Kannibalismus (Schwein)
Synonym: Beknabbern
Englisch: cannibalism
Definition
Als Kannibalismus bezeichnet man das gegenseitige Beknabbern und Verletzen von Schweinen in der intensiven Tierhaltung.
Ätiologie
Kannibalismus unter Schweinen kann durch unterschiedliche Faktoren ausgelöst werden und ist meist multifaktoriell bedingt. Prädisponierend für das vermehrte Auftreten von Kannibalismus in einem Bestand sind:
- ungünstiges Stallklima (zu hohe Temperaturen oder Luftgeschwindigkeiten sowie erhöhte CO2-Werte)
- Überbelegung der Box oder ungenügend Liegeplätze (erhöhte Belegdichte)
- anhaltender Juckreiz durch Ektoparasiten (z.B. bei Räude)
- überdosierte Futterzusätze (z.B. Carbadox oder Olaquindox)
- zu helle Stallbeleuchtung
- zu frühes Absetzen (führt zu gegenseitigem Besaugen)
- genetische Faktoren (bestimmte Rassen neigen vermehrt zu Kannibalismus)
- niedrige Rangordnung eines Tiers
Epidemiologie
Kannibalismus tritt bevorzugt bei jüngeren Schweinen (Saugferkel bzw. Absetzferkel) auf und kommt v.a. in der Intensivhaltung vor.
Pathogenese
Durch unterschiedliche Auslöser werden die Schweine dazu animiert, sich gegenseitig zu beknabbern und zu verletzen. Von den Tieren bevorzugt werden v.a. der Schwanz und die Ohren, sodass es sowohl zu oberflächlichen Hautverletzungen als auch zu tiefgreifenden Wunden kommen kann.
Die durch Kannibalismus ausgelösten Wunden erleichten in Folge das Eindrigen verschiedener Pathogene in den Organismus, sodass - je nach beteiligtem Erreger - unterschiedliche sekundäre Krankheitsbilder entstehen können, z.B.:
- Ferkelruß, verursacht durch Staphylococcus hyicus oder
- Rotlauf, ausgelöst durch Erysipelothrix rhusiopathiae.
Dabei begünstigen Verletzungen an der Schwanzspitze aufsteigende Infektionen z.B. durch Staphylokokken oder Streptokokken, die in das Rückenmark eindringen können. In weiterer Folge kommt es zu akuten Lähmungen der Hintergliedmaßen und multiplen Abszessen. Durch eine Streuung der Erreger (Bakteriämie) können sich die Bakterien auch in anderen Organen ansiedeln und weitere Erkrankungen verursachen (z.B. Pneumonie).
Klinik
Je nach Ausmaß des Kannibalismus sowie Auftreten und Art einer Sekundärinfektion variiert das klinische Bild in einem Bestand:
Initial sind leichte Rötungen (Erytheme) der Haut an der Schwanzspitze sowie den Ohren erkennbar. Bei stark ausgeprägtem Kannibalismus sind auch tiefe Verletzungen mit teils starken Blutungen (blutverschmierte Wände und Boden) erkennbar.
In fortgeschrittenen Fällen leiden die Tiere an phlegmonösen Entzündungen an den betroffenen Arealen, die zu einer kolbenartigen Verdickung des Schwanzes führen. Die Entzündungsprozesse breiten sich in Richtung Schwanzwurzel aus, wobei die Schwanzspitze auch bereits fehlen kann. In extremen Fällen sind auch die Schwanzwurzel sowie der gesamte Perinealbereich angefressen und großflächige Nekrosen ausgebildet (Ohrrandnekrosen, Schwanznekrosen).
Betroffene Ferkel zeigen Paresen an den Hintergliedmaßen, multiple Abszesse und können zusätzlich an respiratorischen Symptomen mit Störungen des Allgemeinbefindens (Fieber, Inappetenz, Mattigkeit u.ä.) leiden.
Diagnose
Sowohl die Anamnese als auch das klinische Bild sind hinweisend für eine Verdachtsdiagnose.
Differenzialdiagnosen
Um die Diagnose sichern zu können müssen andere bzw. sekundär auftretende Krankheitsbilder durch molekularbiologische Untersuchungen (z.B. Bakterienkultur, PCR, ELISA) ausgeschlossen werden, z.B.:
- Eperythrozoonose
- Ferkelruß
- Rotlauf
- Verletzungen aufgrund von Aufstallungsfehlern
Pathologie
Je nach Fortschritt der Verletzungen sind im Zuge der Sektion neben Hautläsionen auch Abszesse, Pneumonien und Nekrosen erkennbar.
Therapie
Die Therapie ist symptomorientiert und zielt hauptsächlich darauf ab, akut verletzte Tiere mittels Breitbandantibiose (z.B. ß-Laktam-Antibiotika) und NSAIDs zu unterstützen. Stark geschwächte sowie therapieresistent gelähmte Tiere sind aus Tierschutzgründen zu euthanasieren.
Prophylaxe
Prophylaktisch muss darauf geachtet werden, prädisponierende Faktoren zu unterbinden. Durch Optimierungen der Haltungsbedingungen (Fütterung anpassen, Belegdichte reduzieren, ausgeglichene Buchten erstellen, Stallklima anpassen, Schadgase reduzieren, organisches Beschäftigungsmaterial anbieten) kann ein Kannibalismus auch in der intensiven Tierhaltung effektiv verhindert werden.
Literatur
- Waldmann, Karl-Heinz, Wendt, Michael (Hrsg.). Lehrbuch der Schweine-Krankheiten. Begründet von Hans Plonait und Klaus Bickhardt. 3., durchgesehene Auflage. Parey-Verlag, 2001.