Kryptorchismus (Pferd)
Synonyme: Hodendystopie, Hodenhochstand, retinierter Hoden
Englisch: cryptorchism
Definition
Als Kryptorchismus bezeichnet man einen ein- oder beidseitigen Fehlstand des Hodens beim Hengst.
Ätiologie
Die genauen Ursachen eines Kryptorchismus sind noch (2021) nicht vollständig geklärt.
Klassifizierung
Anhand der Lage des nicht abgestiegenen Hodens unterscheidet man klinisch zwischen folgenden Formen:
- abdominaler Kryptorchismus:
- komplett abdominaler Kryptorchismus
- inkompletter bzw. partieller abdominaler Kryptorchismus
- inguinaler Kryptorchismus
Hoden, die subkutan liegen und nicht manuell in das Skrotum verlagert werden können, werden als ektopisch bezeichnet. Diese Hoden befinden sich meist im Bereich des Präputiums und gehören nicht zum Kryptorchismus, da es sich hier nicht um einen fehlenden Hodenabstieg handelt.
Vorkommen
Ein permanenter inguinaler Kryptorchismus oder einen kompletten bzw. inkompletten abdominalen Kryptorchismus findet man bei Hengsten aller Rassen. Bei bestimmten Rassen oder auch innerhalb bestimmter Zuchtlinien konnte man eine Erblichkeit nachweisen. Das Erblichkeitsmuster ist jedoch bisher nicht bekannt, da vermutlich kein monogenetischer Defekt vorliegt.
Aufgrund der Erblichkeit dürfen Kryptorchiden nicht in der Zucht verwendet werden.
Physiologie
Beim Pferdefetus findet die sexuelle Differenzierung etwa ab dem 40. Tag der Trächtigkeit statt. Zu dieser Zeit befinden sich die Hoden kaudal der Nieren. Die Hoden werden dabei von einer Doppelfalte des Peritoneums (dem späteren Mesorchium) gestützt. Das Gubernaculum testis verbindet als Mesenchymstrang die Hoden mit der Bauchwand ventrolateral des sich entwickelnden Beckens.
Etwa am 45. Tag der Trächtigkeit bildet sich am Ansatzpunkt des Gubernaculum testis an der Bauchwand eine Invagination des Peritoneums, die als Processus vaginalis bezeichnet wird. Die Öffnung des Processus vaginalis zur Bauchhöhle hin wird Vaginalring bzw. -spalt genannt. Zirka am 150. Trächtigkeitstag liegt der Nebenhodenschwanz in der Nähe des Vaginalrings, worauf sich das Gubernaculum testis verdickt. Zu dieser Zeit findet jedoch noch kein Hodenabstieg statt. Etwa ab Tag 100 der Trächtigkeit erfahren die Hoden ein enormes Größenwachstum, worauf diese zwischen dem 210. und 240. Trächtigkeitstag ihre Maximalgröße erreichen. Anschließend nimmt die Hodengröße bis zum Tag 300 wieder stark ab, weshalb ein Hodenabstieg erst im letzten Trächtigkeitsmonat möglich wird.
Der Hodenabstieg wird durch hormonelle und mechanische Faktoren gesteuert. Die genauen Mechanismen sind jedoch noch ungeklärt. Das Gubernaculum testis gibt hierbei nur die Richtung des Abstiegs vor, kann den Hoden jedoch nicht aktiv in den Processus vaginalis ziehen. Es wird angenommen, dass Atem- sowie andere Bewegungen des Fetus den intraabdominalen Druck so verstärken, dass die kleiner werdenden Hoden aus der Bauchhöhle durch den Leistenspalt gedrückt werden. Nachdem die Hoden im Skrotum angekommen sind, schrumpft das Gubernaculum testis und fixiert den Hoden damit im Processus vaginalis.
Zum Zeitpunkt der Geburt befinden sich die Hoden meistens noch innerhalb des Leistenkanals und steigen in den ersten Tagen postnatal vollständig ab. Um die zweite Lebenswoche herum kontrahieren sich die Vaginalringe zunehmend und werden fibrotisch, sodass ein späterer Hodenabstieg meist erschwert wird. Aus diesem Grund wandern bereits abgestiegene Hoden nicht wieder in die Bauchhöhle zurück.
Pathogenese
Sowohl die Physiologie des Hodenabstiegs als auch die Pathomechanismen bei der Entstehung eines Kryptorchismus sind noch Gegenstand von Untersuchungen. Sämtliche Fehler im komplexen Vorgang des Hodenabstiegs können letztendlich einen Kryptorchismus hervorrufen.
Während bei einem inguinalen Kryptorchismus der betroffene Hoden im Bereich des Leistenspaltes zum Liegen kommt, befinden sich die Hoden beim kompletten abdominalen Kryptorchismus häufig sehr mobil innerhalb der Bauchhöhle. In den meisten Fällen liegen sie zwar in der Nähe des tiefen Leistenrings, können aber auch dorsal des Rektums, lateral der Harnblase oder selten auch im Bereich der Bauchwand oder an anderen Organen (z.B. Milz) gefunden werden. Bei inkompletten abdominalen Kryptorchiden ist der Processus vaginalis meistens gut entwickelt, sodass Teile des Nebenhodens und Ductus deferens in diesem Abschnitt zu finden sind. Der Hoden befindet sich zwar in der Bauchhöhle, liegt jedoch in unmittelbarer Nähe zum tiefen Leistenring und ist dadurch deutlich weniger beweglich als bei einem kompletten abdominalen Kryptorchismus.
Permanent inguinal liegende Hoden weisen oftmals ein Gewicht von mehr als 40 g auf und sind häufig missgebildet. Im Gegensatz dazu sind abdominale Hoden häufig klein (oftmals < 10 bis 20 g) und haben eine charakteristisch weich-fließende Konsistenz, die gelegentlich mit einem Quecksilbersäckchen verglichen wird. Das Parenchym kryptorcher Hoden gleich histologisch dem eines drei bis vier Monate alten Hengstfohlens. Mit zunehmendem Alter ordnet sich das Gewebe jedoch um, neigt zu Zysten- und bei abdominalen Hoden zur Teratombildung. Da die Leydig-Zellen weitgehend funktionstüchtig sind, findet eine Androgensynthese statt. Dennoch entwickeln sich die Spermatogenesezellen kaum über das Stadium primärer Spermatogonien hinaus, sodass betroffene Hengste unfruchtbar sind.
Klinik
Beim Kryptorchismus fehlen entweder einer oder gar beide Hoden im Skrotum. Unvollständig kastrierte Wallache (mit einem retinierten abdominalen Hoden) weisen aufgrund des androgenbildenden Gewebes häufig Hengstverhalten auf.
Diagnose
Die Diagnose wird einerseits adspektorisch und palpatorisch, andererseits mittels Hormonanalysen gestellt.
Bei einem inguinalen Kryptorchismus können häufig der Hoden oder Nebenhodenanteile im Leistspalt palpiert werden. Bei einem kompletten abdominalen Kryptorchismus hingegen sind keine Hodenteile palpierbar, sodass das Skrotum völlig leer ist. Eine Samengewinnung (Ausschachten inkl. Erektion) ist oftmals möglich, wobei die gewonnene Samenprobe aufgrund der Stagnation der Spermatogenese häufig keine Spermien enthält. Zusätzlich sollte immer eine rektalen Palpation durchgeführt werden. Manchmal lassen sich dabei Hoden oder Hodenteile palpieren und in seltenen Fällen auch ultrasonografisch darstellen.
In unklaren Fällen (z.B. bilateral unilateral kastrierte Kryptorchiden) ist die Plasmatestosteronkonzentration höher als bei vollständig kastrierten Hengsten. Die Testosteronkonzentration liegt dabei deutlich über der unteren Nachweisgrenze, ist jedoch niedriger als bei Hengsten. Parallel dazu kann auch Östronsulfat im peripheren Blut nachgewiesen werden. Da die basale Testosteron- und Östronsulfatkonzentration allein nicht immer aussagekräftig ist, ist ein Stimulationstest mit hCG (10.000 I.E.) durchzuführen:
- Messung der basalen Testosteronkonzentration
- Injektion von hCG
- 1. Messung nach 60 Minuten
- 2. Messung nach 120 Minuten
Therapie
Eine kausale Therapie ist nicht verfügbar. Kryptorchide Hoden müssen unbedingt chirurgisch entfernt werden:
- inguinaler Kryptorchismus: Zugang über die Leiste
- abdominaler Kryptorchismus: Zugang über die Leiste (inguinal) oder über die Flanke (auch laparoskopisch möglich)
- inkomplett abdominaler Kryptorchismus: Zugang über die Leiste (inguinal)
Literatur
- Aurich C (Hrsg.). 2009. Reproduktionsmedizin beim Pferd. Gynäkologie - Andrologie - Geburtshilfe. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Parey-Verlag. ISBN: 978-3-8304-4179-3
- Auer JA, Stick JA, Kümmerle JM, Prange T. 2019. Equine Surgery. Fifth Edition. St. Louis: Elsevier Inc. ISBN: 978-0323-48420-6