach 1 bis 4-wöchiger Plateauphase
  • autonome Dysregulation
  • zum GBS passender Liquorbefund ("zytoalbuminäre Dissoziation")
  • zum GBS passender elektrophysiologischer Befund
  • kein Fieber bei Beginn der Neuropathie

8. Differenzialdiagnosen

Bestimmte Faktoren machen die Diagnose eines GBS weniger wahrscheinlich. Dazu gehören Fieber zu Beginn der Erkrankung, eine Pleozytose im Liquor (> 50/µl), eine starke Asymmetrie der Paresen oder ausgeprägte Sensibilitätsstörungen.

Zu den möglichen Differenzialdiagnosen gehören:

  • Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP): chronischer Verlauf mit Persistenz über 2 Monate, deutlichere sensible Defizite (insbesondere periphere symmetrische Parästhesien an Füßen und Händen). Seltener vorangegangene Infektionen. Im Serum können ebenfalls Autoantikörper gegen Ganglioside nachgewiesen werden. Glukokortikoide sind wirksam.
  • Akute Myopathien: meist ursächliche Medikamente oder Toxine in der Anamnese. Muskelschmerzen, keine Sensibilitätsstörungen. Deutliche Creatinkinase-Erhöhung. Myopathie-Zeichen in EMG. Liquor unauffällig.
  • Myasthenia gravis: Proximal betonte, belastungsabhängige Muskelschwäche, erhaltene Muskeleigenreflexe, oft initial Doppelbilder und Ptosis. Dekrement in EMG. Liquor unauffällig.
  • Neuroamyloidose: langsam-progredienter Verlauf mit autonomen Symptomen, überwiegend distale, sensibel betonte, schmerzhafte Polyneuropathie. Paresen erst im Verlauf. Oft Gammopathie im Serum. Liquor unauffällig.
  • Neuroborreliose: Polyradikulitis mit nachts betonten Schmerzen, Paresen und Sensibilitätsstörungen, Arthralgien und Abgschlagenheit. Borrelienspezifische Antikörper in Serum/Liquor und lymphozytäre Pleozytose im Liquor. Antibiotikatherapie.
  • Neurosarkoidose: frühe, proximal betonte, asymmetrische Muskelschwäche, oft mit Sehstörungen und zerebelläre oder Hirnstammsymptome. ACE im Serum erhöht, BSG erhöht, Eosinophilie, im Liquor lymphozytäre Pleozytose und positive oligoklonale Banden. Glukokortikoide wirksam. Oft Lungenbeteiligung.
  • Nicht-systemische vaskulitische Neuropathie (NSVN): Höheres Lebensalter, asymmetrische Verteilung. Positive rheumatologische Marker im Serum. Keine zytalbuminäre Dissoziation im Liquor. Axonale sensomotorische Neuropathie in ENG. Glukokortikoide wirksam.
  • Paraproteinämische Neuropathie: langsam-progredienter Verlauf, sensible Polyneuropathie. Monoklonale Gammopathie im Serum. Keine zytalbuminäre Dissoziation im Liquor. Tumorsuche.
  • Rückenmarkserkrankungen: Infarkt, Kompression, Myelitis

9. Therapie

Eine kausale Therapie existiert bisher (2024) nicht. Da rasch progrediente Verläufe möglich sind, sollte eine klinische und ggf. intensivmedizinische Versorgung gewährleistet sein. Die Lungenfunktion sollte durch regelmäßig durchgeführte Spirometrien überprüft werden, bei Verschlechterung muss rechtzeitig eine Intubation und Beatmung erfolgen.

Liegt eine Miktionsstörung vor, wird der Harn kontinuierlich mittels Blasenkatheter abgeleitet. Sind die Patienten für längere Zeit bettlägerig, muss auf die strenge Durchführung einer Thrombose- und Dekubitusprophylaxe geachtet werden.

Bei den rasch progredienten Verlaufsformen sowie bei schweren Verläufen kommen hochdosierte intravenöse Immunglobuline (IVIG) oder eine Plasmapherese zum Einsatz. Glukokortikoide sind nicht wirksam.

10. Prognose

Bei über 85 % der GBS-Patienten bilden sich die Symptome innerhalb von Wochen bis Monaten zurück, meist in umgekehrter Reihenfolge. Mittelschwere bis schwere Verläufe mit bleibenden, teils alltagsbehindernden Paresen oder Hirnnervenausfälle kommen in ca. 5 bis 10 % der Fälle vor. Bis zu 3 % der Patienten versterben an plötzlichen Komplikationen (Atemlähmungen, Lungenembolien, kardiale Arrhythmien). Negative prognostische Faktoren sind:

  • Alter > 60 Jahre
  • vorherige Infekt mit Campylobacter jejuni
  • rasches Fortschreiten der Lähmungen (v.a. Landry-Paralyse)
  • Fortschreiten der Symptome > 4 Wochen
  • erhöhter GM1-Antikörper-Titer
  • ausgeprägte axonale Schädigung in ENG oder EMG

11. Quellen

  1. Walling AD, Dickson G: Guillain-Barré syndrome. Am Fam Physician. 2013 Feb 1;87(3):191-7
  2. Nagarajan et al., Guillain-Barré syndrome after surgical procedures, Neurology Clinical Practice, 2017
  3. Diagnose und Therapie des Guillain-Barré Syndroms im Kindes- und Jugendalter (ICD-10: G61.0); S3 Leitlinie der Gesellschaft für Neuropädiatrie, Kurzfassung Aktualisierung Nr. 4, Version 1.1, 20. März 2019

Bijan Fink
Peer reviewed am 12.12.2023 von Bijan Fink
Stichworte: Entzündung, Nerven, Neuritis
Fachgebiete: Neurologie

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