Suprakondyläre Humerusfraktur (Kind)
Definition
Die suprakondyläre Humerusfraktur des Kindes ist ein extraartikulärer metaphysärer Knochenbruch des distalen Humerus. Die Fraktur unterscheidet sich deutlich von der distalen Humerusfraktur des Erwachsenen.
Ätiologie
Die suprakondyläre Humerusfraktur des Kindes kann entweder durch indirekte Gewalteinwirkung bei einem Sturz auf den ausgestreckten Arm oder durch direkte Gewalteinwirkung bei einem Sturz auf den gebeugten Ellenbogen entstehen. In ca. 98% der Fälle liegt eine Extensionsfraktur durch Sturz auf den ausgestreckten Arm vor. Dagegen ist eine Flexionsfraktur durch einen Sturz auf den gebeugten Ellenbogen selten (ca. 2% der Fälle).
Epidemiologie
Die suprakondyläre Humerusfraktur des Kindes ist eine häufige Verletzung und macht ca. 6-7% aller kindlichen Frakturen sowie ca. 50-70% aller knöcherner Läsionen im kindlichen Ellenbogen aus. Betroffen sind in der Regel Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahren, wobei die meisten Kinder bei Stellung der Diagnose 5 bis 7 Jahre alt sind. Die Patienten werden tendenziell jünger. Ein möglicher Grund dafür ist das Spielen mit anspruchsvollen Spielgeräten (z.B. Trampolin) bei gleichzeitig vorhandener motorischer Unreife in Kombination mit Übergewicht.
Klinik
Die Kinder stellen sich meist in Begleitung der Eltern aufgrund von diffusen Schmerzen im Ellenbogen vor. Der Ellenbogen kann meistens aufgrund von Schmerzen kaum oder nur wenig bewegt werden. Schmerzen, Schwellung oder Druckschmerzen im Bereich des distalen Oberarmes sind bei Kindern immer ernst zu nehmen und erfordern eine Röntgendiagnostik. Bereits vor dem Röntgen ist stets eine sorgfältige Überprüfung der peripheren Durchblutung, Motorik und Sensibilität notwendig.
Diagnostik
Nach Abschluss der körperlichen Untersuchung erfolgt eine bildgebende Diagnostik mittels Röntgen des betroffenen Ellenbogens in 2 Ebenen (a.p. und seitlich). Wenn schon anhand der ersten Aufnahme eine eindeutige Operationsindikation besteht, sollte die zweite Aufnahme nicht erzwungen werden. Fakultativ ist das Röntgen benachbarter Gelenke möglich. Eine erweiterte bildgebende Diagnostik mittels CT oder MRT ist nur in Ausnahmefällen erforderlich und liefert in der Regel keine therapierelevanten Informationen.
Bei der Befundung der Röntgenaufnahmen gelten die üblichen röntgenologischen Frakturzeichen. Die Diagnosestellung ist jedoch bei einer nicht dislozierten suprakondylären Humerusfraktur häufig erschwert. Folgende Kriterien können dann die Beurteilung erleichtern:
- Fettpolsterzeichen: Bedingt durch der Fraktur entsteht ein intrakapsuläres Hämatom, das in der seitlichen Röntgenaufnahme sichtbar wird. Wenn ein Fettpolsterzeichen - insbesondere im dorsalen Gelenkbereich - vorhanden ist, kann man von einer Fraktur im Ellenbogen ausgehen.
- Rogers-Hilfslinie: Beim gesunden Ellenbogen schneidet eine Linie entlang der vorderen Humeruskortikalis im seitlichen Röntgenbild das Capitulum humeri am Übergang vom mittleren zum hinteren Drittel. Abweichungen davon sind verdächtig für eine Fraktur.
- Diaphysen-Epiphysen-Winkel: Der Winkel zwischen Humeruslängsachse und Epiphysenfugenachse soll im seitlichen Strahlengang zwischen 30° und 40° betragen. Abweichungen davon sprechen für eine vorliegende Extensions- oder Flexionsfraktur.
- Baumann-Winkel: Dieser Winkel wird zur Abschätzung der Ellenbogenachse herangezogen, vor allem, wenn der Arm des Kindes nicht bewegt werden kann. Beim gesunden Ellenbogen beträgt der Winkel zwischen Humeruslängsachse und Epiphysenachse des lateralen Condylus in der a.p.-Projektion 64° bis 81°. Abweichungen davon sind pathologisch.
Klassifikation
Es existieren international diverse Klassifikationen. In Deutschland hat sich die Klassifikation nach von Laer durchgesetzt, die auch von der AO-Klassifikation im Jahr 2011 übernommen würde. Im angloamerikanischen Raum ist dagegen die Gartland-Klassifikation gebräuchlich.
Typ | Befund | Einordnung |
---|---|---|
I | Unverschobene suprakondyläre Humerusfraktur | stabile Fraktur |
II | Suprakondyläre Humerusfraktur mit Dislokation in 1 Ebene | stabile, aber drohend instabile Fraktur |
III | Suprakondyläre Humerusfraktur mit Dislokation in 2 Ebenen | instabile Fraktur |
IV | Suprakondyläre Humerusfraktur mit Dislokation in 3 Ebenen | instabile Fraktur |
Klassifikation der kindlichen suprakondylären Humerusfraktur nach von Laer
Therapie
Konservative Therapie
Eine konservative Therapie ist bei Frakturen vom Typ I und bei Frakturen vom Typ II nach von Laer indiziert, wobei bei den letzteren maximal 20° Antekurvation bis zum 5./6. Lebensjahr spätestens toleriert werden können. Zur Ruhigstellung wird je nach Frakturtyp ein Oberarmgips oder eine Blount-Schlinge angelegt. Das Prinzip der konservativen Therapie mit der Blount-Schlinge stellt ein Verfahren der indirekten Redression dar. Da am Unfalltag nach Anlegen der Blount-Schlinge noch keine Redression eingestellt ist, ist keine unmittelbare Röntgenkontrolle notwendig. Eine Röntgenkontrolle sollte erst 3 bis 5 Tage später erfolgen, weil erst dann eine ausreichende Redression zu erwarten ist. Falls sich bis dahin keine ausreichende Redression eingestellt hat, ist ggf. ein operatives Vorgehen notwendig. Die Eltern sind dementsprechend bereits am Unfalltag darüber aufzuklären, dass ihr Kind möglicherweise einige Tage später operiert werden muss.
Operative Therapie
Eine operative Therapie ist immer bei Frakturen vom Typ III und Typ IV nach von Laer indiziert. Außerdem ist eine operative Therapie bei offenen Frakturen, bei nicht retinierbaren Frakturen vom Typ II sowie bei Vorliegen eines Kompartmentsyndroms indiziert. Es stehen drei verschiedene Operationsarten zur Verfügung:
Geschlossene Reposition und Osteosynthese mittels Kirschner-Drähten
Diese Operationsmethode wird in Deutschland am häufigsten angewendet. Als erstes erfolgt in Narkose die geschlossene Reposition. Anschließend werden Kirschnerdrähte zur Frakturstabilisierung eingebracht, dazu existieren verschiedene Techniken. Postoperativ ist eine Ruhigstellung im Oberarmgips für ca. 3 Wochen notwendig. Die eingebrachten Drähte können dann nach knöcherner Konsolidierung etwa nach Abschluss der 3. bis 4. postoperativen Woche wieder entfernt werden.
Geschlossene Reposition und Osteosynthese mittels ESIN
Die elastisch-stabile intramedulläre Nagelosteosynthese (ESIN) wird meist in französischsprachigen Ländern angewendet. Vorteil dieser Operationsmethode ist, dass direkt postoperativ mit einer funktionellen Beübung begonnen werden kann, eine Ruhigstellung ist somit nicht erforderlich. Nachteil dieser Operationsmethode ist, dass eine perfekte geschlossene Reposition erforderlich ist und das Verfahren aufwendiger ist. Außerdem ist im Vergleich zu eingebrachten Kirschnerdrähten eine zweite Allgemeinanästhesie zur Entfernung der ESIN erforderlich.
Osteosynthese mittels eines radialen Fixateur externe
Der radiale Fixateur externe ist im Vergleich zu den vorgenannten Verfahren das neuere Operationsverfahren. Es bietet die höchste Stabilität aller beschriebener Verfahren und erfordert keine postoperative Ruhigstellung. Es ist zunächst keine geschlossene Reposition erforderlich, nach Einbringen der Schanz-Schrauben wird die Fraktur in Joystick-Technik reponiert und mittels Fixateur externe fixiert. Zusätzlich wird ein Antirotations-K-Draht zur Stabilisierung eingebracht. Das eingebrachte Osteosynthesematerial kann nach knöcherner Konsolidierung etwa nach Abschluss der 4. postoperativen Woche entfernt werden.
Komplikationen
Je nach Literatur liegen in 5 bis 25% der Fälle begleitende Gefäß- oder Nervenläsionen vor. Am häufigsten kommt es zu einer Läsion des Nervus medianus (Medianusparese) und der Arteria brachialis, gefolgt vom Nervus radialis (Radialisparese) und vom Nervus ulnaris (Ulnarisparese). Eine Läsion des Nervus medianus und der Arteria brachialis entsteht meist frakturbedingt. Eine Läsion des Nervus ulnaris ist dagegen in den meisten Fällen operationsbedingt. Der Nervus radialis kann sowohl fraktur- als auch operationsbedingt geschädigt werden. Aufgrund der häufigen begleitenden Gefäß- und Nervenläsionen ist die sorgfältige Untersuchung und Dokumentation der peripheren Durchblutung, Motorik und Sensibilität sowohl vor als auch nach einer operativen Maßnahme sehr wichtig.
Eine der häufigsten Komplikationen nach einer kindlichen suprakondylären Humerusfraktur ist das Entstehen eines Cubitus varus. Das Entstehen eines Cubitus valgus ist dagegen sehr selten. Der Cubitus varus bringt selten funktionelle Einbußen mit sich, jedoch kann der kosmetische und psychische Aspekt von großer Bedeutung sein. Eine operative Therapie mittels Korrekturosteotomie ist dann prinzipiell in jedem Alter möglich.
Eine weitere, mittlerweile selten gewordene Komplikation im Rahmen einer Behandlung einer kindlichen suprakondylären Humerusfraktur ist das Entstehen einer Volkmann-Kontraktur.