Tic-Störung
Englisch: tic disorder
Definition
Unter einer Tic-Störung versteht man das wiederholte Auftreten von Tics. Tics sind kurze unwillkürliche Abläufe, z.B. nichtrhythmische Kontraktionen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen oder Lautäußerungen, die keinem erkennbaren Zweck dienen. Tic-Störungen werden zu den extrapyramidalmotorischen Hyperkinesien gezählt.
- ICD-10-Code: F95.-
Epidemiologie
Zwischen 5 und 15 % aller Kinder sind im Laufe ihrer Kindheit von einer Tic-Störung betroffen. Bei Erwachsenen tritt die Erkrankung deutlich seltener auf. Jungen erkranken häufiger und schwerer als Mädchen.
Ätiopathogenese
Die Ätiopathogenese der Tic-Störungen ist noch nicht geklärt. Es wird vermutet, dass eine genetische Komponente eine Rolle spielt, da die Erkrankung familiär gehäuft auftritt.
Vermutlich liegt der Tic-Störung eine Störung im serotonergen und dopaminergen Neurotransmittersystem zugrunde, die insbesondere den motorischen Cortex und das Mesencephalon betrifft. Bei erwachsenen Menschen führen Stress und Belastungen häufig zur Verstärkung von Tic-Störungen.
Klinik
Man unterscheidet zwischen motorischen und vokalen Tics. Zu den motorischen Tics gehören:
- einfache motorische Tics: z.B. das Blinzeln mit den Augen, Stirnrunzeln
- komplexe motorische Tics: mehrere Muskelgruppen umfassende Bewegungen, z.B. Springen, Echopraxie, Körperverdrehungen, Kopropraxie
Bei den vokalen Tics unterscheidet man:
- einfache vokale Tics: z.B. Räuspern, Schmatzen, Bellen
- komplexe vokale Tics: z.B. Aufsagen von Worten oder ganzen Sätzen, Koprolalie, Echolalie, Palilalie
Verlaufsformen
Tic-Störungen werden je nach Verlauf in drei Kategorien eingeteilt:
- vorläufige Tic-Störung: einzelne oder mehrere motorische und/oder vokale Tics für < 1 Jahr
- persistente bzw. chronische Tic-Störung: einzelne oder mehrere motorische oder vokale Tics für > 1 Jahr
- Gilles-de-la-Tourette-Syndrom: mehrere komplexe motorische und vokale Tics für > 1 Jahr
Komorbiditäten
Tic-Störungen sind häufig mit anderen Erkrankungen vergesellschaftet, z.B. ADHS, Zwangsstörungen, Lernstörungen und Depression.
Diagnostik
Die Diagnose wird in der Regel anhand von Anamnese und Klinik gestellt. Wenn andere Erkrankungen nicht eindeutig ausgeschlossen werden können, erfolgen weitergehende neurologische Untersuchungen. Zu diesen gehören z.B. ein EEG oder ein Computertomogramm oder ein Magnetresonanztomogramm des Schädels.
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch sollte an Dyskinesien, Zwangshandlungen, an eine Epilepsie sowie an Stereotypien (z.B. bei Autismus) gedacht werden. Muskelzuckungen im Gesichtsbereich finden sich auch z.B. bei Blepharospasmus, oromandibulärer Dystonie und Spasmus hemifacialis.
Therapie
In der Mehrzahl der Fälle ist zu Beginn keine spezifische Behandlung erforderlich. Bei leichten Tic-Störungen steht die Psychoedukation der Betroffenen und Angehörigen über den meist gutartigen, fluktuierenden Verlauf im Vordergrund. Bei einer Zunahme der Symptomatik sollte zunächst ein abwartendes Vorgehen über 4 bis 6 Wochen erfolgen. Erst bei anhaltender Beeinträchtigung wird eine strukturierte Therapie eingeleitet.
Verhaltenstherapie
Bei der nicht-medikamentösen Therapie gilt die Verhaltenstherapie als Methode der ersten Wahl, z.B. das Habit Reversal Training (HRT) oder die Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT). Ergänzend kommen Entspannungsverfahren, Stressbewältigung und ggf. Elterntraining zum Einsatz.
Medikamentöse Therapie
Eine Pharmakotherapie wird bei erheblichem Leidensdruck, sozialer oder funktioneller Beeinträchtigung bzw. bei Komorbiditäten wie ADHS oder Zwangsstörung erwogen.
Dopaminrezeptorantagonisten (Antipsychotika) gelten als wirksamste Substanzklasse. Zugelassen für diese Indikation ist in Deutschland Haloperidol (ab 10 Jahren). Aufgrund des Nebenwirkungsprofils werden als Alternativen Aripiprazol, Risperidon oder Tiaprid eingesetzt (alle off-label).
Alternativ oder ergänzend können α₂-adrenerge Agonisten wie Clonidin oder Guanfacin eingesetzt werden, insbesondere bei gleichzeitiger ADHS-Symptomatik.[1]
Die Dosierung sollte individuell titriert und regelmäßig überprüft werden, da der Verlauf von Tic-Störungen starken Fluktuationen unterliegt. Eine Toleranzentwicklung wird nicht beobachtet, dennoch ist bei Langzeittherapie eine regelmäßige Reevaluation indiziert.[2]
Prognose
Bei Tic-Störungen des Kindesalters liegt die Spontanremissionsrate bei über 60 %. Bei Früherkrankten kann sich auch nach der Pubertät eine Reduktion der Symptomlast einstellen.
Quellen
- ↑ Roessner et al., European clinical guidelines for Tourette syndrome and other tic disorders—version 2.0. Part III: pharmacological treatment, Eur Child Adolesc Psychiatry 2022
- ↑ Müller-Vahl K. Pharmakotherapie von Tic-Störungen. Psychopharmakotherapie 2024