Aztekensalbei
Synonyme: Salvia divinorum (lat.), Aztekensalbei, Wahrsagesalbei, Ska María Pastora
Englisch: diviner's sage, Salvia divinorum
Definition
Apothekensalbei, lateinisch Salvia divinorum, ist eine immergrüne, krautige bis strauchartige Salbei-Art aus der Familie der Lamiaceae, die in den Nebelwäldern der Sierra Mazateca (Oaxaca, Mexiko) heimisch ist. In der traditionellen Verwendung der Mazateken dient die Pflanze divinatorischen Ritualen und Heilzeremonien. Pharmakologisch bedeutsam ist das Diterpen Salvinorin A, eines der potentesten natürlich vorkommenden psychotropen Wirkstoffe mit raschem Wirkungseintritt, kurzer Wirkdauer und charakteristisch dissoziativem Profil.
Botanik
Salvia divinorum wächst als 0,5–1,5 m hoher, ausdauernder, buschig verzweigter Halbstrauch mit vierkantigen, oft hohlen Sprossen. Die gegenständigen, eiförmigen bis lanzettlichen Blätter sind weich, teils samtig behaart und fein gesägt. Die zweilippigen Blüten mit weißer Krone in violettem Kelch erscheinen in lockeren Scheinähren; Fruchtansatz und vitale Samenbildung sind selten. In Kultur erfolgt die Vermehrung nahezu ausschließlich vegetativ über Stecklinge, sodass viele Bestände auf wenige ursprüngliche Klone zurückgehen. Auffällig ist der Reichtum an drüsigen Trichomen, in denen die lipophilen Diterpene gebildet und gespeichert werden.
Inhaltsstoffe
Charakteristisch ist ein Spektrum neoclerodaner Diterpene. Die Leitsubstanz ist Salvinorin A, das vor allem in den Drüsenhaaren der Blätter vorkommt. Daneben kommen weitere Salvinorine (u. a. A–F), Divinatorine, Salvidivine und Salvinicine vor. Salvinorin B entsteht überwiegend als Hydrolyseprodukt von Salvinorin A und besitzt eine deutlich geringere Affinität zum Zielrezeptor. Die Gehalte unterliegen ausgeprägten Schwankungen (Klon, Anbau, Ernte, Aufarbeitung). Weitere Begleitstoffe (z. B. Flavonoide, Triterpene) sind nach heutigem Kenntnisstand nicht hauptverantwortlich für die charakterischen psychoaktiven Effekte.
Pharmakodynamik
Salvinorin A ist kein Alkaloid und unterscheidet sich sowohl strukturell als auch pharmakodynamisch grundlegend von klassischen serotonergen Halluzinogenen wie LSD, Psilocybin oder Mescalin. Es wirkt als hochpotenter, selektiver Agonist am kappa-Opioidrezeptor (vor allem KOR1) ohne relevante Affinität zum 5-HT₂A-Rezeptor. Dies erklärt die Abgrenzung zu den klassischen, 5-HT₂A -vermittelten Psychedelika.
Die Aktivierung zentraler KOR moduliert Wahrnehmungsverarbeitung, Affekt- und Stressregulation, motorische Netzwerke sowie nozizeptive Bahnen. Zudem wird eine Interaktion mit dem Endocannabinoidsystem (CB₁/CB₂) vermutet, über das Salvinorin-vermittelte Effekte auf Schmerz- und Entzündungsprozesse beeinflusst werden.
Klinisch resultiert ein charakteristisches Profil mit ausgeprägter Dissoziation von Körperbild und Umgebung bis hin zum Verlust der Realitätsorientierung, komplexen visuellen und propriozeptiven Phänomenen (u. a. Zug-, Kipp-, Rotations- und Verschmelzungserleben), deutlich veränderter Zeitwahrnehmung sowie teils auditiven Veränderungen und synästhetischen Eindrücken. Begleitend können Ataxie, Schwindel, Sedierung sowie gelegentlich Übelkeit und kardiovaskuläre Effekte auftreten. Das Hauptgefährdungspotenzial ergibt sich aus der Desorientierung mit unkontrollierten Bewegungen, Stürzen und riskantem Verhalten.
Präklinische Daten zeigen darüber hinaus die ausgeprägten analgetischen und antiinflammatorischen Effekte von Salvinorin A in Modellen akuter, entzündlicher und neuropathischer Schmerzen sowie chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen. Diese Effekte beruhen vor allem auf KOR-vermittelter Modulation nozizeptiver Transmission, Interaktionen mit CB₁/CB₂-Rezeptoren und der Hemmung proinflammatorischer Mediatoren (z. B. TNF-α, iNOS, Leukotriene).
Pharmakokinetik
Salvinorin A ist stark lipophil und überwindet rasch die Blut-Hirn-Schranke. Nach inhalativem oder vaporisiertem Konsum tritt die Wirkung innerhalb von Sekunden ein, erreicht innerhalb weniger Minuten ihren Höhepunkt und klingt typischerweise nach 15 bis 30 Minuten deutlich ab. Bildgebende Untersuchungen an Primaten zeigen eine sehr schnelle Anflutung im Gehirn (unter anderem im Kleinhirn und im visuellen Cortex) mit rascher Reduktion der Konzentration, was mit dem kurz anhaltenden dissoziativen Erlebnis beim Menschen konsistent ist. Die Metabolisierung erfolgt überwiegend durch Hydrolyse der C-2-Acetatgruppe zu Salvinorin B sowie durch Glucuronidierung und nachfolgende renale Elimination. Zusätzlich wird Salvinorin A als Substrat von Effluxtransportern (z. B. P-Glykoprotein) diskutiert, was zur kurzen Wirkdauer beiträgt.
Eine relevante Kumulation ist bei sporadischer Anwendung nicht zu erwarten, allerdings ist die Datenlage beim Menschen begrenzt.
Anwendungsformen
Traditionell werden frische Blätter zu „Quids“ geformt und langsam gekaut, wobei der Speichel zur bukkalen Resorption im Mund gehalten wird. Hierdurch entsteht ein verzögerter Wirkungseintritt (ca. 5–10 Minuten) mit moderater, oft kontrollierbarer Wirkungsdauer.
Im modernen Freizeitgebrauch überwiegen das Rauchen von getrocknetem Blattmaterial und die Verwendung hochpotenter „x-fach“-Extrakte mit variabler, meist unzureichend deklarierter Salvinorin-A-Konzentration. Hier setzt die Wirkung innerhalb von Sekunden ein und verläuft extrem kurz und intensiv. Orale Teezubereitungen sind aufgrund der geringen Bioverfügbarkeit in der Regel wenig wirksam.
Risiken
Neben erwünschten „visionären“ Erlebnissen werden häufig Dysphorie, Angst- und Panikattacken, Verwirrtheit und psychotischen Episoden beschrieben. Das direkte toxische Risiko gilt bei alleiniger Exposition als gering, problematisch sind jedoch:
- Unfallgefahr durch Desorientierung,
- mögliche Dekompensation bei psychisch vulnerablen Personen (z. B. psychotische Störungen, schwere Angststörungen, affektive Störungen),
- erhebliche Risikoerhöhung bei Mischkonsum mit Alkohol, Benzodiazepinen, Opioiden oder anderen ZNS-wirksamen Substanzen.
Das klassische Abhängigkeitspotenzial erscheint im Vergleich zu μ-Opioidagonisten gering, wobei ein wiederholter Hochrisikokonsum und psychische Gewöhnungsmuster gleichwohl möglich sind.
Rechtslage
International ist Salvia divinorum nicht einheitlich reguliert, jedoch haben zahlreiche Staaten nationale Kontrollregelungen eingeführt. In Deutschland sind Pflanzen und Pflanzenteile von Salvia divinorum gemäß BtMG als nicht verkehrsfähige Betäubungsmittel (Anlage I) eingestuft. Besitz, Erwerb, Abgabe, Handel sowie Ein- und Ausfuhr ohne behördliche Erlaubnis sind strafbar. Forschungsprojekte erfordern eine Ausnahmegenehmigung. Ähnliche Restriktionen bestehen in mehreren europäischen Ländern und weiteren Staaten.
Literatur
- Keasling. The Plant Salvia divinorum (Lamiaceae)—Chemistry and Pharmacology. Neuropathology of Drug Addictions and Substance Misuse, Elsevier. 551–560. 2016
- Rothet al. Salvinorin A: A Potent Naturally Occurring Nonnitrogenous Kappa Opioid Selective Agonist. Proceedings of the National Academy of Sciences. 99(18): 11934–11939. 2002